Die Sehnsucht nach Unabhängigkeit im Job

Personalmanagement

Der Wunsch nach Freiraum statt Nine-to-five lässt viele Angestellte zu neuen Ufern aufbrechen. Schaffen Arbeitgeber aber Optionen, bleiben ihnen Potenzialträger erhalten – sei es via Remote Work oder als Freelancer.

Viele Beschäftigte streben nach mehr Freiheit im Job. Sie möchten ausbrechen und eigene Wege gehen, sich unabhängig fühlen. Mit diesem Wunsch sind sie nicht alleine: Eine Bewegung an ortsunabhängigen Selbstständigen entsteht – sogenannten digitalen Nomaden. Sie verlassen ihren Job mit festen Anwesenheitszeiten, arbeiten online als Freelancer oder starten ihr eigenes Online-Business, von zu Hause oder jedem anderen Ort der Welt. Oftmals gehen Unternehmen damit die wahren Potenzialträger verloren, denn in ihnen schlummern Know-how und Unternehmergeist.

Unabhängigkeit liegt im Trend

Das Modell „Dienst nach Vorschrift“ hat spätestens seit der Generation Y ausgedient. Die Generation der nach 1980 Geborenen prägt unsere heutige Arbeitswelt. Ihr Wunsch nach Sinnhaftigkeit, Vereinbarung von Beruf und Privatleben lässt Arbeit in einem anderen Licht erscheinen. Sie haben den Wunsch, ihren Interessen und Bedürfnissen nachzukommen. „Bezogen auf die Entwicklung der Arbeitswelt äußert sich dies zum einen in flexiblen Arbeitszeiten, aber auch in größerer Unabhängigkeit vom Arbeitsort, zum Beispiel durch Homeoffice-Möglichkeiten“, sagt Ulrich Reinhardt, Wissenschaftlicher Leiter der BAT-Stiftung für Zukunftsfragen. Zum anderen bedeute der zunehmende Wunsch nach Selbstbestimmung ebenso, an Entscheidungen beteiligt zu werden und Verantwortung übernehmen zu wollen.

Dass Unabhängigkeit an Bedeutung gewinnt, darauf lässt auch die sinkende Identifizierung mit dem Arbeitgeber schließen. Reinhardts Untersuchungen zufolge vertreten 58 Prozent der Bevölkerung die Ansicht, dass diese Identifikation in Zukunft geringer sein wird als heute. Ein selbstbestimmtes und unabhängiges Arbeitsleben liege demnach im Trend. Der Wissenschaftler merkt aber an: Für die meisten Arbeitnehmer soll sich dieser Wunsch in einem festen Anstellungsverhältnis erfüllen. Ein selbstständiger Beruf oder eine Tätigkeit als Freelancer zeige sich nicht genauso beliebt, wie die Selbstbestimmung im Leben außerhalb der Arbeit. Die meisten Angestellten in Deutschland verbinden Selbstständigkeit mit Angst vor finanziellem Risiko. Ebenso haben sie Sorge, Einbußen hinsichtlich Freizeit und Urlaub sowie Vereinbarkeit von Familie und Beruf hinnehmen zu müssen, weiß Reinhardt.

Flexicurity

Vor allem leistungsfähige Mitarbeiter sind oftmals bereit, sich neu zu orientieren – sei es der Weg in die Selbstständigkeit oder zu einem anderen Arbeitgeber. Wer dieses Potenzial im Unternehmen halten möchte, kommt um moderne und flexible Arbeitsmodelle kaum herum. „Im Hinblick auf die zunehmende Flexibilisierung unserer Arbeitswelt wäre das Arbeitsmarktmodell ,Flexicurity’ eine sinnvolle Variante“, sagt Zukunftsforscher Reinhardt. Die Niederlande und Skandinavien praktizieren dieses Modell bereits. Es handelt sich dabei um eine Mischung aus Flexibilität und Sicherheit. Flexicurity verbindet einen vergleichsweise geringen Kündigungsschutz mit einem hohen Niveau sozialer Absicherung. Darüber hinaus könne ein weiteres Zukunftsmodell sein, Organisation, Ort und Zeit der Arbeit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern flexibel zu vereinbaren, bei gleichzeitiger Sicherung des Arbeitsplatzes. Auf diese Weise erhalte ein Beschäftigter die gewollte Sicherheit, könne im Innenverhältnis aber selbstständiger agieren.

Egal wie groß der Wunsch nach Flexibilisierung ist: Um die Berücksichtigung arbeitsrechtlichen Bedingungen jeweiliger Arbeitsmodelle kommt niemand herum. So greift auch im Homeoffice das Arbeitszeitgesetz. Es bedarf unter anderem Regelungen zur Dokumentation der Arbeitszeit. Zu berücksichtigen sind ebenso die Vorgaben des Arbeitsschutzes. Auch im Bereich der Freelancer kann es zu rechtlichen Hürden kommen, Stichwort: Scheinselbstständigkeit.

Bumerang-Strategie

„In Deutschland sind wir per Remote Work aufgestellt“, sagt Nicola Paira, Managing Editor Workforce Institute EMEA bei Kronos Deutschland. Hierzulande beschäftigt der Anbieter von Workforce-Management-Lösungen ein kleines Vertriebs- und Beratungsteam, weltweit sind es rund 5.000 Mitarbeiter. Das Gros ist in den USA, Asien und Europa ansässig. In Europa befinden sich die meisten Teams im Headquarter in England. Paira und ihre deutschen Kollegen sind der Servicegesellschaft in Belgien zugeordnet. Eine eigene Organisation in Deutschland gibt es nicht. Ihre Kollegen hierzulande arbeiten hauptsächlich beim Kunden vor Ort und sind viel auf Reisen. Aus diesem Grund sei Remote Work von unterwegs oder von zu Hause aus möglich. Die Zeiteinteilung wählen sie frei, geführt wird via Zielvereinbarung. Ein Büro gibt es in München, das für 20 Stunden im Monat gemietet ist. Dort können sich die Kollegen treffen. Ansonsten finden regelmäßige Meetings in Belgien oder England statt. Die Abstimmung mit Kollegen sei so einfacher, schließlich sei die Kommunikation besonders wichtig, sagt Paira. Collaboration Tools, technische Unterstützung und Anbindung des Homeoffice sind selbstverständlich.

Zwischen Großkonzern und persönlicher Selbstverwirklichung

Paira beobachtet gerade bei der jüngeren Generation zwei Extreme: „Die einen möchten die Sicherheit eines Großkonzerns inklusive hierarchischer Entwicklung, die anderen sich selbst entwickeln und frei entscheiden.“ Dazwischen gebe es nur wenig. Den Wunsch nach mehr Selbstbestimmung auf Mitarbeiterseite hat Kronos erkannt. Das Unternehmen möchte als Arbeitgeber das Umfeld so attraktiv wie möglich gestalten. Dazu zählt auch Entscheidungsfreiheit hinsichtlich Arbeitsort und -zeit. Selbstbestimmung hat aus Sicht von Paira immer etwas mit dem Arbeitsfeld zu tun. Zwar ist der Bereich Kundenservice nicht so flexibel wie andere Bereiche. Aber auch dort haben Teams die Möglichkeit, sich Zeiten und Arbeit untereinander einzuteilen. Ziel des Ganzen: Potenziale gewinnen und langfristig binden.

Mitarbeiter kehren dem Unternehmen auch schon mal den Rücken – das kommt in jeder Firma vor. Verlässt jemand Kronos, wechselt er häufig in einen Konzern. „Natürlich ist es schade, wenn ein Mitarbeiter geht und sich entwickeln möchte. Aber wir gehen damit offen um und bieten an, zurückkehren zu können, wenn es ihm woanders nicht gefällt“, sagt Paira. Kronos bezeichnet es als eine Art Boomerang-Strategie. Mit ausgeschiedenen Mitarbeitern bleibt das Unternehmen im Austausch. Den Wunsch nach Veränderung habe jeder. Es sei vollkommen gesund, sich weiterzuentwickeln. Das gehöre dazu. Der Ansatz scheint aufzugehen. Viele kehren nach Aussage von Paira wieder zurück – auch nach zwei oder drei Jahren. Der Wille, ein attraktiver Arbeitgeber zu sein, werde von ganz oben angeregt und in allen Bereichen gelebt.

Verantwortung übernehmen

Remote Work hätte Online-Unternehmer Sebastian Kühn vielleicht überzeugen können, seinen damaligen Job fortzuführen. Eine gewisse Flexibilität habe ihm während seiner Festanstellungen immer gefehlt – einfach mal längere Reisen zu unternehmen und am Laptop zu arbeiten. Kühns Werdegang zeigt sich gradlinig. Er machte eine Ausbildung im Einzelhandel, durchlief ein Führungskräfteprogramm und absolvierte ein Masterstudium in International Business. Im Jahr 2012 ist er für eine Festanstellung nach Schanghai gegangen und hat dort das Onlinemarketing eines Weinimporteurs übernommen. Sein Ausstieg aus dem Angestelltendasein erfolgte wenige Zeit später. Den Prozess beschreibt Kühn eher als schleichend. Der erste große Bruch sei sein Auslandsjahr 2006 in Australien gewesen. Danach habe ihn das Reisen nicht mehr losgelassen. „Eine gewisse Unzufriedenheit in Festanstellungen spürte ich schon immer – auch in Schanghai“, erinnert sich Kühn. Schon während seines Studiums habe er über die Möglichkeiten eines Zuverdienstes nachgedacht. Er beginnt nebenberuflich als Übersetzer zu arbeiten, bietet seine Leistungen auf einer Freelancer-Plattform an. In Asien startet er dann als Freelancer durch und gibt seine Festanstellung auf. Das Geschäft läuft gut an. Schnell bietet Kühn Agenturleistungen an. Die gewünschte Zufriedenheit stellt sich jedoch nicht ein, trotz eines guten Verdienstes.

„Ich wollte etwas mit Community-Charakter machen, mich und andere vernetzen“, sagt der Unternehmer. Kühn startet seinen Blog „Wireless Life“, bietet Coachings und Beratung via Skype an. Kurze Zeit schließt sich der 35-Jährige drei anderen Gründern an, die die Online-Community „Citizen Circle“ ins Leben gerufen haben. Die Plattform richtet sich an ortsunabhängige Arbeitende und jene, die ein eigenes Online-Business anstreben. Sie verspricht Zugang zu Know-how und Vernetzung. Wesentlicher Bestandteil sei jedoch die Offline-Komponente. Das sind etwa halbjährlich stattfindende Konferenzen. Die Mitgliederzahlen nehmen seit Gründung 2015 stetig zu. „Citizen Circle“ ziehe vorrangig Personen der Altersgruppe 30 bis 40 an. Unter den Mitgliedern treffe man aber auch viele junge Menschen, die auf der Suche nach unkonventionellen Lebensmodellen sind, Rentner im Vorruhestand, die etwas dazu verdienen möchten, oder Personen im Alter von 50plus, die noch einmal das Abenteuer suchen.
„Feierabend ist eigentlich nie. Es ist schwierig, sich Urlaub zu gönnen sowie Auszeiten und Freiräume zu schaffen“
So positiv ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben auch klingt: Es gibt eine Schattenseite – die des Unternehmers. „Feierabend ist eigentlich nie. Es ist schwierig, sich Urlaub zu gönnen sowie Auszeiten und Freiräume zu schaffen“, sagt Kühn. Zudem vermisse er das Gefühl, irgendwo verankert zu sein. Seit anderthalb Jahren ist er nonstop unterwegs. Ihm fehlen Freunde im Umfeld, ein Bezugspunkt. Erstrebenswert ist für ihn ein Mischmodell, in dem er die Hälfte des Jahres an einem Ort verbringt. Anderen rät er,

Selbstbestimmung einfach mal auszuprobieren, beispielsweise in Form eines Sabbaticals. Die Entscheidung für eine Selbstständigkeit werde von Angestellten oftmals auf einen hohen Thron gestellt. Dies sei keine Entscheidung für das ganze Leben. Das gelte auch für Unternehmen: Sie können Modelle wie Remote Work oder Freelance-Optionen auf Individualebene testen. Für die Zukunft geht Kühn davon aus, dass Freiraum am Arbeitsplatz eine größere Rolle spielen wird. Gute Mitarbeiter seien irgendwann nicht mehr über Geld zu finden.

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Sven Lechtleitner, Foto: Privat

Sven Lechtleitner

Journalist
Sven Lechtleitner ist freier Wirtschaftsjournalist. Er hat ein Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg sowie ein Fernstudium Journalismus an der Freien Journalistenschule in Berlin absolviert. Von November 2020 bis Juli 2022 war er Chefredakteur des Magazins Human Resources Manager.

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