„Wir haben zu lange sehr viele gute Leute übersehen“

Recruiting

Suat Yilmaz ist als Talentscout für die Westfälische Hochschule in den Schulen des nördlichen Ruhrgebiets unterwegs. Im Interview erklärt er seine Sicht auf das Thema Talent und warum er das Programm nicht als Gegenpol zur Ausbildung sieht.

Den Dialekt seiner Heimat hört man Suat Yilmaz direkt an, genau wie die Empathie und Begeisterung für die Jugendlichen, die er im Ruhrgebiet betreut. Wenn er erzählt, dass er auch schonmal abends um acht noch mit einem seiner Schützlinge telefoniert, um ihn zu Stipendien-Fragen zu beraten, wird klar, dass sein Job für ihn mehr ist als nur reiner Broterwerb. Seit 2012 hat der Sozialwissenschaftler mit seinem Team bereits um die 500 junge Menschen auf dem Weg ins Berufsleben beraten und begleitet.

Herr Yilmaz, wer ist für Sie ein Talent?
Talente sind in erster Linie junge Menschen, die neugierig sind, aber auch ängstlich, was ihre Zukunft angeht. Talent kann dabei ganz unterschiedliche Facetten haben. Da gibt es Leute, die handwerklich begabt sind oder welche, die gut in Mathe und Physik sind, und wieder andere sind vielleicht richtig tolle Teamplayer.

Ist dieser weitgefasste Blick die Grundlage für das Talentscouting, das Sie im Ruhrgebiet für die Westfälische Hochschule betreiben?
Es ist nicht nur der breite Blick, sondern vor allem der zweite, dritte und vierte. Es geht darum, als Bildungssystem Talente zu erkennen, wo wir sie bisher nicht gesucht haben oder suchen wollten. Es geht um junge Menschen, die wir als Gesellschaft ganz dringend brauchen. Talente verstehen wir als Zukunftsrohstoffe. Das hat nichts mit einem bestimmten Notenschnitt zu tun. Ganz oft sind die wahren Fähigkeiten eines Talents verschüttet, weil die Noten vielleicht nicht gut sind und sie sind so schlecht, weil die Lebensumstände schwierig sind.

Sie haben einmal in einem Interview gesagt, dass das Bildungssystem zu einem Talentförderungssystem umgebaut werden müsste. Warum funktioniert es so nicht, wie es gerade ist?
Das Problem ist, dass wir oft defizitorientiert herangehen und fragen, wie wir den „armen“ Arbeiter- und Migrantenkindern helfen können. Diese Haltung wollen wir ändern. Das beginnt damit, dass wir jedem ein bestimmtes Talent unterstellen. Denn jeder hat irgendwo ein Talent, das entdeckt werden muss.

Das kann die Schule bisher nicht leisten?
Wir haben im Schulsystem das Problem, dass nicht in Prozessen gedacht wird. Ich vergleiche das gerne mit der Kühlkette: Sie können den schönsten und tollsten Lachs fangen, wenn die Kühlkette unterbrochen ist, stinkt er am Ende. Und ein Stück weit ist es mit unserem Bildungssystem genauso. Sie können tolle Programme in der Grundschule oder im Kindergarten haben und dann landet dieses Kind auf einer weiterführenden Schule, an der dieses Programm nicht mehr läuft oder der Blick auf das Kind ein anderer ist. Dann kann es passieren, dass durch diese Übergänge Talentpotenzial verloren geht.

Sie gehören zur Westfälischen Hochschule, sagen aber, dass es nicht das Ziel ist, alle ihre Talente an die Hochschule zu bekommen. Wie passt das zusammen?
Ganz klar; wir schreiben keine Biografien vor, wir gucken uns die Realität an und arbeiten damit. Und die Realität meiner Hochschule und die vieler anderer Fachhochschulen ist folgende: 40 Prozent unserer Studierenden haben vorher eine Ausbildung gemacht. Und wir arbeiten sehr stark mit der Industrie und der Wirtschaft zusammen im Rahmen der dualen Studiengänge. Dementsprechend hätte es, wenn wir den Jugendlichen erzählen würden, dass sie jetzt unbedingt studieren müssen, gar nichts mit der Lebenswirklichkeit vieler zu tun und wir würden uns unglaubwürdig machen. Außerdem glauben wir, dass wir für unsere Region ein Stück weit verantwortlich sind im Bereich der Fachkräftesicherung. Dementsprechend sind die Kollegen von der IHK und den Unternehmen auch unsere natürlichen Partner, nicht unsere Gegner. Unser Talentscouting ist also nicht als Gegenpol zur Ausbildung zu sehen. Im Gegenteil: Für uns ist jeder Akteur – ob Handwerkskammer, Schule, mittelständisches Unternehmen oder Topkonzern – ein Akteur, der jungen Menschen helfen kann, ihr Talent zu entfalten.

Sie steigen also in die Debatte gar nicht erst ein, ob die steigenden Studierendenzahlen nun positiv zu sehen sind oder nicht?
Nein, wie soll ich sie auch führen. Die jungen Menschen kommen zu uns und wissen am Anfang nicht, ob sie studieren werden oder eine Ausbildung machen wollen. Und in der Zeit, in der ich sie sehe, will ich sie auch nicht in eine Kategorie stecken. Außerdem treffen die jungen Menschen die Entscheidungen selbst.

Wie sieht Ihre Beratung praktisch aus, wie finden Sie zum Beispiel ihre Talente?
Das ist ein langwieriger Prozess, für den die Zusammenarbeit mit den Schulen immens wichtig ist. Wir klären mit jeder einzelnen ab, wie wir vorgehen wollen. Dabei ist klar, dass wir regelmäßig über einen längeren Zeitraum präsent sein wollen – als ein Teil der Schulstruktur. Das beinhaltet für uns die Teilnahme an Lehrerkonferenzen und Elternabenden und die Möglichkeit zu Gesprächen mit den Fachlehrern, mit denen wir auf Augenhöhe zusammenarbeiten wollen. Wir brauchen sie schließlich vor Ort als unsere Augen und Ohren, um geeignete Jugendliche für unsere Förderung zu finden.

Aber es besteht doch die Gefahr, dass gewisse Schüler unter dem Radar fliegen, wenn nur die Lehrer für die Talententdeckung zuständig sind.
Deshalb gibt es auch mehrere Pipelines. Wir sichern uns immer ab, weil wir natürlich auch die Befürchtung haben, dass die Lehrer immer nur bestimmte Leute nennen. Wir haben daher auch studentische Scouts, die nicht viel älter sind als unsere Schüler und eher niedrigschwellig unterwegs sind. Die laufen Streife auf dem Pausenhof, hören sich um und knüpfen Kontakte.

Und gehen die Einschätzungen von Lehrern und Scouts oft auseinander?
Ja, auch weil die studentischen Scouts sensibler sind und sich die Jugendlichen da mehr trauen. Ein anderer Weg zu uns ist die Empfehlung. Da kommen junge Leute auf uns zu und fragen: „Meine Cousine ist zwar nicht bei uns auf der Schule, aber kann sie auch mal zu Ihnen kommen?“ Und da wir inzwischen eine gewisse Bekanntheit erreicht haben, melden sich auch Eltern direkt bei uns. Das freut uns, denn ob ein Talent zur Entfaltung gebracht wird, das liegt vor allem an zwei Akteuren: dem Lehrer und den Eltern. Deswegen predige ich auch immer: „Passt auf, was ihr den jungen Leuten sagt. Die hören darauf, auch wenn sie noch so cool durch die Weltgeschichte laufen.“ Negativismus im Sinne von „Du kannst es nicht, du schaffst es nicht“ hat da nichts zu suchen. Leider höre ich so etwas häufig hier in der Gegend, da macht man sich auch manchmal kleiner als man ist. Junge Menschen brauchen aber keine Angst, sie brauchen Hoffnung.

Wie reagieren die Jugendlichen, wenn Sie sie ansprechen?
Stellen Sie sich vor, Sie sind fünfzehn oder sechzehn Jahre alt und da kommt ein Typ von der Hochschule auf Sie zu und sagt: „Ich bin Talentförderer, hier ist meine Karte“ – das ist Wahnsinn. Die emotionale Information ist überhaupt das Wichtigste, sozusagen unser Kerngeschäft. Junge Menschen reagieren darauf, lassen sich ein. Wir Erwachsene sind da schon ein bisschen abgehärteter.

Natürlich sind nicht alle Jugendliche, die wir fördern, künftige Nobelpreisträger. Aber egal, ob ein junger Mann von einer Lehre zum Schlosser träumt oder ein junges Mädchen aus einer Arbeiterfamilie Ingenieurin werden möchte, mit diesen Träumen arbeiten wir. Ich erlebe jeden Tag – bei all den Misserfolgen, die wir natürlich auch haben – wie junge Menschen Flügel bekommen und im positiven Sinne abheben. Wir müssen vorgezeichnete Biografien durchbrechen und den Kindern Selbstbewusstsein geben. Denn wo soll das herkommen, wenn man zum Beispiel aus einer Hartz IV-Familie kommt, die Mutter vielleicht morgens nicht aufsteht oder keine Ahnung vom Bildungssystem hat? Wir wollen ihnen klarmachen, dass wir sie brauchen. Wir haben zu lange sehr viele gute Leute übersehen. Weil wir sie entweder nach ihrem Geschlecht kategorisiert haben oder weil wir sie nur im Kontext ihrer Kultur sehen, wie die vielen Migrations- und Integrationsdebatten zeigen. Dabei stelle ich immer wieder fest, dass junge Menschen keine Lust auf solche Debatten haben, die wollen einfach nur vorankommen und einen guten Job bekommen.

Bei welchen Themen haben die Jugendlichen besonderen Beratungsbedarf?
Ein Riesenthema ist natürlich das Finanzielle. Junge Menschen aus Hartz IV-Familien haben beispielsweise Angst, Bafög zu beantragen, weil sie sich nicht vorstellen können, wie sie das je zurückzahlen können. Außerdem haben sie viele Halbinformationen – oft aus der Peergroup –, mit denen sie zu uns kommen. Es gibt viele Ängste und Sorgen und insgesamt ist die Gesamtorientierung schwieriger geworden, weil das gesamte Bildungssystem komplexer geworden ist. Das überfordert und führt leider dazu, dass das Talent nicht immer dahin kommt, wo es hingehört.

Wie lange begleiten Sie die Schüler und Studenten im Schnitt?
Es gibt Leute, die begleite ich bereits seit dem Start des Programms 2012. Bei uns heißt es ja „Einsteigen, durchsteigen, aufsteigen“, das beinhaltet eine Betreuung bis zum Übergang in den Job. Insbesondere dabei bemerken wir aber Probleme, wenn zum Beispiel junge Erwachsene, die in Regelstudienzeit studieren, ein Blockpraktikum brauchen, dies aber nicht bekommen, weil sie Yilmaz oder Yildiz heißen. Unter den Normalstudierenden haben wir 40 Prozent mit Migrationshintergrund, bei den Dualstudierenden sind es unter 5 Prozent. Das heißt, dass da, wo ein Unternehmen mitentscheidet, diese Quote deutlich geringer ist. Obwohl in unserer Region fast 40 Prozent der Menschen einen Migrationshintergrund haben.

Es gibt also noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten.
Natürlich, das ist auch kein Vorwurf. Ich akzeptiere es, wenn Unternehmen sagen, dass sie keine Erfahrung mit bestimmten Zielgruppen haben. Aber wenn ein junger Mensch als Jahrgangsbester abschneidet und ein Jahr länger braucht als andere, um einen Job zu finden, dann muss man darüber reden, dass der Name eine Rolle spielt, genau wie die Postleitzahl. Das ist ein ernsthaftes Problem.

Die Talentförderung:
Seit 2012 gibt es an der Westfälischen Hochschule die Talentförderung. Inzwischen ist auch die Politik auf Suat Yilmaz und sein 7-köpfiges Team aufmerksam geworden. So plant die nordrheinwestfälische Wissenschaftsministerin Svenja Schulze aktuell, das Programm auszubauen und stellt dafür in den kommenden vier Jahren 22 Millionen Euro zur Verfügung. In diesem Rahmen wird auch das NRW-Zentrum für Talentförderung an der Westfälischen Hochschule eingerichtet. Die nächsten Talentscouts sollen im Juli ihre Arbeit aufnehmen.

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Kathrin Justen

Kathrin Justen ist Verantwortliche für People and Culture bei der Digitalberatung Digital Dna und arbeitet nebenberuflich als freie Journalistin.

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