Wer am Hauptbahnhof Wien aussteigt und fünf Kilometer gen Westen fährt, weg von der Donau, hin zum Wienerwald, stößt wenige Schritte vor dem Park Schönbrunn auf die internationale Geschichte des Pharmariesen Boehringer Ingelheim. Zwei hohe Schlote prangen im Gelände, auf dem sich mehr als zehn Gebäude erstrecken. Einige haben zwei Etagen, andere neun, einige Fronten sind aus Glas, andere aus Beton. Sukzessive ist der Standort gewachsen, der 1948 die erste Auslandsniederlassung des Unternehmens war, damals im Hinterhof einer Apotheke. Heute steuert der Standort Wien 33 Länder. Über 130 Märkte bedient der Konzern weltweit. Er hat mehr als 53.500 Mitarbeitende, ist umsatzstärker als Bayer und ist bis heute in der Hand der Familie, deren Name und Heimat im Logo steht.
Albert Boehringer gründete das Unternehmen 1885 in Nieder-Ingelheim, inzwischen eingemeindet in Ingelheim, der „Rotweinstadt“ am Rhein zwischen Bingen und Mainz. Mit Blick auf die Weinberge des Rheingaus und Rheinhessens liegt die Zentrale für über 9.000 Angestellte, in der auch die vierte Generation der Unternehmerfamilie sitzt: Christian Boehringer, Vorsitzender des Gesellschafterausschusses, und Hubertus von Baumbach, seit 2016 Vorstandsvorsitzender des Konzerns. „Die Familie holt sich die Macht über die Milliarden zurück“, titelte das Manager Magazin zur Personalia. Inzwischen ist das zweitrangig, von Baumbach gilt als der Manager, der Boehringer Ingelheim an die Spitze geführt hat.
Durch Forschung und Zukäufe gehört es zu den 20 führenden Pharmakonzernen der Welt. Standbeine im Ausland seien wichtig, gerade in den USA, um in der Branche zu bestehen, sagt Sven Sommerlatte, Chief Human Resources Officer von Boehringer Ingelheim. Nach wie vor investiere das Unternehmen stark in Deutschland, bis heute ist Biberach das größte Forschungszentrum und Ingelheim der größte Standort weltweit. „Langfristig und für Generationen“ steht im Leitbild des Unternehmens. „Das begründet, warum wir anders als ein börsennotiertes Unternehmen einen stärkeren Schwerpunkt auf die Werte und das Wohl der Mitarbeitenden legen“, sagt er.
53.500 Familienmitglieder weltweit
Josef Baader sitzt auf der Fitnessmaschine im Sportcenter. Vor seinen Schultern liegen zwei Polster, Gewichte leisten Widerstand. Er muss Druck ausüben, um sich nach links und rechts zu drehen. Langsam bewegt er seinen Oberkörper. Eine Trainerin leitet ihn an. „Making more health“ steht auf seinem T-Shirt. So zeigt der SWR, wie sich Boehringer Ingelheim für die Gesundheit seiner Mitarbeitenden engagiert.
Schon Albert Boehringer habe Angestellten eine Krankenversicherung, Urlaub und Rente geboten, schreibt das Unternehmen auf seiner Website. „Eine globale Familie mit zukunftsträchtigen Idealen“, nennt es sich. Heute gibt es ein „Wellbeing Programm“ für körperliches, mentales, soziales und finanzielles Wohlbefinden, sagt Sommerlatte. Gesundes Essen gehöre dazu: Die Kantine in Ingelheim hält den Preis als beste im Land. „Attraktive Bürolandschaften“ sollen das soziale Gefüge stärken, eine Leadership Academy Stress verhindern und „gute Führung sicherstellen“. Es gibt eine Universität mit virtuellem Campus, eine Karriereberatung und die Möglichkeit, den Standort zu wechseln, sei es dauerhaft oder auf Zeit.
7.000 Personalbewegungen managt Boehringer Ingelheim pro Jahr, sagt Sommerlatte, darunter 3.000 Beförderungen und 4.500 Neueinstellungen. 90 Millionen Euro investiere es in die Entwicklung seiner Mitarbeitenden. „Weil wir nicht von Launen der Finanzmärkte abhängig sind, können wir Programme nachhaltig umsetzen, ohne Angst zu haben, dass sie plötzlich wieder eingestampft werden, weil wir Zahlen kurzfristig aufbessern sollen“, sagt er.
Im US-amerikanischen Ridgefield: Weiße Tonscherben bilden den Rahmen für ein quadratisches Mosaik, das an der Wand aufgebaut ist. Schwarze Rechtecke zeigen Ränder für fünf Blätter. Sie sind jeweils zur Hälfte mit bunten Steinen beklebt: gelb, lila, orange, blau und grün. In jeder Mitte steht ein Wert. Ein Mann greift vor dem Mosaik eine Scherbe und steckt sie in das lilafarbene Feld: „Innovate and drive change“.
Das Mosaik in Connecticut ist eine Aktion im Rahmen des „VTI Day“, den Boehringer Ingelheim einmal im Jahr an allen Standorten begeht. VTI steht für „Value Through Innovation“. Das Motto wechselt, im Zentrum steht immer die Unternehmenskultur. 2024 war es ein neues Kompetenzmodell: fünf Felder mit einer Stärke und einem Ausbaupotenzial, in Ridgefield dargestellt als Mosaik mit fünf Blättern. Man sei zwar innovativ, müsse Märkte aber stärker gestalten. Die Zusammenarbeit im Unternehmen sei gut, zum Teil seien in Projektteams jedoch zu viele Personen eingebunden, was Entscheidungen bisweilen verzögere. Das sind zwei der fünf Punkte.
Jeder Ort konnte selbst entscheiden, wie er das Modell zeigt und diskutiert. Argentinien nutzte Lichtinstallationen, Italien pflanzte Kräuter und Deutschland legte einen Pfad über den Campus in Ingelheim. „Es ist wichtig, dass wir in die Pflege der Unternehmenskultur investieren, da sie genau darauf einzahlt, was uns auszeichnet: die Langfristigkeit und Nachhaltigkeit, für die wir als Familienunternehmen stehen“, sagt Sommerlatte.
Hidden Champion in Mexiko
230 Kilometer nördlich von Mexiko-Stadt liegt der Industriepark Querétaro. In einer der großen Hallen lagern Plastikcontainer mit Lösungsmitteln und Farben. Wer davor steht, sieht links an der Wand das Bild der Heiligen Mutter Maria, direkt über dem Notausgang. Kurz davor hängt an fünf Stahlringen von der Decke eine vier mal vier Meter große Plane. „Führungsmission und Zusammenarbeit“ steht darauf. Sieben Punkte folgen: Vorbild zu sein, nach Lösungen zu suchen oder Dankbarkeit zu zeigen etwa. Alle Punkte haben ein Symbol: eine Sonne, einen Stern oder ein Herz, das über einer Handfläche schwebt.
Die Halle gehört zum deutschen Familienunternehmen Peter Lacke. Das Unternehmen entwickelt und produziert seit 1906 Lacksysteme, seit 1998 weltweit. Wer den Namen nicht kennt: Die Produkte sind überall. Sie dienen als Überzug bei Autos, Fernsehern, Kaffeemaschinen, für Flaschen, Gläser und Lippenstifte. Peter Lacke ist das, was die Wirtschaft einen „Hidden Champion“ nennt: ein Mittelständler aus der Provinz, in der Nische weltweit erfolgreich, aber nicht unbedingt bekannt.
Die Zentrale von Peter Lacke liegt in Hiddenhausen, einer Kleinstadt in Ostwestfalen. Das Unternehmen ist wie eine Holding aufgebaut. Es hat neun Tochtergesellschaften, 700 Mitarbeitende, macht gut 160 Millionen Euro Jahresumsatz und gehört damit zu den größeren Familienunternehmen im Land. 90 Prozent setzen laut Statistik der Stiftung Familienunternehmen unter einer Millionen Euro pro Jahr um. 25,6 Milliarden waren es im Jahr 2023 übrigens bei Boehringer Ingelheim.
David Peter hat die Firma 2015 übernommen, da war er 30 Jahre alt. Die Stabübergabe fand im Museum Marta statt, ein von Frank O. Gehry designtes Haus mit runden Wänden aus rotem Backstein und mit geschwungenen Dächern aus Edelstahl. „Es ist wie beim Schwimmen: Irgendwann musst du vom Bock springen und anfangen zu kraulen“, habe sein Vater gesagt, erzählt Peter. Da er ein gutes Management habe und einen Beirat gestartet hat, in dem auch sein Vater sitzt, habe er sich nicht allein gefühlt.
Es sei ein Kraftakt des Vaters gewesen, aus dem Betrieb eine internationale Holding aufzubauen, sagt Peter, erst Servicestandorte, dann Tochtergesellschaften, die selbst forschen und produzieren: „Es war uns immer wichtig, dass wir lokale Wertschöpfung betreiben und nicht nur eine Weltkarte mit verschiedenen Standorten zeichnen.“ Während Corona habe sie das gerettet, als weder Waren noch Personal leicht über die Grenzen kamen.
Gerade Familienunternehmen müssen global wachsen, sagt Christina Hoon, Inhaberin der Stiftungsprofessur für Führung von Familienunternehmen an der Universität Bielefeld: „Wer in der Nische unterwegs ist und erfolgreich sein will, muss Weltmarktführer sein.“
Mit den Standorten steigt der Anspruch an die interne Kommunikation. David Peter hat mit seinem HR-Chef Max Summerer ein weltweites Mission Statement auf den Weg gebracht und die Geschäftsführer der Tochtergesellschaften zu Kulturbotschaftern ernannt. „Anfangs haben sie die HR kritisch beäugt, inzwischen sehen sie, welchen Mehrwert wir stiften und wie wir ihnen helfen, den Zusammenhalt zu erhöhen“, sagt Summerer. Wie sie die Werte zeigen, ist jedem Land selbst überlassen. So nutzt China etwa ein riesiges Sandbild und Mexiko die Plane neben der Heiligen Mutter Maria.
Vorteil der Familie auf dem Arbeitsmarkt
Über dem Herd, dem Küchentresen und den vier Stühlen hängen Luftschlangen, überall liegen Luftballons in blau, rosa und gelb. Eine Frau steht mit Jeans und T-Shirt vor einem Tisch, auf dem das Essen noch mit Alufolie bedeckt ist. Um sie herum warten knapp 20 Kolleginnen und Kollegen. Sie hören ihr zu und wollen feiern, dass ihre Kollegin Ana für ein Jahr aus dem Labor in Mexiko in das fast 10.000 Kilometer entfernte Hiddenhausen geht: als Projektleiterin und Gewinnerin des ersten „Career Tickets“.
Mit dem Ticket will Peter Lacke Personal für befristete Aufgaben in die Zentrale holen oder an einen anderen Standort schicken. Die Dynamik sei wichtig, um Talente zu halten und zu gewinnen, sagt Summerer: „Unsere Standorte sind klein. So können wir zeigen, dass sie Teil von etwas Größeren sind.“ Und Ana gewinnt nicht nur die Projektleitung und ein Essen für ihr Team, sondern auch einen gemeinsamen Tag mit David Peter. Dass er als Eigentümer für die Firma stehe, sei ein Vorteil, den das Unternehmen nutzen müsse. Alle, die anfangen, bekommen von ihm einen handsignierten Brief. Er helfe, Talente zu gewinnen, indem er mit ihnen essen gehe. „Sie wollen sehen, wofür wir stehen. Das kann niemand so gut erklären wie ich.“ Bis zu zweimal im Jahr reise er zu jedem Standort. Ein Drittel seiner Arbeitszeit bei Peter Lacke habe er in den letzten zwölf Monaten für Personalthemen investiert.
Damit steht David Peter nicht allein: Viele Familienunternehmer seien eng an die HR angebunden, sagt Hoon: „Das ist gut, solange sie nicht in den professionellen Prozess reingrätschen. Damit laufen sie Gefahr, ihre eigene HR-Arbeit lächerlich zu machen oder Nepotismus zu fördern.“ Gutes Personal sei der größte Hebel, damit ein Unternehmen wächst und die Werte vertritt, für die es steht, sagt Peter: „Ich bin nicht nur Eigentümer, ich bin ein Bewahrer. Ich trage die Verantwortung, dieses Unternehmen in einem Topzustand an die sechste Generation zu übergeben.“
Was vom Familienunternehmen Viessmann bleibt
Eine Frau tippt in die Onlinesuche ihres Computers: „Allendorf Eder“. Sie sieht Bilder vom Ortsschild und ein Video, wie ein Mann mit seinem Mofa über einen Bahnübergang fährt. Sie sieht den Marktplatz mit dem Sandsteinbrunnen, Kopfsteinpflaster und Fachwerkhäuser. Eine Burg im Wald, ein Hochsitz auf einem Feld und Kühe. Am Schluss spielt eine Blaskapelle auf den Stufen eines Stadthauses. „Lass uns nach Allendorf ziehen“, sagt sie. Der Mann lässt den Teller fallen, das Kind knallt die Tür. So beginnt das Video, mit dem Viessmann Talente nach Allendorf einladen will, genauer gesagt: Viessmann Climate Solutions. Denn seit Anfang des Jahres ist das Kerngeschäft des Familienunternehmens aus Nordhessen ein Teil des US-Unternehmens Carrier.
Der Deal mit Carrier hat für Schlagzeilen gesorgt: 85 Prozent seines Umsatzes hatte das Familienunternehmen aus Hessen mit dem Geschäftsbereich Klimalösungen gemacht, 11.000 seiner 14.000 Beschäftigten gehörten dazu. Max Viessmann, seit 2019 Chef in vierter Generation, hat das geändert: Seit Januar ist die Sparte Teil von Carrier. Der Name bleibt: Viessmann lizensiert die Marke, hält Anteile am US-Unternehmen und sitzt in der Person von Viessmann im Aufsichtsrat. Er habe nicht das Familienunternehmen verkauft, sondern „einen Geschäftsbereich in eine transatlantische Partnerschaft überführt“, sagt Viessmann in einem Podcast vom Handelsblatt. Es sei für ihn zum Schwur gekommen, ob es „um sein Ego“ gehe oder darum, das Unternehmen so aufzustellen, dass „11.000 Familienmitglieder die beste Zukunft finden“.
Die Standortgarantie und Arbeitsplatzsicherheit seien Voraussetzungen gewesen, um sich für Gespräche zusammenzusetzen, sagt Frauke von Polier, Personalvorstand der Viessmann-Gruppe und in den Verkaufsgesprächen involviert. Natürlich würde sich einiges für Mitarbeitende ändern, aber die Unternehmenskultur von Carrier sei gut und die Verbundenheit bleibe bestehen: „Die Menschen gehen in das gleiche Gebäude und verkaufen die gleichen Produkte, auf denen der Name Viessmann steht. Sie fühlen sich weiterhin als Teil der Familie, mit der sie sich seit Jahrzehnten identifizieren.“ Kürzlich habe sie sich mit dem Betriebsratschef von Viessmann Climate Solutions getroffen, bis vor sechs Monaten ein enger Ansprechpartner für sie. Er sehe bei allen Veränderungen die strategische Weitsicht hinter der Entscheidung, in einem globalen Markt benötige man industrielle Größe. Auch, da klassische Wettbewerber jetzt Stellen streichen.
„Als Familienunternehmen denken wir langfristig, in 100 statt in zehn Jahren. Alles, was wir tun, ist für die nächsten Generationen“, sagt von Polier. Das spiegelt sich im Namen der Gruppe, die jetzt Viessmann Generations Group heißt. Sie hält Beteiligungen an Firmen weltweit, die „Lebensräume für zukünftige Generationen gestalten“. Früher war das im Kern der Bereich Energie im Gebäudesektor. Heute gehören neben Luftqualität und CO2-Reduzierung auch Wasser, Ernährung, Gesundheit oder Bildung dazu. Diverse Investitionen gab es schon länger, nur standen sie lange im Schatten des Kerngeschäfts, das 1917 als Schlosserei anfing und jetzt ein Teil von Carrier ist. Wer heute das Familienunternehmen Viessmann meint, muss auf die Gruppe schauen, ein „Ökosystem von Unternehmen“, wie es heißt.
Ein globales Ökosystem als neue Familie
Eineinhalb Stunden entfernt von Warschau, nach 100 Kilometern Autofahrt über Felder und Wiesen, liegt der Flachbau mit rotem Eingangsbereich eines Unternehmens, an dem die Viessmann Generations Group seit kurzem die Mehrheiten hält: Von Polier sitzt in einem Konferenzraum, vor ihr stehen Teller mit polnischen Süßigkeiten, um sie herum stehen Flipcharts und Metaplanwände. Sie ist mit ihrem Kollegen, Kommunikationschef Byung-Hun Park nach Polen gekommen, um den CEO und das Leitungsteam bei ihrer Strategieentwicklung zu unterstützen. „Als Managementteam haben sie aneinander vorbeigeredet“, sagt sie. Auf der einen Seite ein neuer, international erfahrener CEO, auf der anderen ein lokales Management, das seit Jahren aktiv ist, aber noch nie außerhalb des Ortes bei Warschau gearbeitet hat.
Internationalisierung, Vertrieb, Recruiting: Die Viessmann Generations Group will Unternehmen helfen, neue Fähigkeiten aufzubauen. Viele hätten zwar eine eigene Personalabteilung, aber keine Personalstrategie, sagt von Polier. Die Gruppe könne „transformative Themen“ begleiten, die man auf dem globalen Arbeitsmarkt heute brauche. Weltweit sei es eines der drängendsten Probleme, Talente zu finden und zu engagieren. „Personalerinnen und Personaler denken meist nur darüber nach, wie sie ihre Mitarbeitenden führen. Für mich geht es um den indirekten Einfluss, ein ganzes Ökosystem voranzubringen“, sagt sie. Was genau eine Familie sei, müsse man da nicht so eng sehen: „Für mich verkörpert Max Viessmann eine neue Generation Familienunternehmer, die global vernetzt denkt und Verantwortung im Schulterschluss mit anderen lebt.“
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