Mehr Tempo, weniger Pausen. Der Druck, immer mehr in immer kürzerer Zeit zu schaffen, prägt den Alltag vieler Menschen. Erschöpfung hat sich längst zu einem verbreiteten Phänomen entwickelt – und es trifft nicht nur einige wenige.
Wie stark diese Belastung tatsächlich ist, zeigt die Studie Erschöpfung 2024: „Erschöpfung ist zur gesellschaftlichen Dimension geworden“, schreiben die Autorinnen und Autoren. Die Beratung Auctority befragte mit Civey 5.000 Personen aus der Gesamtbevölkerung und vertiefend 2.500 Erwerbstätige: Auf einer Skala von 0 bis 10 – wie erschöpft haben Sie sich in den letzten drei Monaten gefühlt? „Wir wählten bewusst eine längerfristige Perspektive, um die allgemeine Grundstimmung der Befragten zu erfassen“, erklärt Andreas Scheuermann von Auctority und Mitautor der Studie. Das Ergebnis der Umfrage: Über 55 Prozent der Befragten fühlten sich erschöpft.
Das ist neuer Höchstwert. Bereits bei jungen Menschen zwischen 18 und 29 Jahren ist die Erschöpfung deutlich spürbar (58 %). Sie erreicht zwischen dem 30. und 39. Lebensjahr ihren Höhepunkt. In der sogenannten Rush Hour of Life gründen viele Menschen eine Familie, übernehmen im Job das erste Mal Führungsverantwortung oder kümmern sich um ältere Angehörige. Zunehmend gewinnt auch „die allgemeine politische Situation“ als Erschöpfungsfaktor an Bedeutung. Der Anteil stieg im Vergleich zum Vorjahr um sieben Prozentpunkte auf 37,1 Prozent an. „Das ist eine Dimension, die Unternehmen nicht länger ignorieren können“, sagt Scheuermann.
„Es braucht eine stabilisierende Umgebung in Organisationen, Themen wie Inklusion und Verständigung sind entscheidend.“ Daneben zählen „gesundheitliche Gründe“ (38 %) und „berufliche Belastungen“ (24,6 %) zu den drei häufigsten Erschöpfungsursachen.
Viele Erschöpfungsfaktoren
„Erschöpfung entsteht durch wiederholte oder langfristige Belastung am Arbeitsplatz und beeinträchtigt die Leistungsfähigkeit nachhaltig“, sagt Johannes Wendsche. Der promovierte Arbeitspsychologe forscht an der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) zu psychischer Gesundheit am Arbeitsplatz. „Im Laufe des Tags treten immer wieder Beanspruchungsfolgen auf“, meint Wendsche.
Problematisch sei es, wenn anschließend nicht genügend Erholung stattfinde. So entstehe Erschöpfung. Dabei muss aus klinischer Sicht die durch Arbeitsbelastungen verursachte Erschöpfung von Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen wie Depressionen, Anpassungsstörungen oder chronischer Müdigkeit unterschieden werden. Unsere Arbeitswelt wimmelt von Faktoren, die Erschöpfung begünstigen können: Multitasking, häufige Arbeitsunterbrechungen durch E-Mails oder Kollegen, Überstunden und fehlende Pausen. „Auch die verstärkte Selbststeuerung fordert die Beschäftigten zunehmend“, sagt Wendsche.
Sie müssten ihre Arbeitsweise selbst organisieren und kontrollieren. Im schlimmsten Fall ein Einfallstor für Selbstausbeutung. Insbesondere bei der Arbeit im Homeoffice fühlen sich einige Beschäftigte gezwungen, noch mehr leisten zu müssen. Die Arbeit sei entgrenzt, jederzeit verfügbar und Erholungsphasen würden aus eigenem Antrieb unterbrochen. Besonders erschöpfend sei die zunehmende Arbeitsverdichtung: immer mehr Aufgaben in immer weniger Zeit.
Über 45 Prozent der Erwerbstätigen nannten „weniger sinnlose Arbeit“ als wichtigsten Faktor in der AuctorityStudie, um beruflicher Erschöpfung entgegenzuwirken. Es folgt „geringeres Arbeitspensum“ (31,7 %) auf Platz zwei. „Es ist bemerkenswert, dass viele Menschen den Sinn ihrer Tätigkeit stärker hinterfragen als das Arbeitspensum“, sagt Scheuermann dazu.
Mikromanagement untergräbt Autonomie
„Die Wissenschaft ist sich bisher uneins, ob Sinn ein eigenes Grundbedürfnis darstellt oder ein Nebenprodukt der psychologischen Grundbedürfnisse Autonomie, Bindung und Kompetenzerleben ist“, erklärt Psychologe Nico Rose.
Die Bedeutung für gesundes und motiviertes Arbeiten bleibe aber unbestritten. Rose beschreibt Sinn als wichtigen „Meta Motivator“. „Ohne Sinn verlieren Menschen schnell den Antrieb – das zieht den Stecker aus allen anderen Energiequellen.“ Sinnerleben und Motivation können also nicht gefordert, nur gefördert werden. „Menschen brauchen Verbundenheit und Resonanz, sei es mit der Führungskraft oder im Team“, sagt Rose.
Ein Arbeitsumfeld, das positive soziale Beziehungen fördert, trage wesentlich zur Motivation bei. Außerdem bräuchten Mitarbeitende das Gefühl, selbstbestimmt arbeiten zu können. Demnach sollten Führungskräfte hierfür einen klaren Rahmen schaffen und insbesondere darauf achten, Autonomie nicht durch Mikromanagement zu untergraben. „Das Bedürfnis, sich weiterzuentwickeln, ist tief in uns verwurzelt“, sagt Rose. Um das Bedürfnis nach Kompetenzerleben zu befriedigen, sollten Aufgaben den Kompetenzen der Mitarbeitenden entsprechen.
Laut Rose übersehen Führungskräfte bei der Mitarbeitermotivation oft einen entscheidenden Punkt: ob sich Menschen ein Ziel wirklich zu eigen machen. „Wenn den Mitarbeitenden das Unternehmensziel egal ist, ist es völlig irrelevant, wie das Ziel im Endeffekt formuliert ist.“ Damit aus einer beruflichen Aufgabe ein persönliches Anliegen wird, braucht es die Fähigkeit, einen Sinn hinter dem Ziel aufzuzeigen, der für jeden Einzelnen relevant ist. „Die Vorstellung, dass sich Menschen von außen dauerhaft motivieren lassen, ist völliger Unsinn.
Dafür gibt es keine wissenschaftliche Grundlage“, sagt Rose. Viele Motivationsseminare und -trainer sieht er deshalb kritisch. Vielmehr würde es an den Führungskräften liegen, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht zu demotivieren.
Anstrengung muss sich lohnen
Erschöpfung muss nicht immer negativ sein. Aus der Sicht von Christina Guthier, promovierte Arbeitspsychologin, Beraterin und Mitautorin der Auctority-Studie, „muss Erschöpfung nicht zwangsläufig zu vermindertem Wohlbefinden führen“. Entscheidend sei vielmehr, ob Menschen das Gefühl hätten, dass sich ihre Anstrengungen gelohnt hätten. „Lohnen sich die Anstrengungen für uns, können wir uns gleichzeitig freudig und erschöpft – joyfully exhausted – fühlen“.
In einer 2020 veröffentlichten Meta-Analyse hat Guthier gemeinsam mit ihren Kollegen Christian Dormann und Manuel Voelkle den Zusammenhang zwischen Arbeitsstressoren und Erschöpfung sowie Zynismus untersucht. Die Ergebnisse zeigen: Arbeitsstressoren erhöhen die Erschöpfung. Gleichzeitig steigert die Erschöpfung die Arbeitsstressoren. Dabei ist der Effekt der Erschöpfung auf die Arbeitsstressoren sogar deutlich stärker als der Effekt der Arbeitsstressoren auf die Erschöpfung.
Besonders interessant sei, dass der Effekt von Erschöpfung auf Arbeitsstressoren in Ländern mit mehr sozialer Unterstützung und Autonomie am Arbeitsplatz schwächer ausfiel. Soziale Unterstützung und Autonomie sind also wichtig, um negative Folgen von Erschöpfung einzudämmen. Zusätzlich sind, nach Guthier, auch Erholung und Wertschätzung entscheidend, um gesundheitlichen Risiken durch Erschöpfung vorzubeugen. „Beides hilft, die für Anstrengungen aufgebrachte Energie wieder aufzufüllen.“
Dabei ist es wichtig, dass jeder für sich herausfindet, welche Erholungsaktivität bei welcher Art von Erschöpfung am besten wirkt. Zur Wertschätzung betont Guthier, dass „es entscheidend ist, die individuellen Anstrengungen zu sehen und schätzen. Beschränkt sich die Wertschätzung auf ein Lob nach erfolgreich erbrachter Leistung, kann dies als wenig wertschätzend aufgefasst werden.“
Mehr Pausen einlegen
Auch wenn Anstrengungen als lohnend empfunden werden, ist es wichtig, für ausreichend Erholung zu sorgen. Gerade wenn man sich im Arbeitsfluss befindet, kann es besonders schwierig sein, körperliche Anstrengungen wahrzunehmen und ausreichend Erholungsaktivitäten wie Pausen einzubauen. Ohne ausreichende Erholung über einen längeren Zeitraum können Anstrengungen, auch wenn sie als lohnend empfunden werden, zu Erschöpfung und damit zu gesundheitlichen Risiken führen.
„Erholungspausen sollten fest in den Arbeitsalltag eingeplant werden, da die Warnsignale für Erschöpfung oft übersehen werden“, meint auch Johannes Wendsche vom BAuA. Besonders in wissensbasierten Berufen nehmen viele Menschen die Erschöpfung im Tagesverlauf kaum wahr.
In Kombination mit der stetigen Arbeitsverfügbarkeit und dem zunehmenden Tempo überhören viele ihre inneren Signale. Für eine erholsame Pause hat Wendsche eine Faustregel: das Gegenteil von dem tun, was bei der Arbeit getan wird. Bewegung nach langem Sitzen, Entspannung nach körperlicher Arbeit, gedankliches Loslassen nach intensiver Denkarbeit.
Dabei seien kurze, regelmäßige Pausen effektiver als lange. Ermüdung als Vorläufer der Erschöpfung steigt mit zunehmender Arbeitsdauer exponentiell an, nimmt aber in Erholungsphasen auch entsprechend ab. Der Irrtum, dass To-do-Listen helfen, Aufgaben aus dem Kopf zu bekommen, wird durch den Zeigarnik-Effekt widerlegt – unerledigte Aufgaben bleiben mental präsent. Realistische Arbeitsziele helfen also, nach Feierabend besser abzuschalten.
Ganzheitlicher Arbeitsschutz
Erschöpfung ist immer ein Alarmzeichen. In Deutschland gibt es einige Gesetze, die Beschäftigte davor schützen sollen, zum Beispiel das Arbeitszeitgesetz oder das Arbeitsschutzgesetz. Letzteres verpflichtet Arbeitgeber, Gefährdungsbeurteilungen durchzuführen.
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Auch für psychische Belastungen, die zu Erschöpfung führen können. „In großen Unternehmen wird das oft recht gut umgesetzt“, sagt Wendsche, „aber in kleineren Betrieben fehlen häufig die nötigen Strukturen.“ Viele Maßnahmen können bei Erschöpfung helfen. „Achtsamkeitstrainings funktionieren sehr gut“, sagt der Arbeitspsychologe. Auch Trainings und Coachings zu Schlafhygiene und Boundary-Management sind wirkungsvoll. Organisationen können dabei oft auf Angebote der Krankenkassen zurückgreifen. Doch solche externen Maßnahmen lösen das Grundproblem nicht. Arbeitgeber sollten deshalb die gesetzlichen Vorgaben ernst nehmen, auch um einem Teufelskreis an Schuldzuweisungen für chronische Erschöpfungszustände der Mitarbeiter vorzubeugen. Besser sei es, Ursachen für und Maßnahmen gegen Erschöpfung systematisch in den Blick zu nehmen. Treiber für Zeitdruck müssen beseitigt und ie Kompetenzen der Mitarbeitenden im
Umgang damit gestärkt werden.
Denn ohne entsprechende Rahmenbedingungen schützt auch das beste Zeitmanagementtraining nicht vor erschöpfungsbedingten Krankschreibungen. Kluge Vorsorge zahle sich deshalb aus. Die richtige Balance zwischen Belastung und Erholung zu finden, ist keine leichte, aber eine notwendige Aufgabe. Gesunde Arbeitsumgebungen können wir auf Dauer nur durch verantwortungsvolle Arbeitsbedingungen schaffen, die Sinn und Motivation fördern und so vor Überforderung schützen. Denn erst dort, wo Erschöpfung nicht der Preis für Erfolg ist, entsteht wahre Leistungsfähigkeit.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Performance. Das Heft können Sie hier bestellen.