Die Krise feiert 2025 in Deutschland Hochkonjunktur. Schon wieder. Die Verwendung der Begriffe „Wirtschaftskrise“, „Vertrauenskrise“, „Energiekrise“, „Klimakrise“ und „Demokratiekrise“ stieg laut ARD Forschungsdienst Media Perspektiven in deutschen Medien im Vergleich zum Vorjahr um 30 Prozent. Die mediale Dauerpräsenz dieser Krisenrhetorik führte bei 28 Prozent der Befragten zu Krisenmüdigkeit – und zum Abschalten.
Als Nachrichtenkonsumenten können wir das Medium wechseln oder einfach ausschalten. Doch was geschieht mit Menschen in Organisationen, die direkt von Krisen betroffen sind und nicht abschalten können? Was passiert auf psychologischer Ebene – und wie kann Coaching helfen, wenn nichts mehr sicher scheint?
Das Wesen der Krise: Wenn gewohnte Muster versagen
Eine Krise beschreibt aus psychologischer Perspektive einen Zustand, in dem gewohnte Bewältigungsmuster versagen und die bisherige Orientierung verloren geht. Typisch sind emotionale Reaktionen wie Enge, Kontrollverlust und Ambiguität – sie führen häufig dazu, dass Menschen in rigide, impulsive oder vermeidende Verhaltensmuster zurückfallen.
Als Pionier unter den Psychologen widmete sich Richard Lazarus bereits in den 1960ern den Auswirkungen von psychischen Krisen und entwickelte das transaktionale Stressmodell. Darin beschreibt er die Krise als Zustand emotionaler Instabilität, in dem rationale Einschätzungen und angemessene Entscheidungen kaum noch möglich sind.
Auf organisationaler Ebene wird dies sichtbar, wenn Unsicherheit kollektiv wird und sich in Teams oder der gesamten Unternehmenskultur ausbreitet. Die Folge: übermäßige Kontrollversuche, Schuldzuweisungen oder eine Flucht in blinden Aktionismus – alles Reaktionen, die das Vertrauen weiter schwächen. So wird die Krise zu einem selbstverstärkenden Prozess, in dem emotionale Reflexe die sachliche Steuerungsfähigkeit überlagern.
Illusion der Kontrolle
Krisen werden zum Charaktertest für Menschen und Organisationen. Bleibt man den eigenen Vorsätzen treu? Orientiert sich die Organisation weiterhin an den Werten, die sie sich selbst auf die Fahne geschrieben hat? Oder legitimiert die Krise plötzlich Schritte, die vorher undenkbar waren – und unvereinbar mit dem, was den Zusammenhalt eigentlich ausmacht?
Viele Unternehmen ordern Ihre Mitarbeiter wieder aus dem Homeoffice zurück ins Büro oder kündigen sogar Massenentlassungen an, die mit Marktveränderungen und Kostendruck begründet werden. Doch sind solche Maßnahmen eher symbolische Handlungen, die Kontrolle in unsicheren Zeiten symbolisieren soll. Anstatt die tieferliegenden strategischen Herausforderungen – etwa den Wandel der Geschäftsmodelle in der Industrie – systematisch anzugehen, wird durch abrupten Personalabbau kurzfristige Handlungsfähigkeit simuliert. Für die Mitarbeitenden bedeutet dies: zusätzliche Verunsicherung, Vertrauensverlust und das Gefühl, dass niemand mehr weiß, wohin die Reise geht.
Solche Beispiele zeigt exemplarisch, wie Aktionismus in Krisen dazu führt, dass Organisationen ihre eigentliche Steuerungsfähigkeit verlieren. Die strategischen Herausforderungen bleiben ungelöst, die psychische Belastung der Mitarbeitenden nimmt zu – und die emotionale Dynamik aus Enge, Kontrollverlust und Ambiguität verstärkt sich weiter.
Coaching als Gegenmodell: Präsenz statt Panik
Coaching stellt in seiner psychologischen Essenz das Gegenmodell zum Krisenmodus dar. Es fördert Präsenz, Reflexion und Eigenverantwortung – und wirkt damit den typischen Reflexreaktionen entgegen. Anstatt vorschnell zu handeln, schafft Coaching den Raum für Resonanz, Selbstkontakt und Sinnklärung – zentrale Wirkmechanismen, die emotionale Stabilität und Orientierung ermöglichen.
Viktor Frankls Konzept der Sinnorientierung verdeutlicht: Es geht darum, inmitten der Krise eine innere Haltung zu finden, aus der Handlungsfähigkeit nicht aus Angst, sondern aus Klarheit entsteht.
Ronald Heifetz‘ Modell des Adaptive Leadership zeigt: Führung in Krisen liegt weniger im schnellen Lösen von Problemen als im gemeinsamen Lernen und Anpassen an neue Realitäten. Ein Coach fungiert hier als „Halter der Unsicherheit“ – nicht als Problemlöser, sondern als Raumgeber für bewusste Auseinandersetzung und konstruktives Innehalten.
Übertragen auf die Beispiele wie Präsenzpflicht oder Massenentlassungen hätte Coaching bedeuten können, Führungskräfte nicht vorschnell in operative Entscheidungen zu drängen. Stattdessen: Unterstützung dabei, ihre eigene Haltung zur Krise zu reflektieren und bewusster mit der kollektiven Unsicherheit umzugehen.
Anstatt reflexartig zu reagieren, hätten durch Coaching-Prozesse der Selbstklärung Resonanz und Sinnorientierung initiiert werden können – etwa durch die Auseinandersetzung mit Fragen wie:
- Was geschieht hier wirklich?
- Was braucht das System jetzt von uns als Führung?
- Welche Handlungsoptionen ergeben sich jenseits des Offensichtlichen?
Manager hätten lernen können, Ambiguität auszuhalten, Emotionen im Team zu integrieren und Kommunikation als stabilisierendes Element zu nutzen. Der Coach fungiert dabei als Halter des Spannungsraums zwischen Kontrolle und Vertrauen und unterstützt die Entwicklung adaptiver Führung.
Bewusstseinsarbeiter statt Krisenlöser
Exzellente Coaches sind keine Krisenlöser, sondern Bewusstseinsarbeiter. Sie eröffnen einen anderen Zugang zur Situation, der es ermöglicht, Komplexität wahrzunehmen, ohne sich von ihr überwältigen zu lassen.
Coaching fördert damit Sicherheit im Umgang mit Unsicherheit – nicht durch Antworten, sondern durch erweiterte Wahrnehmung, innere Stabilität und einen größeren Gedanken- und Handlungsspielraum. Die Beziehung zur Krisensituation ändert sich – und genau darin entsteht der Freiraum, den es braucht, um in Krisen mutige und überlegte Entscheidungen zu treffen.
Voraussetzungen: Was HR gewährleisten muss
Wirksames Krisen-Coaching setzt bestimmte psychologische und organisationale Rahmenbedingungen voraus. Zentrale Voraussetzungen sind Vertrauen, Freiwilligkeit und der Schutz des Coaching-Prozesses – und genau hier trägt HR die Verantwortung.
Coaching darf in Krisenzeiten nicht als instrumentelles Mittel missverstanden werden, um Führungskräfte oder Mitarbeitende „leistungsfähiger“ zu machen. Seine Wirksamkeit liegt vielmehr darin, einen geschützten Raum zu schaffen, in dem Menschen sich mit ihrer individuellen Erfahrung von Unsicherheit, Kontrollverlust und Ambiguität auseinandersetzen können – ohne Leistungsdruck, sondern mit dem Ziel, einen anderen, angstfreien Zugang zur Situation zu finden.
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Dies erfordert klare organisationale Verantwortung:
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- Bewusste Coach-Auswahl: Erfahrene Coaches, die keine Heilsversprechen geben, sondern sich gemeinsam mit den Coachees auf den Weg machen, Unsicherheit zu verstehen und zu halten
Ebenso wichtig ist die Abgrenzung zwischen Coaching und Therapie: Während Coaching bei funktionalen Krisen ansetzt und die Selbststeuerung stärkt, braucht es bei tiefergehenden psychischen Belastungen oder Traumatisierungen therapeutische Unterstützung. HR muss die Kompetenz besitzen, diese Grenzen zu erkennen und gegebenenfalls psychologische Fachhilfe zu vermitteln.
Ein professionell aufgesetztes Krisen-Coaching ist damit kein kurzfristiges Interventionsinstrument, sondern Ausdruck organisationaler Reife im Umgang mit menschlicher Verletzlichkeit und Unsicherheit.
Fazit: Die Krise als Durchgang, nicht als Ausgang
Krisen markieren keine bloßen Brüche, sondern Schwellenmomente, in denen sich Bewusstsein, Haltung und Führung neu formieren können. Coaching eröffnet dabei den Raum, nicht nur aus der Krise heraus-, sondern bewusst hindurchzugehen – mit Kontakt zu sich selbst und zu dem, was wesentlich ist.
Wenn HR diesen Prozess unterstützt, indem sie Coaching als Entwicklungs- und nicht als Reparaturinstrument versteht, entsteht echte organisationale Lernfähigkeit. So wird die Krise zu einem Ort der Reifung, an dem Menschen und Systeme ihre innere Widerstandskraft und ihre Fähigkeit zur bewussten Selbststeuerung vertiefen.
Die zentrale Botschaft: Coaching wirkt gerade dann, wenn nichts mehr sicher scheint – weil es nicht die Illusion von Kontrolle verspricht, sondern die Fähigkeit stärkt, mit Ungewissheit produktiv umzugehen. Das ist keine Schwäche, sondern die vielleicht wichtigste Führungskompetenz unserer Zeit.
