Stress ist einer der größten Saboteure der Selbstheilung

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Stress ist einer der größten Krankmacher des 21. Jahrhunderts. Jeder zweite Deutsche fühlt sich verausgabt und gehetzt. Doch es gibt Wege, sich selbst aus dieser Falle zu befreien, sagt der Neurobiologe Tobias Esch.

Wir haben täglich etwa 50.000 bewusste Gedanken. 98 Prozent davon sind lediglich Wiederholungen von Gedanken, die wir schon einmal hatten. Davon sind über zwei Drittel negative Gedanken über Ereignisse, die wir nicht mehr ändern können, oder Dinge, die noch gar nicht eingetreten sind. Wir gehen also überwiegend mit destruktiven Gedanken durch den Alltag. Dabei können positive Gedanken heilend wirken. Nur haben wir verlernt, auf sie zu hören. Stattdessen sind wir gestresst, unruhig, gehetzt und leiden unter diversen Krankheiten und Schmerzen. Der Gesundheitsforscher Tobias Esch hat in seinem neuen Buch „Der Selbstheilungscode“ das Phänomen Stress aus neurobiologischer Sicht analysiert – und stellt klar: Wir alle haben die Fähigkeit, viele unserer Leiden selbst zu heilen. Und: Stress ist einer der größten Saboteure der Selbstheilung.

+++ Dieses Interview ist zuerst zuerst in unserem Magazin Human Resources Manager erschienen. Eine Übersicht der Ausgabenerhalten Sie hier. +++

Herr Esch, die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass bis 2020 die Hälfte aller Krankheitsfälle auf Stress zurückzuführen sein wird. Wie kommt es dazu?
Tobias Esch: Stress ist zunächst einmal ein biologisches Phänomen. Es geht um Kampf oder Flucht, es ist eine Alarmreaktion, die unser Überleben sichert. Stress ist also neutral, keine Krankheit. Was wir jedoch heute erleben ist, dass Zyklen, denen wir allen unterliegen, wie Schlaf, Aufmerksamkeitsspannen oder Beziehungen, immer kürzer werden. Gleichzeitig machen wir vieles gleichzeitig und glauben, dass das eine besondere Fähigkeit des Menschen sei. Fakt ist, dass der Mensch zwar durchaus Dinge gleichzeitig ausführen kann, jedoch nicht besonders gut ‒ und häufig zu dem Preis, gestresst zu sein. Wir nehmen so nicht die Fülle und Sinnlichkeit des ganzen Lebens wahr. Wir verpassen einen Großteil der Informationen, die eine Sache für uns bereitgehalten hätte. Wir fühlen uns heute ständig beobachtet durch die vielfältigen Rollen, in denen wir uns bewegen – ein Ergebnis der sozialen Medien. Wir wollen dabei möglichst alles perfekt machen, aber das ist nicht möglich. Und so geraten wir immer stärker in einen Zustand der Überforderung.

Der Mensch kann mehrere Dinge gleichzeitig ausführen – allerdings nicht gut

Ist der allgemein hohe Stresslevel in der Bevölkerung eigentlich eine Modeerscheinung?
In gewisser Weise schon, durch die gestiegene mediale Aufmerksamkeit, die neuen Messmöglichkeiten und vermeintlichen Diagnosen, die wir diesem Phänomen geben – ich denke da an den Begriff „Burn-out“ –, wird diesem Thema immer mehr Beachtung geschenkt. Somit ist nicht jede Zunahme von Stress tatsächlich biologisch begründbar. Andererseits kennen wir aus der Forschung auch Menschen, die sich nicht gestresst fühlen, aber dennoch physiologisch unter Stress stehen. Stress kann also in beide Richtungen über- und unterschätzt werden.

Wie wirkt sich Stress auf unseren Körper aus?
Stress ist der Mechanismus, der bei einer Belastung auftritt und uns signalisiert, dass wir reagieren müssen. Er erfasst über das Gehirn den gesamten Organismus, wir sind durch ihn darauf vorbereitet, mit maximaler Energie in den Kampf oder in die Flucht zu gehen. Hinzu kommen Veränderungen in unserem Verhalten, Denken und Empfinden – so leidet unter Stress unser Erinnerungsvermögen, das wir ursprünglich im Kampf oder auf der Flucht auch nicht gebraucht hätten.

Wir haben das Zutrauen zu unseren Selbstheilungskräften verlernt

Wir kommen mit einer tief in uns angelegten Fähigkeit zur Selbstregulation auf die Welt. Doch kommt uns diese Fähigkeit oft abhanden. Was passiert mit uns im Zuge unserer Sozialisation?
Wir haben, wie es den Eindruck macht, oftmals das Zutrauen zu unseren inneren Selbstheilungsfähigkeiten, zu unserem „inneren Arzt“, verlernt. Daran ist nicht der einzelne Mensch „schuld“, sondern auch die moderne Medizin mit all ihren Errungenschaften: Sie brachte mit sich, dass das Zutrauen des einzelnen Menschen zu seinen eigenen Potenzialen geschwunden ist. Wir haben schließlich kein Sinnesorgan für mikroskopische Erscheinungen, wir sehen bestimmte Erreger nicht. Diese Prozesse, im Schlepptau der modernen Medizin, die unser Überleben verlängert haben, haben gleichzeitig bewirkt, dass wir unsere Selbstheilungskräfte nicht mehr als etwas empfinden, zu dem wir aktiv unseren Beitrag leisten können – und müssen.

Sie plädieren dafür, Gesundheit nicht als Zustand zu begreifen. Warum?
Gesundheit ist ein dynamischer Prozess, in dem ein dynamisches Gleichgewicht hergestellt wird, das fortwährenden Änderungen unterworfen ist. Gesundheit kann etwas sehr Individuelles, Subjektives sein, sie kann ein Idealzustand sein oder ein von außen gemessener, objektiver Befund. In jedem Fall aber ist Gesundheit ein Prozess und als solcher gestaltbar. Genau darin liegt die Kraft unserer eigenen Selbstregulation.

Ist die Wirkung positiver Gedanken wissenschaftlich nachweisbar?
Eine Möglichkeit, den Stress zu unterbrechen, ist tatsächlich, die unter Stress auftretenden automatischen, negativen Gedanken zu unterbrechen. Die Abwärtsspirale aus stressendem Ereignis, negativen Gedanken, stressassoziiertem Verhalten und Symptomen kann durchbrochen werden, wenn wir unsere Gedanken wieder bewusst wahrnehmen. Man müsste sich innerlich ein Stoppschild hochhalten oder einmal tief einatmen und bewusst den Versuch unternehmen, anders auf das stressauslösende Ereignis zu reagieren. Wir nennen das auch kognitive Umstrukturierung: Allgemein gilt, dass eine positive Grundeinstellung zu wissenschaftlich evidenten Veränderungen im Gehirn und des Verhaltens führt. Und das kann sich sehr positiv auf unsere Gesundheit und Stressresilienz auswirken.

Bei massivem Stress passen Selbstbild und Realität nicht mehr zusammen

Unser Umgang mit Stress hängt auch mit unserem Selbstbild zusammen, das wir ungern verändern wollen. Warum fällt uns das so schwer?
Auch hier handelt sich um einen Überlebensmechanismus. Das Bild von uns selbst ist eine Brücke zu einem Selbst, das wir sein oder werden wollen, um in unserer Identität und Integrität existieren zu können. Wir erleben uns dann als kohärent und widerspruchsfrei; das ist für eine geistige und körperliche Integrität lebensnotwendig. Schwierig wird es, wenn Selbstbild und Realität, innen und außen, nicht mehr zusammenpassen, wie bei massivem Stress – auch bei Menschen mit Burn-out. Dann sind Regulationsmechanismen überfordert und erstarren. Damit es wieder dynamisch wird, müssen wir die Regulation wieder anstoßen: durch eine positive Gedankenwelt, Bewegung, Entspannung, Genuss, Sinnlichkeit, Achtsamkeit, Ernährung.

Warum erkennen viele Menschen nicht, dass sie unter chronischem Stress leiden?
Viele Menschen unterdrücken ihre Emotionen, auch um „funktionieren“ zu können, dabei sind sie Eselsbrücken zu wichtigen Ereignissen. Sie sind nicht einfach zufällig da, sondern führen zu Ereignissen, Gedanken oder erinnerungswürdigen Situationen. Werden sie nicht ausgelebt, wahrgenommen, können wir derartige Inhalte und Signale des Körpers weniger verarbeiten. Wir erleben Stress dann letztendlich im Kopf und stumpfen gleichzeitig gegenüber Warnsignalen ab. Unter chronischem Stress schalten wir auf Autopilot.

Bedingungen schaffen, um die Selbstheilung zu begünstigen

Sie plädieren dafür, dass wir uns auf unsere Selbstheilung besinnen sollten.
Es geht um das Ansteuern von hirneigenen Autoregulationsmechanismen, die uns das Gefühl geben, dass unser innerer Arzt wieder aktiv werden kann. Es ist wichtig, dass wir uns Gesundheit und Heilung überhaupt zutrauen. Heilung findet zwar eigentlich immer statt, aber wir können Bedingungen schaffen, die sie begünstigen.

Was können Unternehmen tun, damit Mitarbeiter häufiger Flow-Momente haben – also den Zustand der vollständigen Vertiefung in eine Aufgabe?
Das Flow-Erleben ist gewissermaßen eine Abfolge der drei bekannten Motivationstypen auf engstem zeitlichen Raum. Motivationstyp A steht dabei für das Bedürfnis nach Wachstum, Typ B für das Absichern, Typ C für Verbundenheit. Manchmal wird hier auch von Erfüllung gesprochen, wenn Typ A, B und C in enger Verschränkung auftreten. Wir sehen das bei Menschen, die mit Hingabe einer Tätigkeit nachgehen können. Das bedeutet, dass sie weder über- noch unterfordert sind. Um Menschen in diesen Bereich zu führen, ist es wichtig, dass die Aufgaben prinzipiell von ihnen zu bewerkstelligen sind. Wir sollten gleichzeitig aber unsere gesamte Aufmerksamkeit benutzen, um die Aufgabe zu erfüllen – wir sprechen daher von machbaren, anspornenden Herausforderungen. Tun wir das, geraten wir mitunter in einen „aktiven Tunnelzustand“, manchmal eben auch „Flow“ genannt, bei dem wir mit allen Sinnen in der Gegenwart „einrasten“. Außerdem brauchen wir unmittelbares Feedback beim Erledigen der Aufgabe: sei es von außen oder durch unser sinnliches Erleben. Letztlich gilt als wichtiges Momentum für das Flow-Erlebnis, dass wir die Möglichkeit brauchen, zu wachsen und zu reifen, während wir der Tätigkeit nachgehen. Arbeitgeber sollten ihr Team idealerweise in eine Situation bringen, in der sie als Organismus verschmelzen können und sich auf dem schmalen Grat zwischen Überforderung und Unterforderung bewegen.

Tobias Esch // (c) Bjoern Wunderlich, bjoernwunderlich
Tobias Esch c Bjoern Wunderlich bjoernwunderlich

Tobias Esch ist Facharzt für Allgemeinmedizin, Neurowissenschaftler und Gesundheitsforscher. Er ist Professor an der Universität Witten/Herdecke.

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Jeanne Wellnitz (c) Mirella Frangella Photography

Jeanne Wellnitz

Redakteurin
Quadriga
Jeanne Wellnitz ist Senior-Redakteurin in der Wirtschaftsredaktion Wortwert. Zuvor war sie von Februar 2015 an für den Human Resources Manager tätig, zuletzt als interimistische leitende Redakteurin. Die gebürtige Berlinerin arbeitet zusätzlich als freie Rezensentin für das Büchermagazin und die Psychologie Heute und ist Autorin des Kompendiums „Gendersensible Sprache. Strategien zum fairen Formulieren“ (2020) und der Journalistenwerkstatt „Gendersensible Sprache. Faires Formulieren im Journalismus“ (2022). Sie hat Literatur- und Sprachwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert und beim Magazin KOM volontiert.

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