Frau Dr. Collatz, was genau versteht man unter inneren Glaubenssätzen und wie entstehen sie?
Dr. Annelen Collatz: Glaubenssätze im Allgemeinen sind Annahmen über sich selbst oder andere. Das eine sind Selbstschemata, das andere Beziehungsschemata. Jeder Mensch hat diese Glaubenssätze, sie entstehen in verschiedenen Situationen in unserer Biografie. Dies können massive und prägende Ereignisse sein, aber auch Alltagssituationen, in denen sich ein Schema immer wiederholt. Häufig ist es ein Konglomerat, sind es verschiedene Situationen, die dazu führen, dass sich bestimmte Glaubenssätze festigen. Sie entstehen meist in der Kindheit durch Erfahrungen oder Prägungen und wirken oft als innere Überzeugungen weiter, ohne hinterfragt zu werden.
Sie widmen sich in Ihrer Arbeit verstärkt den Glaubenssätzen. Warum beeinflussen uns diese im Leben so grundlegend?
Negative Glaubenssätze haben Auswirkungen auf das eigene Verhalten, auf zwischenmenschliche Beziehungen, auf unser Denken und Handeln. Zumeist gehen diese mit negativen Emotionen, einer verzerrten Informationsverarbeitung und einem ungünstigen Selbstwert einher. Negative Glaubenssätze beeinflussen unser Leben, weil sie unser Selbstbild, unsere Entscheidungen und unsere Beziehungen unbewusst steuern. Diese Überzeugungen können dazu führen, dass wir Chancen verpassen, uns selbst sabotieren oder in destruktiven Mustern verharren. Sie limitieren unser Denken und verhindern persönliches Wachstum.
Warum sollten wir uns mit unseren Glaubenssätzen beschäftigen?
Wer seine negativen Glaubenssätze erkennt und bearbeitet, kann neue, konstruktive Denkweisen entwickeln. Dadurch entsteht mehr Selbstwirksamkeit, innere Freiheit und Lebensqualität. Besonders im Coaching oder in der Therapie ist die Arbeit mit Glaubenssätzen ein zentraler Hebel für nachhaltige Veränderung.
Welche typischen negativen Glaubenssätze begegnen Ihnen immer wieder?
Typische Glaubenssätze sind zum Beispiel „Ich bin nicht gut genug“, „Ich bin wertlos“, „Ich bin ein Versager“. Ich kategorisiere die Glaubenssätze in verschiedene Motive: Anerkennung, Wichtigkeit, Solidarität, Verlässlichkeit, Autonomie und Grenzen. Obige Glaubenssätze gehören zum Motiv Anerkennung. Ein Beziehungsglaubenssatz könnte hier „Ich werde nicht
um meiner selbst willen geliebt, sondern es gibt nur Liebe gegen Leistung“ sein.
Dies ist auch ein Muster, das viele Menschen kennen. Zum Motiv Wichtigkeit gehören zum Beispiel die Glaubenssätze „Ich bin anderen egal“, „Ich bin eine Belastung“. Dies sind alles Kernglaubenssätze, die sehr massiv sind und uns im Leben einschränken
und behindern.
Wie kommt man diesen mentalen Barrieren auf die Spur?
Negative Glaubenssätze zu erkennen, erfordert Achtsamkeit und die Bereitschaft zur Selbstreflexion. Oft zeigen sie sich in wiederkehrenden emotionalen Reaktionen, innerem Stress oder einschränkenden Lebensmustern. Ein hilfreicher Zugang ist, auf typische Gedanken wie „Ich bin nicht gut genug“ oder „Ich darf keine Fehler machen“ zu achten. In meiner Arbeit steht die Bearbeitung solcher dysfunktionalen Schemata im Zentrum. Diese werden im Coachingprozess gezielt herausgearbeitet, indem aktuelle Schwierigkeiten mit zugrunde liegenden Motiven, Bedürfnissen und Glaubenssätzen verknüpft werden. Ziel
ist es, ein tieferes Selbstverständnis zu entwickeln und dysfunktionale Muster zu verändern.
Gibt es auch positive Glaubenssätze, die blockieren können? Zum Beispiel, wenn ich in einem Umfeld arbeite, das mit meinen, für mich positiven Werten, nicht übereinstimmt?
Dahinter würde sich auch ein negativer Glaubenssatz verbergen, wenn Sie gegen Ihre Werte und Prinzipien handeln müssen. Das setzt Sie unter Druck, Sie fühlen sich zerrissen und der Glaubenssatz verfestigt sich: Um erfolgreich zu sein, muss ich meine eigenen Werte verraten. Auch das geht nicht lange gut ohne Nebenwirkungen. Die Werte sind zwar im Prinzip positiv formuliert, es entwickelt sich jedoch daraus ein negativer Glaubenssatz.
Aber es gibt auch positive Glaubenssätze in dem Sinne, dass sie überkompensatorisch sind, wie: I believe I can fly. Das merken diese Personen in der Regel aber nicht. Sie kämen nicht einmal auf die Idee, ihre Glaubenssätze mal zu bearbeiten. Wenn
man beispielsweise denkt, es ist mein gutes Recht, anderen zu drohen, dann ist es für diese Personen ja legitim, weil für sie unbewusst eine positive Überzeugung dahintersteht.
Welche Rolle spielen Glaubenssätze im beruflichen Kontext und wie sehr behindern sie die Potenzialentfaltung und die Karriereentwicklung von Menschen?
Negative Glaubenssätze können Menschen daran hindern, ihre beruflichen
Ziele zu erreichen. Wenn man in einer schwierigen Situation ist, kommen sie umso mehr zum Tragen. Alte Erinnerungen, alte Ängste zum Beispiel blockieren uns dann, unsere maximale Performance oder Leistungsfähigkeit auszuleben.
Kommen die Menschen eher zu Ihnen mit eben einem übergeordneten Problem oder sind sie sich ihrer Glaubenssätze schon bewusst und wollen daran arbeiten?
Die allerwenigsten Menschen sind sich ihrer hinderlichen Glaubenssätze bewusst, dies finden wir dann gemeinsam heraus.
Um welche Themen geht es da beispielsweise?
Zum Beispiel das Problem einer Führungskraft, einem Kollegen, der sich anderen gegenüber unverschämt und unfair verhält, nicht die Meinung sagen zu können, was sie aus ihrer hierarchischen Position heraus aber tun müsste. Diese Führungskraft war diesbezüglich wie gelähmt, bis wir den Glaubenssatz entdeckten, der dahintersteckte. Oder es gibt das Thema, nicht vor einem
größeren Publikum sprechen zu können, weil der Glaubenssatz „Ich gehöre nicht dazu“ es verhindert hat.
Was sollte HR über die mentalen Barrieren wissen?
Für den HR-Bereich ist das Verständnis negativer Glaubenssätze essenziell, da sie das Verhalten, die Leistungsfähigkeit und die Zusammenarbeit von Mitarbeitenden maßgeblich beeinflussen können. Glaubenssätze wie „Ich darf keine Schwäche zeigen“ oder „Ich bin nicht gut genug“ wirken oft unbewusst und können zu Stress, Konflikten oder innerer Kündigung führen. HR kann präventiv wirken, indem eine Kultur psychologischer Sicherheit gefördert wird, in der ein reflektierter Umgang mit eigenen Denkmustern möglich ist.
In der Führungskräfteentwicklung, im Coaching und den Feedbackprozessen können gezielte Impulse zur Selbstreflexion gegeben werden. Auch in Change-Prozessen ist das Wissen über individuelle und kollektive Glaubenssätze hilfreich, um Widerstände besser zu verstehen und aufzulösen. Werden diese Mechanismen erkannt und konstruktiv adressiert, entsteht mehr Offenheit, Lernbereitschaft und Entwicklungspotenzial im gesamten Unternehmen.
Viele Menschen stehen Digitalisierung und KI skeptisch gegenüber. Könnten auch hier mentale Barrieren die Ursache sein, warum in manchen Unternehmen die Transformation nicht gelingt?
Ängste blockieren. Die einen haben Angst, durch KI ersetzt zu werden, die anderen haben Angst, KI nicht zu verstehen. Wieder andere fühlen sich durch KI verfolgt und beobachtet. Es kommt auch auf das Persönlichkeitsprofil an, wie man mit Veränderung umgehen kann.
Viele Menschen haben den Grundsatz „Never change a running system“, vor allem wenn die Veränderung nicht von einem selbst kommt. Etwas Neues tun zu müssen, löst Angst aus. Gerade in Transformationsprozessen wäre es hilfreich und
wichtig, näher hinzuschauen, was die verschiedenen Ängste bei den Menschen auslöst. Auch diese sind oft auf Glaubenssätze zurückzuführen.
Wie könnten HR-Abteilungen das Thema Glaubenssätze gezielt in ihre Personalentwicklungsstrategie einbinden?
Erst einmal geht es um das entsprechende Mindset, damit man sich mit seinem Unterbewusstsein auseinandersetzen kann. Dies kann erst mal in Form von Vorträgen oder Seminaren stattfinden. HR müsste nach der eigenen Sensibilisierung das Thema an die Führungskräfte herantragen, damit sie diese Sichtweise zuerst bei sich selbst und dann bei den Teammitgliedern
anwenden können.
In welcher Größenordnung, schätzen Sie, werden Menschen im Arbeitsleben durch ihre Glaubenssätze eingeschränkt?
Da jeder Mensch negative Überzeugungen hat, kommt es darauf an, wie stark diese sind und welche Situationen sie zum Leben erwecken. Wenn Führungskräfte ihre Glaubenssätze überkompensieren, hat das sogar Auswirkungen auf gesamte Unternehmen oder Institutionen und kann die gesamte Kultur in eine bestimmte Richtung bewegen. Deshalb ist es für mich wichtig, mit der oberen Führungsriege zu arbeiten.
Sie haben zur Persönlichkeit von Topmanagern promoviert. Inwieweit prägt das Ihre Arbeit noch heute?
Ich habe über diese Arbeit verstanden, welchen Einfluss diese Menschen auf Unternehmen haben, weil sie mit ihrem Wertekanon, mit ihrem Netzwerken Vorbild sein sollen. Und manchmal sind sie es eben nicht, auch aufgrund ihrer inneren Glaubenssätze.
I believe I can fly?
I believe I can fly! Und das wirkt dann im ganzen Unternehmen. Werthaltungen und Verhaltensweisen von Führungskräften haben eine starke Signalwirkung auf die gesamte Organisation. Wenn eine Führungskraft offensiv Privilegien nutzt, wie etwa durch aufwendige Geschäftsessen oder einen überdimensionierten Dienstwagen, wirkt dies als implizite Botschaft: Regeln
gelten nicht für alle gleichermaßen.
In der Folge sinkt die Bereitschaft der Mitarbeitenden, sich mit Werten wie Nachhaltigkeit oder Kostenbewusstsein zu identifizieren und diese im Alltag umzusetzen. Authentisches, werteorientiertes Führungsverhalten ist daher entscheidend, um eine glaubwürdige und gelebte Unternehmenskultur zu fördern. Dass sich manche Menschen mehr erlauben, als sie anderen zugestehen, hat auch oft mit inneren Glaubenssätzen zu tun: Mir steht das zu, ich bin besser als andere – aber sie fühlen sich
doch irgendwie klein. Dann brauchen sie diese Überkompensation.
Wie scharf lassen sich Glaubenssätze von Vorurteilen trennen?
Ein Vorurteil ist eigentlich ein Symptom eines Glaubenssatzes. Ich denke gerade an rassistische Themen. Wenn
sich hier Vorurteile äußern, liegt es oft auch an den inneren Glaubenssätzen, die sich irgendwann mal, vielleicht
schon in der Familie, gebildet haben.
Können negative Glaubenssätze in positive gedreht werden?
Ja, das ist ganz wichtig. Einen negativen Glaubenssatz zu erkennen, reicht nicht aus. Es geht darum, mit der Person zusammen diese Situation und am Ende des Tages auch den Glaubenssatz komplett neu zu definieren. Es gibt zudem auch epigenetische Glaubenssätze, das heißt, wir erben unsere Glaubenssätze von unseren Eltern, Großeltern, Urgroßeltern. Insbesondere Studien über Nachkommen von Holocaust-Überlebenden haben gezeigt, dass Traumata und damit verbundene emotionale Muster wie Schuld, Angst oder Scham über Generationen hinweg weiterwirken können.
Die Forscherin Rachel Yehuda von der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York ist eine zentrale Figur in diesem Forschungsfeld. In einer Studie fand sie heraus, dass sowohl Holocaust-Überlebende als auch deren Kinder epigenetische Veränderungen am FKBP5-Gen, das mit der Stressverarbeitung in Verbindung steht, aufwiesen.
Diese Veränderungen beeinflussen die Regulation der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse (HPA-Achse), was zu einer erhöhten Vulnerabilität gegenüber Stress führen kann. Diese biologischen Spuren transgenerationaler Traumata können sich im Alltag als tief verankerte Glaubenssätze äußern, etwa in Form von überhöhter Verantwortungsübernahme, Existenzangst oder einem chronischen Gefühl von Schuld.
Psychologisch ergänzen systemische und transgenerationale Ansätze – etwa nach Anne Ancelin Schützenberger oder Mark Wolynn – diese Sichtweise, indem sie zeigen, wie unausgesprochene familiäre Loyalitäten und unbewusste Identifikationen
zur Bildung und Weitergabe solcher Glaubenssätze beitragen.
Inwieweit können sich Glaubenssätze auch in einer politischen Richtung äußern?
Gerade Glaubenssätze zum Thema Schuld können sich in einer Gesellschaft äußern. Die Forschung bestätigt das. Bei diesem Thema, das von den Großeltern kommt, reicht es nicht, nur an sich selbst zu arbeiten, sondern man muss tiefer und weiter zurückgehen, um es aufzulösen. Dies würde den Wertekanon der Person nicht angreifen, zugleich spürt die Person die Last
nicht mehr. Die Schuld beeinflusst das Leben nicht mehr negativ – ohne die zu verleugnen.
Lassen sich Glaubenssätze in einer Gesellschaft verschieben?
Da müsste man mit sehr vielen Menschen arbeiten, aber selbstverständlich lassen sie sich auch durch Politik verschieben. Ich habe noch nie mit einem Politiker gearbeitet. Ich würde es mir mal wünschen.
Über die Gesprächspartnerin: Dr. Annelen Collatz arbeitet als selbstständiger Executive Coach sowie als sportpsychologischer Coach. Sie studierte Wirtschafts- und Klinische Psychologie sowie Arbeitswissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum. Danach entwickelte sie an der Fakultät für Psychologie, AE-Methodenlehre, Diagnostik und Evaluation zwischen 1996 und 2012 Testverfahren zu Themen wie Persönlichkeit, Führung, Mitarbeiterzufriedenheit und Organisationsklima. Auf ihre Promotion zum Thema Persönlichkeit von Topmanagern folgte die Ausbildung zur klärungsorientierten Psychotherapeutin sowie zur klinischen Hypnosetherapeutin nach Milton Erickson.
Im Rahmen ihrer Arbeit kombiniert die Diplom-Psychologin wissenschaftliche und klinische Expertise und wendet diese im Wirtschaftskontext an. Collatz begleitet seit 2012 die deutsche Ruder-Nationalmannschaft („Deutschland-Achter“) und im
Einzel-Coaching auch Olympiasieger Oliver Zeidler. Sie ist Autorin und CoAutorin von sechs Büchern. Zuletzt erschien 2025 von ihr als Mitautorin im Hogrefe Verlag Negative Glaubenssätze aufspüren und verändern. 120 Karten für Beratung, Coaching und Therapie.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Struktur. Das Heft können Sie hier bestellen.