Vorsicht vor dem eigenen Bauchgefühl

Personalmanagement

Bei der Beurteilung von Talenten und deren Entwicklungspotenzial sollte man auf strukturierte Verfahren zurückgreifen und sich von subjektiven Gesichtspunkten frei machen. Denn: Fehlbesetzungen sind teuer.

Die Kluft zwischen dem, was Führungskräfte für notwendig halten und dem, was sie tatsächlich tun, ist oftmals gewaltig. Hinzu kommt, dass bei der Potenzialbeurteilung zu viel nach dem Bauch entschieden wird. Das führt zu Fehlbesetzungen.

Jeder, der bereits die Auswirkungen von Fehlbesetzungen beobachtet hat, kennt nur zu genau den gewaltigen Unterschied zwischen „einigermaßen guten“ Mitarbeitern und Spitzenleuten. Verglichen damit sind die Kosten für Potenzialanalyse und Personalentwicklung gering. Dies gilt in besonderem Maße bei Schlüsselpositionen.

Was dringend notwendig ist, sind Beurteilungsinstrumente, die einen umfassenden und realistischen Blick auf die Leistung und das Potenzial von Mitarbeitern zulassen und relativ einfach umzusetzen sind.

Es gibt diese Werkzeuge – etwa strukturierte Assessments oder 360-Grad-Beurteilungen. Doch werden diese viel zu selten konsequent genutzt. Bei einer 360-Grad-Beurteilung wird das gesamte Umfeld in die Beurteilung einbezogen, also die Führungskraft, Kollegen mit denen der Mitarbeiter zusammenarbeitet, der Mitarbeiter selbst als auch Externe, wie zum Beispiel (interne oder externe) Kunden. Diejenigen, die diese wirkungsvollen Instrumente umsetzen wollen, stoßen jedoch immer wieder auf erheblichen Widerstand. Meist dann auch noch von Personen, die keinerlei Erfahrung damit haben. Die Kritik lautet dann meist, strukturierte Assessments oder 360-Grad-Feedback seien zu aufwändig, nicht praktikabel, zu teuer. Stattdessen vertraut man lieber weiterhin unbeirrt auf die subjektive Einschätzung durch Einzelpersonen. Das kann natürlich auch funktionieren. Nur setzt das voraus, dass der Beobachter in der Beurteilung geübt ist und es klare Beurteilungsmaßstäbe gibt. Der Aufwand, diese selbstverständlichen Grundlagen zu schaffen, wird unterschätzt.

Irren ist menschlich

Unverzichtbar für jedes Beurteilungsverfahren ist es, einige psychologische Grundregeln und Mechanismen einzukalkulieren. Tut man dies nicht, könnte man genauso gut Schimpansen Dartpfeile auf eine Zielscheibe mit Fotos von vermeintlichen Talenten werfen lassen. Die Erfolgsquote wäre in etwa gleich hoch.

Wer kann sich schon völlig davon frei sprechen, die Bewertung von Leistung und Potenzial bei anderen Personen frei von subjektiven Gesichtspunkten zu treffen?

Öfter als uns lieb ist, erliegen wir Täuschungen und Irrtümern. Weil diese unbewusst ablaufen, fallen sie uns selten auf. Absolut menschlich ist es zum Beispiel, dass wir jemanden, dem wir Sympathien entgegenbringen, höchst wahrscheinlich besser bewerten als jemanden, gegen den wir Antipathien hegen. Vorurteile gegen eine Person beeinflussen unser Urteil – ob wir wollen oder nicht.

Mögliche Effekte bei der Beurteilung von Leistungen / Quelle: Darstellung des Autors

Wer urteilt, braucht einen Maßstab. Ein Maßstab, auf den Beurteiler gerne intuitiv zurückgreifen, ist häufig die eigene Person (Ähnlichkeitseffekt). Deswegen läuft beispielsweise ein besonders redegewandter Beobachter Gefahr, bei anderen zu hohe Ansprüche an die Kommunikationskompetenz zu stellen. Oder, erkennen wir bei einer Person eigene Stärken wieder, die wir besonders schätzen, beurteilen wir diese Person leichter insgesamt positiv. Oder, noch einmal zum Thema Sympathie: Begegnen wir jemandem mit Sympathie, laufen wir eher Gefahr, unterdurchschnittliche Leistungen als „Ausrutscher“ zu betrachten. Antipathie verkehrt die Situation ins Gegenteil: Vermeintliche Fehler und Schwächen werden intensiv wahrgenommen und verleiten uns zu einem eher negativen Bild.

Eine weitere Tücke ist, dass wenn wir eine Person erst einmal in eine bestimmte „Schublade“ unseres Denkens gesteckt haben, wir diese dort nur sehr schwer wieder herausbekommen.

Eine gute und eine schlechte Nachricht

Die schlechte Nachricht ist, menschlich bedingte Beurteilungsfehler lassen sich nicht vollkommen vermeiden.

Die gute Nachricht ist, sie lassen sich minimieren. Hier helfen strukturierte Verfahren, wie die eingangs genannten. Und auch dort ist es notwendig, dass die Beurteilenden die wichtigsten Beurteilungsfallen und deren Ursachen kennen und wissen, welchen Einfluss diese auf ihr Urteilsvermögen haben. Hier sollten Personalentwicklungsmaßnahmen ansetzen. Vorsicht ist allerdings dann geboten, wenn Führungskräfte plötzlich Hobbypsychologen werden.

Tendenz zur Mitte

Aus zahlreichen empirischen Studien und vielfach leidvoller praktischer Erfahrung wissen wir zudem, Führungskräfte neigen dazu, bei den eigenen Mitarbeitern sehr homogene Bewertungen auszusprechen. Häufig finden sich etwa 80 bis 90 Prozent der Mitarbeiter in einer Bewertungsklasse. Meist sind dies sehr gute Bewertungen oder die Tendenz zur Mitte. Die Anzahl eher schlechter Bewertungen oder gar ganz schlechter ist demgegenüber extrem gering.

Auf Grund solcher Bewertungsmuster ist es schwierig, sehr gute Mitarbeiter mit Entwicklungspotenzial von sehr guten Mitarbeitern ohne Entwicklungspotenzial oder gar durchschnittlichen Mitarbeitern zu unterscheiden.

Quervergleiche helfen

Bei der Potenzialbeurteilung haben sich deshalb als weitere Option sogenannte Quervergleiche (Bewertungspanels) bewährt. Führungskräfte einer Organisationseinheit kommen zusammen, um gemeinsam die Beurteilungen ihrer jeweiligen Mitarbeiter zu besprechen. Zur Qualitätssicherung werden die Kalibrierungsrunden von Personen moderiert werden, die über eine entsprechende Qualifikation verfügen.

Durch den professionell moderierten Prozess werden gemeinsame Standards und Bewertungskriterien konkretisiert und Beurteilungen validiert. Besonders wirkungsvoll ist dies im Bereich von Wissensarbeit und bei Führungs- und Expertenfunktionen. Denn hier lassen sich Bewertungskategorien und Bewertungskriterien nur ganz selten trennscharf formulieren.

Überraschungen vermeiden

Wenn Talentmanagement auf breiter Basis funktionieren soll, darf nichts über die Leistung oder das Potenzial überraschend sein, weder für den Mitarbeiter noch für das Unternehmen.

Aus Sicht des Mitarbeiters geht es darum, sich ein Bild davon machen können, was das Unternehmen von ihm erwartet und wie seine Leistungen und das Entwicklungspotenzial eingeschätzt werden. Mitarbeiter wollen wissen, welche Möglichkeiten ihnen tatsächlich offen stehen und was sie tun müssen, um diese zu verwirklichen. Unklarheit und enttäuschte Erwartungen führen nahezu zwangsläufig zu Frustration, Demotivation und Leistungseinbußen. Dies gilt umso mehr, je überraschender diese über den Mitarbeiter hereinbrechen.

Genauso wichtig ist es, Mitarbeitern deutlich zu machen, dass Einschätzungen sich unter geänderten Bedingungen ebenfalls ändern können. Keiner soll sich auf einem erreichten Status ausruhen dürfen und niemand soll sich resigniert zurückziehen müssen. Die Erwartung muss konsequent auf permanente Verbesserung gerichtet sein. Dies gilt für Leistungsträger ganz besonders.

Talentmanagement ist Detailarbeit

Um noch einmal auf den Ausgangspunkt zurückzukommen: Basis eines guten Talentmanagements ist es, Fehlbesetzungen von vornherein zu vermeiden.

Der Unterschied zwischen guten Unternehmen und Spitzenunternehmen ist, dass letztere unentwegt in ihr Talentmanagement investieren und es schaffen, das Potenzial der vorhandenen Talente auszuschöpfen. Dies macht sie wiederum attraktiv für neue Talente. Ein sich kontinuierlich verstärkender Kreislauf.

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Torsten Schneider

Torsten Schneider

Director Human Resources
Luther Rechtsanwaltsgesellschaft

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