Es gibt da dieses erstaunliche Phänomen. Man nehme eine Bürste, einen Stift oder ein anderes Objekt, das mit ein bisschen Fantasie einem Mikrofon ähnelt, und halte es jemandem vors Gesicht. Jetzt in journalistischer Manier eine beliebige Frage stellen. Na, beobachten Sie eine leichte Nervosität, stellt sich das Gegenüber etwas gerader hin, antwortet ein bisschen lauter als normal – obwohl ihm oder ihr natürlich klar ist, nicht wirklich ein Interview vor der Weltöffentlichkeit zu geben? Ja, manchmal reichen schon kleine Gesten aus, um jemandem zu demonstrieren: Du bist sichtbar.
Menschen wünschen sich in der Regel, dass ihr Tun gesehen wird. Dass andere ihnen Feedback geben. Laut einer Studie der Hochschule Niederrhein aus dem vergangenen Jahr hat sich der Wunsch von Arbeitnehmenden nach Kommunikation auf Augenhöhe mit Führungskräften sowie nach Wertschätzung und Anerkennung seit 2015 drastisch verstärkt. Gleichzeitig – und das ist kein Widerspruch – scheuen viele die große Bühne, wollen die Rückmeldung lieber im vertraulichen Gespräch.
Und dann entscheidet auch das eigene Arbeitsfeld oft darüber, wie sehr man im Rampenlicht steht. „Innerhalb des Konzerns ist nicht so richtig sichtbar, was mein Team alles bewirkt“, sagt zum Beispiel Tamara Rehmer. „Wir arbeiten eher unter Deck.“ Rehmer ist Teamleiterin Technik, First-Line VoIP, Deutsche Telekom. Im sogenannten Incident Management beheben ihre 30 Mitarbeitenden in Schichtdiensten technische Probleme im Netzbetrieb. Das heißt: Wenn alles rund läuft, fällt diese wertvolle Arbeit im Konzern nicht weiter auf. Rehmer grübelte, wie sie die Verdienste der Einzelnen stärker ins Rampenlicht rücken könnte. Als ihr Vorgesetzter sie und andere Teamleitungen 2018 aufrief, jeweils eine strategische Neuerung einzuführen, wagte sie ein besonderes Experiment: Jede und jeder aus ihren Teams sollte im Folgejahr bei Interesse die Gelegenheit bekommen, Rehmers Aufgaben zu übernehmen und „Führungskraft für einen Monat“ zu werden.
Den Scheinwerfer aufstellen
„Da waren so viele motivierte Leute um mich herum, die nach mehr Verantwortung lechzten. Ich wollte sie in den Vordergrund treten lassen“, erklärt Rehmer heute, vier Jahre später, die Idee. Die Mitarbeitenden waren angetan. Manche preschten gleich vor, wollten am liebsten schon den Januar übernehmen. Andere hielten sich im Hintergrund, akzeptierten aber, dass jemand aus ihrer Hierarchieebene die Leitung übernahm. Wer auch immer die Position einnahm, durfte gemeinsam mit Rehmer an Meetings mit höheren Führungsebenen teilnehmen und Reformen einführen. Dabei wurden ungeahnte Fähigkeiten sichtbar, wie sie erzählt: „Ein Kollege entpuppte sich als toller Redner, als er unseren Vorstandsmitgliedern unsere Aufgaben und Lösungsansätze erklärte. Ein anderer tüftelte während seines Monats als Chef ein kluges neues System zur technischen Ticketauswertung aus.“ Wie sie geahnt hatte: Es hatten viele unentdeckte Talente in ihrem Team geschlummert. Mit ihrem Experiment hatte Rehmer nun einen Scheinwerfer aufgestellt, der sich genau darauf richtete.
Die Teamchefin selbst hielt sich über das Jahr im Hintergrund, coachte und beriet ihre temporären Vertretungskräfte. „Ich beobachte Erfolge gerne aus der zweiten Reihe“, sagt sie. Und doch war es am Anfang nicht ganz leicht loszulassen, zumal kleinere Pannen nicht ausblieben – wenn etwa die Monatsführungskraft ein Problem zu schnell nach oben eskalierte oder interne Debatten zu emotional führte. „In solchen Momenten habe ich kurz gezuckt und dann die Situation mit der Person in Ruhe durchgesprochen, erklärt, wie es anders geht.“ Sie habe selbst während dieser Zeit viel Anerkennung für HR gewonnen, sagt die Teamchefin. „Es ist extrem anspruchsvoll, Menschen zu coachen und zu befähigen.“
HR: A Seat at the Table
Wo wir bei der Sichtbarkeit von HR wären. Oder genauer: der Sichtbarkeit des Werts, den das Personalmanagement in Unternehmen schafft, der nicht immer vollumfänglich in Zahlen zu bemessen ist. An Scheinwerfern und Mikrofonen fehlt es oft noch immer: In vielen Vorständen ist bislang kein Stuhl für HR vorgesehen. Beim Automobilzulieferer Leoni, einem global agierenden Hidden Champion mit Hauptsitz in Nürnberg, war das lange auch so. Vor einem Jahr hat sich das aber geändert – mit dem Eintritt von Ursula Biernert als Chief Human Resources Officer und Arbeitsdirektorin. Kommt der erhöhte Stellenwert von Personalbelangen – in Biernerts Aufgabenzuschnitt verknüpft mit Nachhaltigkeitsthemen – bei den Menschen an? „Definitiv, Sie hören von mir ein Ja mit drei Ausrufezeichen“, sagt die CHRO entschieden. „Ein Seat at the Table, wie es in den USA so schön heißt, bringt nicht nur mehr Einfluss mit sich, sondern auch eine enorme Sichtbarkeit von HR, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Unternehmens.“
Für Leoni arbeiten mehr als 100.000 Menschen aus 28 Ländern, und das erfordert einiges an People Management. Für Biernert bedeutet das auch, dass sie persönlich sichtbar und nahbar sein möchte, es den Menschen im Unternehmen erleichtern will, mit ihr und miteinander in Kontakt zu treten. Als ein Vehikel dafür nutzt sie Linkedin. Neuigkeiten zu Personal-, Führungs- und Nachhaltigkeitsthemen postet sie meist auf Deutsch und Englisch, um möglichst viele Mitarbeitende zu erreichen. „Natürlich kann mich jeder per E-Mail anschreiben“, sagt sie. „Aber ein Post in solchen Netzwerken – zu einem Purpose-Thema, einer kleinen Geschichte, oder einem Event – kann ein Türöffner sein, sich auszutauschen, die Hemmschwelle für Einzelne senken, sich einzubringen, ihre Meinung sichtbar zu machen.“ Sie sieht sich als eine Art Markenbotschafterin für Leoni – und nicht nur sich selbst. Natürlich sei es wichtig, welche Werte, welche Kultur und welche Themen die Vorstandsmitglieder nach außen transportierten. „Aber im Prinzip sind alle Beschäftigten, die sich als Teil eines Unternehmens zu erkennen geben, automatisch Markenbotschafterinnen und -botschafter. Und wir möchten sie auch dazu ermuntern, sich zu vernetzen und sichtbar zu machen, dass sie Teil der Leoni-Familie sind.“
Bei vielen Arbeitgebern ist diese Art des Sichtbarmachens von Angestellten weiter auf dem Vormarsch. Die Kommunikations- und Strategieberaterin Kerstin Hoffmann beschäftigt sich seit mehr als zehn Jahren mit dem Thema Corporate Influencer, die Nachfrage wächst, wie sie sagt. Mit der Pandemie hat dieser Faktor nochmals an Relevanz gewonnen: Wie unverzichtbar digitale Kanäle sind, haben jetzt auch die meisten derjenigen begriffen, die Social Media bisher noch skeptisch gegenüberstanden. Hoffmann sagt: „Den Entscheiderinnen und Entscheidern in Unternehmen wird immer stärker klar, dass man das Thema gar nicht vermeiden kann. Es gibt immer Mitarbeiter-Markenbotschafter, gleich wie man sie nennt. Weil Beschäftigte über ihre Erfahrungen im Job sprechen und in digitalen Medien zunehmend sichtbar sind. Sobald Menschen als Unternehmensangehörige erkennbar sind, wirken sich ihre Äußerungen und Handlungen auf die Marke aus.“
Corporate Influencer: die Extradosis Sichtbarkeit
Die Frage ist also nur: Gestalten die Beteiligten ihre Rolle hier bewusst und werden dabei vom Arbeitgeber unterstützt – oder überlassen sie es dem Zufall, wer mit welchen Aussagen im Lichtkegel steht? „Das ist ein entscheidendes Thema, das definitiv nicht in die Orchideenecke gehört“, sagt Hoffmann. Sichtbarkeit für die Arbeitgebermarke lässt sich gut über starke Persönlichkeiten aus den eigenen Reihen generieren. Bislang haben vor allem große Unternehmen die Personalstärke, umfangreiche Programme umzusetzen – an Hoffmann wenden sich aber auch viele mittelständische Arbeitgeber und neuerdings auch Behörden. Corporate-Influencer-Strategien gibt es in den verschiedensten Abstufungen und Formen – vom Schaffen grundlegender Social-Media-Richtlinien bis hin etwa zu konkret benannten Jobbotschafterinnen und -botschaftern wie etwa bei der Otto Group.
Am wichtigsten für ein gelingendes Corporate-Influencer-Projekt sind laut Hoffmann: Wertschätzung, Unterstützung – und Vertrauen. Es geht eben nicht darum, die Influencer genauestens zu briefen, um sie als PR-Kanäle zu instrumentalisieren. HR und Kommunikation müssen lernen zuzulassen, dass sich die Persönlichkeiten aus dem Unternehmen mit der Pluralität ihrer Stimmen in den internen und externen Diskurs einbringen. „Steuerung ist eine Illusion, man kann und sollte nur unterstützen“, sagt Beraterin Hoffmann. Und Arbeitgeber sollten sich überlegen, ob und in welchem Umfang sie konkrete Programme aufsetzen möchten, ob sie zunächst nur einige Corporate Influencer in ein Pilotprojekt aufnehmen oder ob sie gleich eine breite Basis schaffen, auf der sich alle Mitarbeitenden als Markenbotschafter verstehen.
Eine typische Befürchtung vieler Arbeitgeber: die Beschäftigten könnten sich unbedacht oder gar negativ über das Unternehmen äußern. Doch je besser die Kultur, desto unwahrscheinlicher ist das. Eine andere Sorge ist laut Hoffmann: „Uns werden die guten Leute abgeworben, wenn sie zu sichtbar sind.“ Doch die Expertin kann hier beruhigen: Corporate-Influencer-Programme steigern erfahrungsgemäß eher die Identifikation mit dem Arbeitgeber. Ruft ein Unternehmen ein Programm ins Leben, müssen erst einmal passende Mitwirkende gefunden werden. Hier kann ein Aufruf innerhalb des Unternehmens helfen. Oft neigen die Verantwortlichen dazu, den Blick erst einmal nur auf solche Personen zu richten, die bereits über eine große Reichweite verfügen und viel Social-Media-Erfahrung haben. Das ist nicht immer die beste Strategie, findet die Expertin: „Wenn man zusätzlich Menschen in das Projekt einbindet, die sich noch nicht so auskennen oder Social Media sogar kritisch gegenüberstehen, dann kann man viel mehr lernen.“ Es geht zudem nicht darum, ab Tag eins jede Menge Content zu produzieren – manchmal ist gezieltes und unaufgeregtes Netzwerken ohnehin am wirkungsvollsten.
Ein Experiment mit Folgen
Generell gilt: Entscheidend ist nicht, wer am lautesten kommuniziert oder am meisten Aufmerksamkeit auf sich zieht. Auch wer sich lieber im Hintergrund hält, anderen zuhört und sie unterstützt, kann die Kultur eines Unternehmens mitunter exzellent verkörpern und transportieren – Ängste, in einer eher stilleren Rolle unsichtbar zu werden, sind oft unbegründet.
So war es auch bei Teamchefin Tamara Rehmer während ihres selbsterdachten Führungsrollentauschs bei der Telekom. „Eine meiner Vertretungen hat einen so guten Job gemacht, dass ein anderer Teamleiter auch Monate später immer ihn angerufen hat – und nicht mehr mich“, erinnert sich Rehmer. „Das hat mich einerseits gefreut, andererseits dachte ich mir: Wenn das jetzt überall so läuft und mich niemand mehr als eigentliche Ansprechpartnerin wahrnimmt, habe ich mir ein Eigentor geschossen.“
So kam es nicht, ihre Coachingfunktion wurde honoriert, nach dem Jahr kehrte sie in ihre Ursprungsrolle zurück. Was sie besonders stolz macht, ist, dass ihr Experiment Früchte getragen hat: Durch ihren Monat als temporäre Führungskräfte sind deutliche Führungsqualitäten bei vier der Teammitgliedern sichtbar geworden. Rehmer förderte sie weiter, übergab ihnen mehr Verantwortung. Nun wurden den Vieren offizielle Führungsrollen angeboten, die sie zum Jahresbeginn 2023 übernommen haben. Ohne ihren Monat im Rampenlicht wäre es womöglich nie dazu gekommen, schätzt Rehmer. Das Experiment, glaubt sie, hat ihnen einen Schub versetzt, einen Ansporn gegeben, auf dieser Anerkennung aufzubauen. Die Sichtbarkeit hat ihre Magie entfaltet.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Sichtbarkeit. Das Heft können Sie hier bestellen.