Talente werden an Schulen zu wenig gefördert

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Verschenken wir zu viel Potenzial? Der Begabungsforscher Christian Fischer ist der Meinung, dass wir bei der individuellen Förderung nicht nur auf die Leistungsschwächeren schauen dürfen.

Im Vorfeld des Interviews gibt es einen kleinen Streit – zwischen den Redakteuren. Es geht um die Frage, was eigentlich mit Talent beziehungsweise Begabung gemeint ist. Geht es zunächst einmal lediglich um eine genetische Disposition, die jemand mitbringt? Oder ist Begabung doch mehr als ein Geschenk der Natur? Gehören dazu auch Fähigkeiten, die im Laufe der Sozialisation entstehen?

Herr Fischer, was genau meinen wir eigentlich, wenn wir von Begabung sprechen?
Christian Fischer: Begabung ist erst einmal ein individuelles Fähigkeitspotenzial für Leistung.

Das heißt, dass es nicht unbedingt ausgeschöpft wird.
Ja, genau. Dieses Potenzial ist häufig nur beobachtbar, wenn es sich entsprechend in Leistung zeigt. Und umgekehrt liegen exzellenten Leistungen häufig hohe Begabungen zugrunde.

Und sind Begabungen nun angeboren oder können sie sich auch entwickeln im Laufe der Zeit?
Sowohl als auch. Begabungen sind sicherlich zum einen abhängig von genetischen Prädispositionen. Zum anderen liefert die Umwelt entscheidende Bedingungen, um eine Begabung auszuformen. Es ist also eine Interaktion zwischen Anlage und Umwelt.

Der Hirnforscher Gerald Hüther sagt: „Jedes Kind ist hochbegabt.“ Hat er Recht?
Wenn man einen breiten Begabungsbegriff zugrunde legt, was einige Forscher tun, lässt sich durchaus sagen, dass jedes Kind gewisse Begabungen beziehungsweise Potenziale in einzelnen Bereichen besitzt. Jedes Kind aber als hochbegabt zu bezeichnen, halte ich für eine gewagte These.

Begabung muss auch erst einmal erkannt werden. Oder was braucht es sonst, um das Potenzial ausleben zu können?
Ja. Ein wichtiger Aspekt ist, Begabung zu erkennen. Dafür braucht es bestimmte Bedingungen, damit dies auch möglich ist, also zum Beispiel ein wachsames Auge des Umfeldes – der Eltern, der Erzieher, der Lehrer. Und im weiteren Bereich gehören auch Psychologen dazu, wenn eine differenzierte Begabungsdiagnostik gemacht wird. Das ist nicht unbedingt selbstverständlich. Vor allem nicht bei den Personen, die nicht in der Lage sind, eine Begabung in entsprechende Leistung umzusetzen. Es ist nicht selten, dass Kinder keine guten Schulleistungen zeigen, sie aber dennoch ein hohes Begabungspotenzial haben.

Wie bewerten Sie die aktuelle Situation im deutschen Bildungssystem? Werden Begabungen in der Regel erkannt und entsprechend gefördert?
Wenn man sich die Resultate der internationalen Vergleichsstudien anschaut, dann zeigt sich da ein Nachholbedarf in Hinblick auf die Förderung potenziell leistungsstarker Schüler. Zwar hat sich in der ersten Dekade nach dem PISA-Schock eine deutliche Verbesserung in den deutschen Ergebnissen bei Schülern aus sozial benachteiligten Schichten und bei denen mit Migrationshintergrund gezeigt. Der Anteil leistungsschwächerer Schüler hat abgenommen. Jedoch erreicht der Anteil der leistungsstarken Schüler im internationalen Vergleich nicht das Niveau wie in vielen anderen Ländern. Im Bereich der Talentförderung in deutschen Schulen müssen wir noch einiges tun. Da besteht die Gefahr, dass viele Talente und Begabungen nicht hinreichend erkannt und gefördert werden.

Woran liegt das? Fehlt es an individueller Förderung?
Die individuelle Förderung ist schon wichtig geworden nach dem PISA-Schock. Allerdings wird sie immer noch häufig einseitig ausgerichtet auf Leistungsschwächere. Was zu wenig gesehen wird, ist, dass individuelle Förderung auch das Finden und Fördern von Begabungen umfasst. Da besteht Nachholbedarf. Es gibt in der Begabungsforschung eine berühmte Studie, die sogenannte Terman-Studie, die Lebensverläufe von hochintelligenten Personen untersucht hat. Darunter waren auch zwei spätere Nobelpreisträger, die anfangs zwar durch einen überdurchschnittlichen IQ, allerdings nicht auf Hochbegabtenniveau aufgefallen sind. Sie wurden deswegen in die Kontrollgruppe eingeordnet. Man konnte durch die Studie zeigen, dass es vor allem auch exzellenter Lernumgebungen bedarf, um entsprechende Leistungsexzellenz zu erbringen. Herausragende Wissenschaftler entwickeln sich also zum Beispiel besonders in solchen Arbeitsgruppen, in denen es bereits andere herausragende Wissenschaftler gibt.

Im Rahmen von PISA werden nur bestimmte Fachgebiete betrachtet. Es gibt aber unterschiedliche Arten von Begabungen.
Richtig. In der PISA-Studie werden lediglich die drei basalen Kompetenzen Leseverständnis, rechnerisches Denken und Naturwissenschaften überprüft. Andere Begabungsbereiche wie musische und sportliche Begabungen werden gar nicht einbezogen. Bei diesen gibt es allerdings auch eine besondere Tradition hinsichtlich der Talentförderung – die Musikschulen sind ein Beispiel dafür. Und im Sportbereich gibt es unter anderem Partnerschulen des Leistungssports. Insofern sind diesbezüglich bessere Rahmenbedingungen vorhanden. Aber natürlich ist eine mögliche Talentförderung davon abhängig, wo man aufwächst und wie dort die infrastrukturellen Bedingungen sind. In bestimmten Regionen können bestimmte sportliche Talente eben besser gefördert werden als in anderen. Denken Sie beispielsweise an den Wintersport.

Können sich eigentlich Begabungen auch erst spät im Laufe des Arbeitslebens zeigen?
Durchaus. Es muss aber immer ein entsprechendes Umfeld geben, in dem man seine Begabung zeigen und entfalten kann. Und manche Begabungen werden eben erst im Arbeitsumfeld besonders sichtbar. Das kann zum Beispiel auf spezielle soziale Talente, wie zum Beispiel Führungsqualitäten, zutreffen. Diese können neben einer überdurchschnittlichen intellektuellen Begabung über den beruflichen Erfolg entscheiden. Auch die sogenannte emotionale Intelligenz, zum Beispiel Einfühlungsvermögen, kann im beruflichen Leben in bestimmten Bereichen sehr bedeutsam werden.

Machen intelligente Menschen eher Karriere als weniger intelligente?
Intelligenztests haben eine hohe prognostische Validität hinsichtlich eines späteren Berufserfolgs. Deshalb kann man das durchaus so sagen, wenn man sich an den klassischen Bereichen orientiert wie verbale, räumliche oder numerische Intelligenz. Das sind die, die in der Regel überprüft werden. Dann kommt es natürlich ebenfalls darauf an, welche Tätigkeiten die jeweiligen Personen ausüben, ob diese Arten von Intelligenz auch relevant sind. Im naturwissenschaftlichen Bereich sind beispielsweise verbale Begabungen nicht so wichtig wie im sprachlichen Bereich.

Wenn man auf Führungskräfte in Unternehmen schaut, dann sieht man, dass immer noch häufig Personen befördert werden, die insbesondere fachlich sehr gut sind. Wie ist das mit der Führung von Menschen, kann man das lernen?
Auch hier ist es eine Interaktion von Anlagen und Umwelt. Es gibt natürlich Personen, die zum Beispiel über eine höhere Empathiefähigkeit verfügen als andere oder in der Lage sind, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen. Aber so was lässt sich in einem gewissen Maße auch trainieren.

Wie haben sich eigentlich die Begabungen innerhalb unserer Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten verändert? Gibt es hierzu Forschungsergebnisse?
Es gibt unter anderem bezogen auf intellektuelle Begabungen den sogenannten Flynn-Effekt. Danach sind die Menschen in den Industrieländern im Laufe der Jahre immer intelligenter geworden. Das liegt etwa an der besseren schulischen Ausbildung im Vergleich zu früher. Auch der erleichterte Zugang zu Medien und damit Wissen spielt eine Rolle. Darüber hinaus spielen kulturelle Faktoren eine Rolle. Jede Kultur setzt ihren eigenen Schwerpunkt.

Die Deutschen sind klüger als früher?
Nicht nur die. Das gilt für andere Kulturen auch.

 

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