„Ich habe Krebs“

Brustkrebsmonat

Es gibt nicht viele Sätze, die so schlagartig für Stille sorgen wie dieser hier: „Ich habe Krebs.” Ein Schock-Moment, gefolgt von Unsicherheit, Ratlosigkeit, Hilflosigkeit, Ohnmacht – und dem Impuls, jetzt schnell reagieren zu müssen und dabei ja nichts Falsches zu sagen. Aber was sagt man in so einer Situation? Was ist richtig? Was ist angemessen? Was ist total daneben?

Jedes Jahr bekommen 500.000 Menschen Krebs, allein in Deutschland. 175.000 sind zum Zeitpunkt der Diagnose im erwerbsfähigen Alter. Und 110.000 können nach der Behandlung wieder arbeiten. Doch ob und wie erfolgreich diese Re-Integration in den Job funktioniert, entscheidet sich manchmal schon in diesen ersten Sekunden nach Bekanntgabe der Diagnose, dem Moment des Outings, oder sogar lange davor. Denn ausschlaggebend für den Umgang mit der Krankheit sind die Unternehmenskultur, das Miteinander im Unternehmen, das (Vertrauens-)Verhältnis zueinander und die Sicht auf Menschen.

Drei Beispiele:

  • Eine 40-jährige Führungskraft hat Brustkrebs. Ihr Unternehmen gibt sich nach außen hin als inklusiv. Sie hat aber in der Vergangenheit oft beobachtet, dass Krankheit als Schwäche ausgelegt wird und befürchtet, dass sie aufgrund ihrer Diagnose ebenfalls aufs Abstellgleis verfrachtet wird und ihre Leistung in Frage gestellt wird. Sagt sie es?
  • Eine Junior-Projektmanagerin, Anfang 30, hat Leukämie. In ihrem Unternehmen gibt es viele kleine Grüppchen, ansonsten herrscht eine eher unpersönliche Atmosphäre. Zu ihrer Führungskraft hat sie keinen guten Draht und sie fragt sich, welche Konsequenzen das Outing für ihre berufliche Karriere haben könnte. Sagt sie es?
  • Ein 50-Jähriger hat Hodenkrebs. In seinem Unternehmen gibt es einen fast freundschaftlichen Umgang unter den Kolleginnen und Kollegen, aber gleichzeitig herrscht enormer Leistungsdruck. Die Diagnose hat ihn kalt erwischt und völlig aus der Bahn geworfen. Er hat Angst um sein Leben und weiß, dass er psychisch und körperlich gerade nicht in der Lage ist, die volle Leistung zu erbringen. Sagt er es?

Pinktober, Breast Cancer Awareness Month: Der Oktober ist der offizielle Brustkrebsmonat. Das Ziel: für Awareness sorgen, Aufklärungsarbeit leisten, Früherkennung fördern und Betroffene unterstützen. Das Symbol ist eine rosa Schleife (Pink Ribbon). Entstanden ist der Brustkrebsmonat 1985 in den USA.

Problem 1: Es gibt eine Diskrepanz zwischen der öffentlich deklarierten Haltung und der tatsächlich gelebten Praxis

Wenn man sich durch Linkedin scrollt, könnte man den Eindruck haben, dass alle Unternehmen ein wertschätzendes, unterstützendes Arbeitsumfeld bieten. Das sind die lauten Stimmen. Aus den Gesprächen mit inzwischen 100 Betroffenen kann ich sagen: Dieses „easy peasy“ entspricht nicht dem, was tatsächlich in vielen Organisationen hierzulande los ist.

Es gibt eine Diskrepanz zwischen der öffentlich deklarierten Haltung und der tatsächlich gelebten Praxis.

Ein Beispiel: Ich habe vor kurzem bei Linkedin mein Netzwerk um eine Einschätzung gebeten, ob eine Betroffene im Bewerbungsprozess offen sagen sollte, dass sie Krebs hat oder nicht. Sie hatte ihre erste Krebsdiagnose mit 21 bekommen, in den Jahren danach folgten diverse weitere Diagnosen. Trotzdem hat sie ihre Ausbildung beendet, studiert und wollte sich nun auf eine Stelle bewerben und ins Arbeitsleben starten. „Soll ich erklären, warum ich für die Ausbildung so lange gebraucht habe? Oder sollte ich lieber nicht sagen, dass ich Krebs habe?” Diese Frage hat sie mir gestellt – und ich habe sie (natürlich mit ihrer Erlaubnis) 1:1 an mein Linkedin-Netzwerk weitergegeben und die Personalverantwortlichen um ihre Meinung gebeten.

Das öffentliche Feedback unter den Kommentaren war weitestgehend so: Unbedingt offen damit umgehen, man wolle doch ohnehin nicht für ein Unternehmen arbeiten, das einen nicht so akzeptiert, wie man ist. Und: Unternehmen könnten es sich nicht leisten, Menschen auszusortieren. In den Privatnachrichten zeigte sich ein ganz anderes Bild: Dort der Tenor unisono: „Bloß nicht sagen!“

Die Frage ist: Was bringt uns Betroffenen diese öffentliche, schöne, wünschenswerte Haltung zu Diversität, Gleichstellung, Inklusion und Zugehörigkeit? (DEIB: Diversity, Equality, Inclusion, Belonging), wenn sie intern nicht gelebt wird?

Problem 2: Betroffene werden in die (alte) Krebs-Schublade gesteckt

Menschen haben Angst vor Krebs. Krebs steht für Leid und Sterben, Krebs steht für das Ende. In ihrem Essay Krankheit als Metapher aus dem Jahr 1978 beschreibt Susan Sontag Krebs als „dämonischen Feind“, als „schändlich”: “Menschen, die Krebs haben, sind Krebsopfer. Die Krankheit (ist) die Angeklagte. Doch auch der Krebspatient wird für schuldig erklärt.”

Die Angst vor der Krankheit ist berechtigt. Krebs ist eine schwere Krankheit, „ein potenziell todbringendes Karzinom”, wie mal ein Chirurg zu mir sagte, und es sterben jedes Jahr sehr viele Menschen an Krebs. Aber die medizinischen Möglichkeiten werden von Jahr zu Jahr besser, und die Überlebensprognose bei beispielsweise Brustkrebs liegt inzwischen bei 87 Prozent.

Das bedeutet aber auch, dass immer mehr Menschen mit und nach Krebs unter uns sind, in unserer Arbeitswelt. Es wird Zeit, dass wir lernen, über Krebs zu sprechen. Denn nur wenn wir über die Krankheit sprechen, wenn wir wissen, was die Betroffenen brauchen, was sie sich wünschen und was sie leisten können, können wir für funktionierende Prozesse, für gute Arbeitsbedingungen, für ein gutes Miteinander – und unterm Strich für Produktivität und nachhaltiges Personalmanagement sorgen. Und das gilt für alle am Prozess Beteiligten: für Betroffene als auch für Führungskräfte, Teammitglieder, HR.

Problem 3: Mangelndes Wissen

Was heißt es, wenn jemand Krebs hat? Was bedeutet die Diagnose? Wie sieht die Behandlung aus? Fällt die Person monatelang aus? Oder arbeitet sie zwischendurch? Kann sie danach so arbeiten wie vorher?

Die Antwort: It depends. Krebs ist für alle anders. Je nach Tumorart, Persönlichkeitstyp, Lebensphase, privatem und beruflichem Umfeld, finanziellem Puffer, Kommunikationsstil, Haltung etc. bedeutet die Diagnose für Person A etwas komplett anderes als für Person B.

Es gibt Menschen, die tatsächlich viele Monate wegen der Behandlung nicht arbeitsfähig sind. Andere können und wollen während der Behandlungsphase weiterarbeiten. Es gibt Menschen, die noch viele Jahre nach der Akuttherapie wegen etwaiger Anschlusstherapien Nebenwirkungen haben (die Antihormontherapie beispielsweise dauert mitunter zehn Jahre) oder bei denen in Folge der Operation neue Komplikationen auftreten (Fast alle Frauen werden im Rahmen der Therapie an der Brust operiert). Andere brauchen vielleicht nach der Therapie eine Pause, sind dann aber wieder arbeits- und leistungsfähig, vielleicht sogar wie früher.

Unser Appell ist immer: Don’t judge. Und traut Euch, Fragen zu stellen.

Problem 4: viele Betroffenen können nicht offen sagen, dass sie Krebs haben

Mit der Diagnose Krebs verschwimmt die Grenze zwischen privater Krankheit und beruflicher Rolle. Und zusätzlich greifen Probleme eins, zwei und drei.

Nicht alle Betroffenen können offen sagen, dass sie Krebs haben: Sie halten die Krankheit aus strategischen Gründen geheim. Das ist nicht nur für die Betroffenen ein Problem. Sondern für die gesamte Organisation.

Wenn aber Betroffene nicht sagen können, dass sie Krebs haben, wissen Führungskräfte und HR auch nicht, was los ist. Wann sie wiederkommen, ob eine Vertretung organisiert werden muss, Aufgaben anders verteilt, Projekte neu geplant werden müssen.

Es wird gemutmaßt, spekuliert, und das Vertrauensverhältnis ist danach in der Regel nicht besser.

Dabei liegt im offenen, unterstützenden Umgang mit der Krankheit gerade für Organisationen ein großes Potenzial: Nicht nur, weil die Betroffenen sich angesichts der Grenzerfahrung menschlich so sehr weiterentwickeln, dass andere viel von ihnen lernen können – sie stehen dem Unternehmen komplett anders gegenüber, wenn es sie in einer der vermutlich schwierigsten Phasen ihres Lebens unterstützt hat. Commitment statt Alienation. Sich für das Unternehmen einsetzen, statt Resignation und längerer Ausfall.

Problem 5: Betroffene sind auf sich allein gestellt

Während der Therapiezeit sind die Betroffenen durch medizinische und (psycho-)therapeutische Angebote gut versorgt. Aber spätestens, wenn sie offiziell wieder „gesund“ und „arbeitsfähig” geschrieben werden, sind sie von heute auf morgen auf sich allein gestellt. Die Kontrolltermine im medizinischen Bereich bieten nicht den richtigen Rahmen, um über berufliche Herausforderungen zu sprechen – und selbst wenn Betroffene mit ihren Arbeitgebenden offen über die Krankheit gesprochen, können diese aus Ressourcengründen nicht alle Fragestellungen in dem Maße abdecken, wie es für eine erfolgreiche Re-Integration erforderlich wäre. Das Spektrum reicht von Gesundheitsmanagement im Arbeitsalltag über Umgang mit Konflikten im Team („Die geht schon wieder zum Arzt und ich mach die Arbeit.”) bis zu Fragen wie „Was könnten Herausforderungen für mich sein, wenn ich wieder arbeiten gehe?” oder „Kann und möchte ich die gleichen Aufgaben und Verantwortlichkeiten wie vor der Krankheitsphase übernehmen?” und „Wie kann ich meine Kollegen über meine Rückkehr informieren? Und was sage ich ihnen?”

Hier sind umfangreiche, ganzheitliche Konzepte und konkrete Hilfe für Betroffene dringend erforderlich. Und da es vermutlich noch viele, viele Jahre dauern wird, bis derartige unterstützende Angebote flächendeckend von Trägern wie Rentenversicherungen oder Krankenkassen übernommen werden, sind Organisationen gefragt, ihren Mitarbeitenden wirklich zu helfen. Es lohnt sich.

BEM reloaded

„Wir machen doch BEM“, das hören wir von Unternehmensseite oft. Von Seite der Betroffenen kann ich sagen: Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) allein reicht nicht, weil BEM aus Sicht von Betroffenen in der Regel nicht hinreichend die vielfältigen Veränderungen berücksichtigt, die infolge der Krebserkrankung auftreten und grundlegende Fragen wie „Möchtest Du überhaupt zurück in den alten Job?“ häufig gar nicht erst gestellt werden. Wir brauchen BEM reloaded.

Konkrete Tipps für den Umgang mit Betroffenen, Checklisten für Führungskräfte und Guidelines für HR gibt es im Erste-Hilfe-Paket von #einevonacht. Außerdem hat #einevonacht neben kostenlosen Beratungsterminen ein Workshop-Format entwickelt. Darin lernen Führungskräfte innerhalb von zwei Stunden die wichtigsten Basics für den Umgang mit erkrankten Mitarbeitenden. Das Projekt bietet Impulsvorträge und Ask me anything-Sessions zum Umgang mit Krebs im Arbeitskontext an – für Führungskräfte und Teams.

Wiedereingliederungsmanagement neu denken

Und wir müssen ganz von vorne anfangen. Bevor es eine Diagnose gibt. Sind die Führungskräfte in der Organisation fit für den Umgang mit schweren Themen? Wie gehen wir in der Organisation mit Emotionen, Verletzlichkeit und Krankheitsphasen um? Sind psychologische Sicherheit und DEIB-Schlagworte für uns? An welchen Stellen müssen wir nachbessern?

Reboarding sollte den gleichen Stellenwert haben wie Onboarding. Damit Wissen und Kompetenz im Unternehmen bleiben, damit die Produktivität trotz Krankheitsphase gewährleistet ist, damit der Laden läuft und alle gut und gern zusammenarbeiten. Damit Unternehmen menschlich sind. Und dabei dürfen wir nicht eindimensional denken und nur die stufenweise Wiedereingliederung sehen. Wir müssen ganzheitlich denken, für eine nachhaltige Personalführung.

Wir müssen uns Zeit nehmen, uns mit den Bedürfnissen aller am Prozess Beteiligten auseinandersetzen. Denn unterm Strich geht es immer darum: Es geht um Bedürfnisse, Wertschätzung und Kommunikation. Und es geht darum, alle gleichermaßen zu sehen und einzubeziehen: Betroffene, Führungskräfte, Team-Mitglieder, HR – und Arbeitgebende. Nur wenn wir darüber sprechen, was wir brauchen und was wir voneinander erwarten, können wir die Bedingungen für eine gute Zusammenarbeit schaffen.

Mehr Informationen über Brustkrebs:

Informationen für Angehörige:

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Rebecka Heinz

Rebecka Heinz ist Managerin, Strategieberaterin und Gründerin und Geschäftsführerin von #einevonacht. 2021 hatte sie selbst Brustkrebs und hat noch während ihrer eigenen Chemotherapie das Projekt #einevonacht initiiert, um anderen Betroffenen den Umgang mit der Krankheit zu erleichtern. Inzwischen ist #einevonacht auf das Arbeiten mit und nach Krebs spezialisiert. Die Mission: Den Umgang mit Krebs im Businesskontext revolutionieren. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Anna Papadopoulos sorgt Rebecka Heinz dafür, dass wir in den Organisationen lernen, über Krebs zu sprechen und gute Arbeitsbedingungen für alle Beteiligten zu schaffen.

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