Felix Matern: „Es kostet Kraft, mit dieser Daueranspannung umzugehen.“
„Ich lebe mit Tourette“ – das war einer der ersten Sätze, die ich im Assessment-Center vor der bis dato unbekannten Gruppe gesagt habe. Ganz bewusst erst zu diesem Zeitpunkt, denn in meinen Bewerbungsunterlagen habe ich meine Erkrankung nicht vermerkt. Die Sorge, ich könnte dadurch einen Nachteil erhalten, ohne dass man mich persönlich kennengelernt hätte, war schlichtweg zu groß. Für mich war klar: Ich möchte nicht irgendwo anfangen, wo ich mich verstellen muss. Mein Tourette gehört zu mir – für Außenstehende mal mehr, mal weniger spürbar, aber insbesondere für mich stets präsent. Ich hatte Glück. Die Reaktionen der anderen am Hamburg Airport waren offen, interessiert und wertschätzend. Aber dennoch: Auch mit dieser Offenheit bleibt häufig ein unsichtbares Fragezeichen im Raum: Wie wird das Team reagieren? Muss ich mich ständig erklären? Werde ich unterschätzt?
Das Tourette-Syndrom, eine neuropsychiatrische Erkrankung, die durch das gemeinsame Auftreten von motorischen und vokalen Tics gekennzeichnet ist, ist nicht immer laut oder besonders auffällig. Oft ist es leise – ein kurzes Zucken, ein ungewolltes Räuspern, eine Anspannung im Körper. Es kostet Kraft, mit dieser Daueranspannung umzugehen – und noch mehr Kraft, wenn man das Gefühl hat, sich dafür rechtfertigen zu müssen.
Einen Arbeitgeber an seiner Seite zu haben, der zuhört und mit dem man sich gemeinsam über unterstützende Maßnahmen austauschen kann, bedeutet dabei viel. Besonders im öffentlichen Raum erfährt man mit dieser oft missverstandenen Erkrankung negative Reaktionen der Mitmenschen. Am Arbeitsplatz verbringen viele einen Großteil ihrer Zeit, weshalb besonders hier eine sichere Atmosphäre essenziell ist. Oft sind es daher die kleinen Nachfragen von Vorgesetzten, auf die man ehrlich und auch emotional antworten darf, ohne verurteilt zu werden.
Jeder Mensch hat sogenannte „Unconscious Bias“, ergo situativ auftretende und voreingenommene Assoziationen, Denkmuster oder stereotype Vorstellungen gegenüber einer anderen Person oder sozialen Gruppe. Dies gilt gleichermaßen für gesunde wie weniger gesunde Menschen. Sich bewusst zu machen, welchen Effekt dabei nonverbale und verbale Kommunikation auf das Gegenüber haben, ist eine Kür. Oftmals ist es lediglich ein einzelner Satz, der für jemand Gesundes bedeutungslos erscheint, aber bei einer Person mit Erkrankung unmissverständlich etwas auslöst. Dies kann zu Verunsicherung und einem unechten Verhalten führen.
Man verstellt sich, passt sich an und versucht, die eigenen Bedürfnisse, die mit der Erkrankung einhergehen, als sekundär zu betrachten. Eine Kultur der Offenheit, Akzeptanz und Unterstützung, die bereits vor Beginn des Arbeitsverhältnisses nicht nur gepredigt, sondern darüber hinaus spürbar gelebt wird, kann für jemand Gesundes womöglich irrelevant wirken – für mich jedoch ist sie alltagsverändernd. Denn gelebte Inklusion heißt nicht, für alle das Gleiche zu tun. Sondern jedem das zu geben, was er oder sie braucht, um sich sicher und wertgeschätzt zu fühlen.
Dana Otte: „Wir wollten nicht nur reagieren, sondern vorbeugend sensibilisieren.“
Bevor Felix in meine Abteilung kam, hatte ich noch nie direkten Kontakt zu einem Menschen mit Tourette. Ich wusste nur vage, was die Erkrankung bedeutet. Nach unserem ersten Gespräch habe ich mir viele Fragen gestellt – und begann zu recherchieren: Ich habe gegoogelt, gelesen, Videos geschaut. Ich wollte verstehen, wie sich Tourette im Alltag äußert, was es für Betroffene bedeutet und wie ich im beruflichen Kontext sensibel damit umgehen kann.
Felix’ Offenheit im Gespräch war für mich nicht nur ein starkes Zeichen – es war auch ein Impuls. Denn viele Einschränkungen sind nicht sichtbar. Und gerade das macht sie im Arbeitskontext zu einer Herausforderung. Für Betroffene, für Kolleginnen und Kollegen sowie für Führungskräfte. Je öfter ich mit Felix unterwegs war – zu Terminen, Veranstaltungen oder Messen –, desto mehr fiel mir auf, wie sehr er die Aufmerksamkeit anderer Menschen auf sich zieht. Diese Reaktionen sind nicht immer neugierig-offen, sondern manchmal auch von Unsicherheit geprägt. Genau diese Momente haben mir noch deutlicher vor Augen geführt, wie wichtig es ist, im Unternehmen – und auch darüber hinaus – Bewusstsein zu schaffen und durch Aufklärung Vorurteile abzubauen.
Einige Kolleginnen und Kollegen sind in den ersten Wochen nach Felix’ Einstieg direkt auf mich zugekommen und haben nach seiner Erkrankung gefragt – nicht aus Neugier, sondern weil sie unsicher waren, wie sie im Alltag damit umgehen sollten. In solchen Momenten habe ich immer freundlich auf Felix verwiesen. Er geht sehr offen mit seinem Tourette um und beantwortet alle Fragen bereitwillig. Das hat nicht nur für Klarheit gesorgt, sondern auch Hemmschwellen abgebaut und echte Gespräche ermöglicht. Ein wichtiger Schritt war außerdem, dass wir in Absprache mit Felix einen Artikel über ihn und seinen offenen Umgang mit Tourette in unserem internen Mitarbeitermagazin Follow Me veröffentlicht haben. Damit wollten wir nicht nur informieren, sondern auch im Kollegenkreis Verständnis fördern und Mut machen, eigene Geschichten zu teilen.
Im HR-Team haben wir uns gefragt: Was können wir tun, damit Felix sich bei uns noch wohler fühlt – und wie können wir gleichzeitig einen Rahmen schaffen, der auch anderen Menschen mit unsichtbaren Einschränkungen Sicherheit gibt? Gemeinsam mit Felix haben wir begonnen, das Thema im Unternehmen fest zu verankern. Wir wollten nicht nur reagieren, sondern vorbeugend sensibilisieren.
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Ein zentraler Bestandteil dabei ist auch unsere Arbeit im Diversity-Team, das wir kurz vor Felix’ Einstieg gemeinsam mit einigen Kolleginnen und Kollegen gegründet haben. Felix ist seitdem ein fester Bestandteil dieses Teams und repräsentiert dort die Perspektive von Mitarbeitenden mit Behinderungen. Hier setzen wir gezielt an, um Barrieren abzubauen, Verständnis zu fördern und konkrete Maßnahmen für mehr Inklusion am Arbeitsplatz zu entwickeln.
Dieser Text entstand im Rahmen der Initiative Jedes Talent zählt. Für eine inklusive Arbeitswelt
Unser Ziel ist es, mit diesen Schritten nicht nur das Bewusstsein im Team zu stärken, sondern auch nach außen zu wirken. Wir möchten zeigen: Menschen mit sichtbaren und unsichtbaren Einschränkungen sind bei uns willkommen – nicht trotz, sondern mit ihrer individuellen Geschichte und ihren Stärken. Durch gelebte Inklusion und klare Signale wollen wir Barrieren abbauen und Hemmschwellen senken.
Wir hoffen, damit auch mehr Menschen mit einer Behinderung zu ermutigen, sich bei uns zu bewerben. Denn Vielfalt bereichert nicht nur das Miteinander, sondern ist ein entscheidender Faktor für Innovation, Verständnis und Teamstärke am Hamburg Airport.
Am Hamburg Airport ist das Sunflower-Symbol bereits seit dem 12. Februar 2024 im Einsatz. Im Zuge der Zusammenarbeit mit Felix haben wir bewusst erneut darauf aufmerksam gemacht, um seine Bedeutung wieder ins Bewusstsein zu rufen und offene Fragen zu beantworten. Wichtig war uns auch, zu betonen, dass das Symbol nicht nur für Betroffene gedacht ist. Allies, also Menschen, die sich solidarisch zeigen und aktiv unterstützen möchten, können es ebenfalls als Button tragen.
- Inklusion beginnt mit Zuhören: nicht mit Lösungen. Wer Menschen mit Einschränkungen verstehen will, muss ihnen zuerst Raum geben, selbst zu erzählen.
- Unsichtbares sichtbar zu machen, braucht Mut: Mut von Betroffenen – aber auch von HR und Führungskräften, diesen Mut zu bestärken, statt ihn unbeachtet zu lassen.
- Symbolik ist ein Anfang, keine Lösung: Das Sunflower-Symbol macht etwas sichtbar, was sonst unsichtbar bleibt. Doch entscheidend ist, wie wir danach miteinander umgehen.
Felix: Ich wünsche mir, dass eine sichere Kultur für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unterschiedlicher Branchen entsteht und diese fortlaufend weiterentwickelt wird. Niemand sollte seine Ressourcen dafür binden müssen, die eigenen Bedürfnisse aus Angst vor Stigmatisierung zu vernachlässigen. Ich habe gelernt, dass sich ein offener Umgang lohnt – auch wenn er Überwindung kostet. Psychologische Sicherheit ist hierbei von essenzieller Bedeutung. Sie ist keine Option, sondern ein Muss.
Dana: Ich wünsche mir, dass HR-Teams sich trauen, Fragen zu stellen, wenn sie etwas nicht wissen. Und Räume schaffen, in denen sich Menschen mit ihrer Geschichte zeigen dürfen – ohne Angst.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Handwerk. Das Heft können Sie hier bestellen.

Felix Matern


