Arbeitskräftepotenziale in Deutschland besser nutzen

Analyse

Die Stiftung Familienunternehmen hat mit einer Studie das Arbeitskräftepotenzial in Deutschland identifizieren und Handlungsvorschläge erarbeiten lassen. Deutschland gehört im internationalen Vergleich – trotz der aktuell rezessiven Phase – zu den Ländern mit den meisten offenen Stellen, die nicht besetzt werden können. Besonders betroffen sind Familienunternehmen, zumal sie vor allem Fachkräfte suchen.

Das größte Potenzial besteht bei teilzeitbeschäftigten Frauen ohne Kinder bis 14 Jahren. Wenn in dieser Gruppe 50 Prozent so viel arbeiten würden wie die Männer der entsprechenden Altersgruppen, stünden dem Arbeitsmarkt rechnerisch 1,7 Millionen zusätzliche Vollzeitkräfte zur Verfügung. Weitere Potenziale liegen in der gezielten Förderung beruflicher Qualifikationen, bei Müttern von Kindern unter 14 Jahren und bei älteren Arbeitnehmern. Es steht außer Frage, dass der erhebliche Arbeitskräftemangel gemildert werden könnte, würde das Potenzial besser ausgeschöpft. Dazu müssten die rechtlichen Rahmenbedingungen angepasst werden und sich Einstellungen, zum Beispiel gegenüber älteren Arbeitnehmern, ändern.

Entwicklung und Erwerbstätigkeit

Das Arbeitsvolumen ist in Deutschland in den letzten 20 Jahren – mit Ausnahme der Coronaphase – aufgrund der Zunahme an Erwerbstätigen stetig gestiegen (siehe Abbildung 1). Es nahm seit 2005 bis 2023 von 58,6 Milliarden Stunden bis auf 61,7 Milliarden Stunden zu. Dabei hat die Erwerbstätigenquote (Anteil der tatsächlich erwerbstätigen Personen an der Anzahl der Personen im Alter von 15 bis 64 Jahren) von Frauen von 2000 mit 63 Prozent bis 2022 auf 75 Prozent stark zugenommen. Zum anderen ist es gelungen, das Erwerbspotenzial der Älteren in einem hohen Maße zu mobilisieren. Gleichwohl steht Deutschland erst am Anfang eines langfristigen Arbeitskräftemangels. Trotz der aktuellen Rezession und des Transformationsprozesses wird sich der Arbeitskräftemangel aufgrund der demografischen Entwicklung deutlich verschärfen. Hinzu kommt, dass die Babyboomer-Generation in Rente geht (siehe Abb. 1).

Abb 1 Erwerbstätige Arbeitszeit und Arbeitsvolumen 2005 = 100 Quelle IAB Arbeitszeitrechnung Dargestellt sind die Entwicklung der Zahl der Erwerbstätigen die mindestens eine Stunde pro Woche arbeiten das Arbeitsvolumen also das Produkt aus Erwerbstätigen und Stundenzahl sowie die jährliche Arbeitszeit in Stunden

Arbeitsvolumen und Erwerbsumfang

Neben der Zahl der Erwerbstätigen bestimmt sich das Arbeitsvolumen auch nach dem Erwerbsumfang. Die jährliche Arbeitszeit hat sich seit dem Jahr 2000 bei den Männern deutlich vermindert. Bei den Frauen ist sie auf bereits niedrigem Niveau – wenn auch in geringerem Maße – noch weiter zurückgegangen. Die Gründe: geänderte Arbeitszeitwünsche, die Zunahme von Teilzeitbeschäftigung und tarifvertragliche Arbeitszeitverkürzungen. Hinzu kommt der Krankenstand, der sich 2023 durchschnittlich auf 15,1 Tage erhöht hat.

Deutschland gehört im internationalen Vergleich des Arbeitsvolumens pro Person im erwerbsfähigen Alter zu den Ländern mit dem niedrigsten Arbeitsvolumen. Nach einem OECD-Vergleich (2022) liegt Deutschland mit 1.031 Jahresarbeitsstunden je Einwohner mit deutlichem Abstand unter dem Durchschnitt von 1.216 Stunden.

Vergleichsgruppen mit den höchsten ­Potenzialen

Mithilfe des Mikrozensus 2019 als Datenquelle wertet die Studie die Potenziale bei Frauen mit Kindern und Frauen allgemein, Personen mit Migrationshintergrund, Personen ohne berufliche Ausbildung und Älteren aus. Auswertungen zeigen, dass bei Frauen Potenziale in der Verlängerung der Wochenarbeitszeit bestehen, während die Potenziale bei Personen mit Migrationshintergrund, gering Qualifizierten und Älteren in erster Linie bei einer Erhöhung der Erwerbstätigkeit liegen. Die größten Potenziale liegen bei einer Erhöhung der Arbeitszeit bei Frauen ohne Kinder bis 14 Jahren (siehe Abb. 2).

Abb 2 Übersicht über die Arbeitskräftepotenziale in Tsd Beschäftigten Quelle Mikrozensus 2019 eigene Auswertungen Zu berücksichtigen ist dass sich die Potenziale überlappen zugewanderte Frauen sind beispielsweise zugleich häufig Mütter von Kindern bis 14 Jahren Daher können die in der Abbildung dargestellten Zahlen nicht zu einem Gesamtpotenzial addiert werden

Erhöhung des Beschäftigungsumfangs

Frauen ohne Kinder bis 14 Jahre
Circa 40 Prozent der erwerbstätigen Frauen ohne Kinder bis 14 Jahren arbeiten in Teilzeit. Würde die Lücke zwischen der Arbeitszeit von Männern und Frauen ohne Kinder bis 14 Jahre zur Hälfte geschlossen, würden über 2,3 Millionen Arbeitsstunden zusätzlich geleistet. Dies entspricht knapp 1,7 Millionen Arbeitskräften. Ein wesentlicher Grund für den hohen Teilzeitanteil besteht darin, dass die finanziellen Anreize für eine Vollzeittätigkeit zu gering sind. Daher sollten vor allem die steuerlichen und sozialrechtlichen Rahmenbedingungen geändert werden. Auch die steuerlichen Vorteile für verheiratete Paare müssten sich ändern. Dadurch würde es für viele Frauen attraktiver, mehr Stunden zu arbeiten. Um mehr reguläre Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen, sollten die Regelungen für Minijobs eingeschränkt werden.

Manchmal fehlt aber auch ein Problembewusstsein dafür, welche finanziellen Einbußen besonders im Fall einer Scheidung oder im Alter mit Teilzeit einhergehen. Die Deutsche Rentenversicherung sollte daher in den jährlichen Renteninformationsschreiben die finanziellen Vorteile einer Erhöhung der Arbeitszeit auf die künftigen Rentenzahlungen sichtbar machen. Die Anreize für eine Vollzeittätigkeit sind höher, wenn Erwerbsunterbrechungen nicht mit Nachteilen für die spätere berufliche Entwicklung verbunden sind. Daher sollten Frauen nach der Familienphase nicht nur in ihre vorherigen Tätigkeiten zurückkehren, sondern vermehrt auch beruflich aufsteigen können.

Frauen mit Kindern bis 14 Jahre
Würden Frauen mit Kindern bis 14 Jahren zu 50 Prozent so viel arbeiten wie Frauen ohne Kinder bis 14 Jahre, würden 717.000 zusätzliche Arbeitskräfte gewonnen. Hauptgrund für die höhere Teilzeitbeschäftigung sind familiäre Verpflichtungen. Die Ausweitung der institutionellen Kinderbetreuung ist daher der Schlüssel für eine längere Arbeitszeit. Sie ist zugleich der Schlüssel für die Erhöhung der Erwerbstätigkeit. Folgende Maßnahmen werden empfohlen:

• Die Betreuungszeiten sollten flexibler gestaltet, erweitert und verlässlicher werden. Der ab 2026 geltende Rechtsanspruch auf Ganztagesbetreuung für Kinder im Grundschulalter sollte vollständig umgesetzt werden.
• Die gesetzlichen Anforderungen für Betriebskindergärten sollten vereinfacht werden (beispielsweise mit Erprobungsklauseln).
• Die Gründung von Betriebs-Kitas sollte durch Beratung und Unterstützung bei der Planung und Einrichtung von Kitas erleichtert werden.
• Eine steuer- und abgabenfreie Betreuung in Ferienzeiten für schulpflichtige Kinder würde es Unternehmen erleichtern, derartige Leistungen zu erbringen.

Erhöhung der ­Erwerbsbeteiligung

Zugewanderte und Personen mit Migrationshintergrund
Zugewanderte und Personen mit Migrationshintergrund haben eine geringere Erwerbsbeteiligung als Personen ohne Migrationshintergrund. Die geringste Erwerbsbeteiligung haben Personen, die seit 2010 nach Deutschland eingereist sind. Es folgen vor 2010 Zugewanderte und schließlich Personen, die einen Migrationshintergrund haben, aber in Deutschland geboren sind, das heißt Zugewanderte der zweiten oder dritten Generation.

Würde die Lücke von Personen ohne Migrationshintergrund zur Erwerbsbeteiligung des jeweils nächsten Migrationsstatus zur Hälfte geschlossen, wären 432.000 Personen zusätzlich erwerbstätig. Besonders niedrig ist die Erwerbstätigkeit von zugewanderten Frauen. Ein wichtiger Grund ist, dass Kinder weniger häufig eine Kita besuchen. Um Zugewanderte über die Möglichkeiten und den für alle geltenden Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz aufzuklären, sollten die Beratungsangebote verbessert werden. Zudem sollten Unternehmen Informationsmaterialien für ihre zugewanderten Fachkräfte bereitstellen. Bei den Unternehmen gibt es erfolgreiche Beispiele für Dual-Career-Netzwerke, die Partnerinnen und Partnern von zugewanderten Fachkräften neue berufliche Perspektiven in Deutschland aufzeigen.

Bei den Zugewanderten steht einer Erwerbstätigkeit häufig entgegen, dass Integrations- und Berufssprachkurse überwiegend in Vollzeit angeboten werden und daher schlecht mit einer Erwerbstätigkeit kombiniert werden können. Daher sollten im Bereich der Sprachkurse mehr Teilzeitangebote geschaffen werden, vor allem sollte das Erlernen der deutschen Sprache in Unternehmen gefördert werden. Zugleich müssen die Verfahren für die berufliche Anerkennung in reglementierten Berufen entbürokratisiert und damit beschleunigt werden.

Personen ohne Berufsabschluss
Bei den Erwerbstätigenquoten bestehen erhebliche Unterschiede nach Qualifikationen. Unterschieden wird zwischen Personen ohne Berufsabschluss, mit beruflichem Ausbildungsabschluss, mit einer fortgeschrittenen beruflichen Qualifikation (insbesondere Meister- oder Technikerabschlüsse) sowie mit Hochschulabschluss. Je höher die Qualifikation, desto höher die Erwerbstätigenquote, aber nirgendwo sind die Unterschiede so groß wie zwischen Gering- und beruflich Qualifizierten Dies gilt für Männer ähnlich wie für Frauen, wobei die Unterschiede vor allem bei den jüngeren Frauen noch einmal größer sind.
Würde die Lücke in der Erwerbstätigenquote zur jeweils folgenden Qualifikationsgruppe zur Hälfte geschlossen, ergäben sich knapp 1,2 Millionen Erwerbstätige zusätzlich.

Seit mehr als zehn Jahren steigt der Anteil derjenigen, die dauerhaft ohne einen beruflichen oder Studienabschluss verbleiben. Ausbildungslosigkeit führt zu Arbeitslosigkeit, wenn mangelnde Arbeitsanreize bei geringen Löhnen die Betroffenen daran hindern, eine Beschäftigung aufzunehmen. Dies gilt insbesondere, wenn das erzielbare Einkommen im Vergleich zur Unterstützung in der Familie oder dem Transferbezug gering ist. Im Berufswahlprozess müssen Jugendliche noch besser über Ausbildungsberufe, Karrieremöglichkeiten und Förderungen informiert werden. Es gibt erfolgreiche Beispiele, wenn eine Direktansprache gelingt (zum Beispiel „Talent Company“ der Strahlemann-Stiftung) und Jugendliche mit Ausbildungsbetrieben zusammengebracht werden können (zum Beispiel mit Praktika). Bei Jugendlichen mit besonderen schulischen oder familiären Schwierigkeiten sind in der Regel eine individuelle Begleitung und ein Mentoring notwendig.

Vielen nicht beruflich qualifizierten Personen gelingt es auf Dauer nicht, Zertifikate und Qualifikationen oder nachträglich Abschlüsse zu erwerben, auch wenn die erforderlichen Fähigkeiten und die nötige Motivation vorhanden sind. Teilqualifizierungen sollten in größerem Umfang als bisher angeboten und die Finanzierungsmöglichkeiten verbessert werden.

Ältere Personen
Die Erwerbstätigkeit hat in Deutschland zwischen 2010 und 2020 bei den älteren Personen erheblich zugenommen. Dies gilt für Frauen noch stärker als für Männer. Gleichwohl geht die Erwerbstätigenquote ab einem Alter von 60 Jahren schnell zurück. Würde die Erwerbstätigenquote jedes Altersjahrgangs ab 50 Jahre durch Verminderung des Unterschieds zum nächstjüngeren Altersjahrgang zur Hälfte reduziert, würde die Zahl der Erwerbstätigen um 414.000 steigen.

Die Gründe für einen frühen Ausstieg aus der Erwerbstätigkeit sind vielfältig. Maßgeblich sind in erster Linie die finanziellen Anreize durch das Rentenversicherungssystem. Durch die Einführung der abschlagsfreien Altersrente für besonders langjährig Versicherte („Rente mit 63“) würde die Erwerbsbeteiligung reduziert. Ähnlich wie in Österreich sollte diese Rentenart auf besonders belastete Berufe begrenzt werden. Auch sollte über das seit 2017 bestehende Flexirentengesetz besser informiert werden. Um die Neueinstellung von Beschäftigten, die das Rentenalter schon erreicht haben, zu begünstigen, sollten befristete Arbeitsverträge erleichtert werden. Unternehmen machen die Erfahrung, ältere Arbeitnehmer länger im Betrieb halten zu können, wenn sie stärker ihre Arbeitszeitpräferenzen berücksichtigen und Tandems zwischen Älteren und Jüngeren organisieren.


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Fazit: Die Studie zeigt, dass es in Deutschland ein erhebliches Arbeitskräftepotenzial gibt, das ausgeschöpft werden könnte, wenn die entsprechenden Zielgruppen besser informiert und beraten und die institutionellen sowie gesetzlichen Rahmenbedingungen die spezifischen Situationen besser berücksichtigen würden. Finanzielle Anreize sollten Erwerbstätigkeit fördern und nicht davon ­abhalten.

Über die Studie
Die Studie Arbeitskräftepotenziale in Deutschland besser ausschöpfen, 2024, wird herausgegeben von der Stiftung Familienunternehmen. Im Auftrag der Stiftung Familienunternehmen hat das Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) soziodemografische Gruppen mit niedrigen Erwerbstätigenquoten oder geringem Arbeitsumfang identifiziert und quantifiziert. In einer Benchmarkanalyse wurde geprüft, wie stark sich das Arbeitsvolumen erhöhen würde, wenn die Erwerbstätigkeit oder die Arbeitszeit zu 50 Prozent der entsprechenden Vergleichsgruppe entspräche. Anschließend wurden mithilfe einer Ursachenanalyse, eines World Cafés und eines Workshops 60 Handlungsempfehlungen erarbeitet, wie das jeweilige Arbeitskräftepotenzial in Deutschland besser ausgeschöpft werden kann.
Die Studie Arbeitskräftepotenziale in Deutschland besser ausschöpfen, 60 Handlungsempfehlungen für Verwaltung, Politik und Praxis ist abrufbar unter ­www.familienunternehmen.de.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Fake. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Gisela Meister-Scheufelen

Dr. jur. Gisela Meister-Scheufelen ist Senior Advisor der Stiftung Familienunternehmen. Sie war unter anderem Staatssekretärin für Wirtschaft und Technologie im Land Berlin, Ministerialdirektorin und Amtschefin des Finanzministeriums Baden-Württemberg und Beigeordnete in Ludwigsburg.

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