Herr Hoffmann, Discovering Hands bildet Menschen mit Sehbehinderung zu Medizinisch Taktilen Untersucherinnen, kurz: MTU, aus und beschäftigt sie in Praxen und Zentren für die Tastuntersuchung zur Brustkrebsfrüherkennung. Wie kam es dazu?
Die Gründung folgte nie einer Planung auf dem Reißbrett. Im Jahr 2005 wurde ich in meiner Praxis als Gynäkologe mit einem Schreiben der damaligen Gesundheitsministerin und des Umweltministers überrascht. Darin wurde bekanntgegeben, dass eine Mammografie außerhalb des Screenings ab sofort nur noch streng indikationsgebunden veranlasst werden solle. Bis zu dem Zeitpunkt hatte ich bei allen Patientinnen über 40 Jahren zur Brustkrebsvorsorge eine Basismammografie empfohlen.
Was heißt das konkret?
Ich durfte Frauen ab sofort nur noch bei konkretem Tastbefund oder familiärem Risiko zur Mammografie schicken. Doch meine ein- bis zweiminütige Tastuntersuchung reicht nicht aus, um kleinste Befunde sicher zu erkennen. Dabei ist genau das mein Anspruch gegenüber meinen Patientinnen.
Wie kamen sie schließlich auf die Idee, dass Frauen mit Sehbehinderung genau diese Lücke schließen könnten?
Ich wollte die Tastuntersuchung verbessern: mehr Zeit, mehr Struktur, bessere Ergebnisse. Die Idee, blinde Menschen mit besonders gutem Tastsinn auszubilden, kam mir wie eine Eingebung – irgendwann morgens früh unter meiner Dusche, in diesem wunderbaren Moment, in dem man nicht mehr schläft, aber auch noch nicht ganz wach ist.
Glücklicherweise ist der Ehemann meiner leitenden Medizinischen Fachangestellten bei der Agentur für Arbeit beschäftigt. In einem Gespräch mit ihm stellte sich heraus, dass es ohnehin einen großen Mangel an Berufsfeldern für Menschen mit Sehbehinderung gab. Er war sofort Feuer und Flamme.
Wie kam es dann zur Umsetzung?
Wir haben uns mit dem Berufsförderungswerk in Düren zusammengeschlossen und gemeinsam geplant. Schließlich bekamen wir vom Landschaftsverband Rheinland die erste Förderung, mit der wir dann starten konnten. 2006 bis 2008 konzipierten wir eine erste probatorische Ausbildung. Und das war die Geburtsstunde der ersten beiden Medizinisch Taktilen Untersucherinnen. Im folgenden Jahr kamen vier weitere dazu, damit hatten wir dann schon fassbare Ergebnisse.
Medial wurde viel über uns berichtet und wir bekamen einige Auszeichnungen. Daraufhin haben sich auch die ersten Krankenkassen gemeldet. Trotzdem war es insgesamt ein steiniger Weg, weil man natürlich in der Medizin auch immer eine wissenschaftliche Reputation haben muss.
Wie läuft eine solche Ausbildung ab?
Jede Interessentin wird zunächst zu einem Assessment eingeladen, denn eine Sehbehinderung zu haben, heißt nicht automatisch, gut tasten zu können. Geprüft werden drei Bereiche: Tastsinn, kognitive Fähigkeiten (wie Merkfähigkeit und medizinisches Verständnis) sowie soziale und kommunikative Kompetenz. Wer das Assessment in diesen drei Bereichen besteht, kann an der Ausbildung teilnehmen.
Wie geht es dann weiter, wenn die drei Felder passen?
Die Ausbildung dauert zehn Monate und folgt einem Blended-Learning-Konzept: sieben Monate Theorie und Praxis im Ausbildungszentrum, drei Monate klinische Erfahrung in Praxen oder Krankenhäusern oder einem unserer Zentren. Vermittelt werden neben der Tasttechnik alle notwendigen medizinischen Grundlagen, Hygiene, aber auch Informationen zum deutschen Gesundheitssystem und Kommunikationskompetenz. Ziel ist es, dass die Frauen später im Team mit Ärzten arbeiten und Patientinnen fachlich kompetent begegnen können. Der Schwerpunkt liegt aber auf der Durchführung der Taktilen Brustuntersuchung: Anamnese, Einsatz der Orientierungsstreifen, strukturierte Untersuchung.
Werden die neu erlernten Kenntnisse geprüft?
Nach sieben Monaten folgt eine Zwischenprüfung. Die Abschlussprüfung wird von einem auch ärztlich besetzten Gremium abgenommen. Besteht die Kandidatin, erhält sie eine zwei Jahre gültige Lizenz von Discovering Hands und in der Regel sofort eine Festanstellung. Unser Assessment ist sehr selektiv, daher bestehen fast alle Kandidatinnen die Ausbildung.
Wo werden die ausgebildeten Frauen dann konkret eingesetzt?
Wir rekrutieren gezielt für Regionen, in denen Praxen oder Zentren MTUs zuverlässig einstellen wollen. Ein fester Arbeitsplatz ist deutlich besser als wöchentlich wechselnde Einsatzorte. Im Hamburger Zentrum haben wir kürzlich drei MTUs eingestellt, dort werden Untersuchungen auch als betriebliche Gesundheitsmaßnahme von Betreiben (BGM) angeboten.
Statt uns primär auf Arztpraxen zu konzentrieren, richten wir uns zunehmend direkt an die Patientinnen, damit diese die Vorsorge selbstständig online buchen können. Die ärztliche Anbindung bleibt selbstverständlich erhalten: MTUs erheben Befunde, die Diagnose stellt stets die Ärztin oder der Arzt.
Diese Vorgehensweise ist auch für Ärzte ein Gewinn: Ihre Diagnose basiert auf einer wesentlich gründlicheren Tastuntersuchung, ausgeführt von Tastexpertinnen. Damit steigt die Sensitivität für die Erkennung kleinerer Befunde signifikant gegenüber der sonst üblichen Routineuntersuchungen.
Wie sieht der Arbeitsumfang der Frauen aus und wie werden sie bezahlt?
MTUs arbeiten je nach Lebenssituation: einige in Teilzeit, andere in Vollzeit. Sie verdienen über Mindestlohn und nehmen an einem Beteiligungssystem teil, das sich an Erfahrung und Leistung orientiert und die Löhne entsprechend erhöht. Langfristig möchten wir deutlich besser bezahlen, dafür braucht es aber mehr Zentren und mehr Vollzeitstellen.
Die sehbehinderten Frauen übernehmen eine wertvolle Aufgabe. Wie wirkt sich diese Inklusion auf ihr Leben aus?
Sie freuen sich vor allem dann, wenn sie von den Patientinnen Vertrauen geschenkt und Wertschätzung entgegengebracht bekommen. Eine Aussage hat mich damals besonders berührt. Eine MTU sagte zu mir: ‚Frank, jetzt kann ich nicht mehr in die Welt. Aber das brauche ich auch gar nicht. Jetzt kommt die Welt zu mir.‘
Das zeigt, wie sehr sie sich durch ihre Arbeit wieder mitten im Leben fühlen – mit einem sinnstiftenden, anerkannten Arbeitsplatz, der Leben retten kann und an dem sie nicht aus sozialen Interaktionen aussortiert werden.
Wie bewerten Sie Werkstätten für Menschen mit Behinderung als Vorbereitung auf das Arbeitsleben? Könnten hier die Stärken individueller Einschränkungen besser berücksichtigt werden, so wie Sie es in dem Fall von Discovering Hands gemacht haben?
Werkstätten sind wichtig für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf. Aber es gibt auch viele – und da sehe ich auch unsere MTUs –, die deutlich mehr leisten können, als man ihnen zutraut. Wir orientieren uns bei Behinderung noch zu sehr an Schwächen, statt an Stärken. Eine Behinderung im Ausweis sagt nichts darüber aus, ob jemand einen sinnvollen, gesellschaftlich relevanten Beitrag leisten kann.
Dieser Text entstand im Rahmen der Initiative Jedes Talent zählt. Für eine inklusive Arbeitswelt.
Inwieweit wäre das Modell von Discovering Hands ausbaufähig?
Ich wünsche mir mehr Offenheit für neue medizinische Ansätze, die wissenschaftlich fundiert sind. Discovering Hands hat bereits 44 gesetzliche Krankenkassen als Partner, aber gerade die großen Kassen sollten das Modell ebenfalls unterstützen. Langfristig wird es ohnehin unverzichtbar sein, menschliche Ansprechpartner im Gesundheitssystem zu erhalten, da zunehmend Prozesse digitalisiert werden und medizinische Assistenzsysteme, basierend auf künstlicher Intelligenz, die Routinediagnostik ergänzen müssen. MTUs könnten dabei Frauen als kompetente Begleiterinnen für das Thema Brustgesundheit zur Seite stehen. Auch eine Erweiterung ihrer Einsatzbereiche ist denkbar, etwa im Bereich der Früherkennung anderer Karzinome, wie in Indien beim Mundrachenkrebs. Ein großes Hindernis für inklusive Modelle wie Discovering Hands sind aber die immer noch unzureichenden Finanzierungswege für Sozialunternehmen.
Welche Finanzierungsmöglichkeiten wären alternativ denkbar?
Denkbar wäre hier ein innovatives Modell, wie der Social Impact Bond. Dabei investieren private Geldgeber zunächst in ein soziales Projekt – im Fall von Discovering Hands etwa in die Ausbildung von medizinisch-taktilen Untersucherinnen.
Was unterscheidet Social Impact Bonds von klassischen Investitionen?
Anders als bei klassischen Investitionen fließt das Geld nicht sofort zurück, sondern nur dann, wenn das Projekt messbare gesellschaftliche und wirtschaftliche Erfolge erzielt. Konkret bedeutet das: Werden durch den Einsatz der MTUs Krankheitsverläufe frühzeitig erkannt und dadurch Therapiekosten gesenkt sowie Arbeitsausfälle reduziert, entstehen relevante volkswirtschaftliche Einsparungen. Ein Teil dieser Einsparungen könnte dann von öffentlichen Trägern, etwa Krankenkassen oder Rentenversicherungen, an den Bond zurückfließen und das Investment gut verzinst rückzahlbar machen. Ein solches Modell würde soziales Engagement mit nachhaltiger Finanzierung verknüpfen. In Ländern wie Großbritannien wurde das Modell bereits erfolgreich erprobt, in Deutschland bislang leider kaum genutzt.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft von Discovering Hands?
Mein persönlicher Wunsch wäre es, dass MTUs in der Brustkrebsfrüherkennung eines Tages so selbstverständlich sind, wie Hebammen bei Geburt.
Über den Gesprächspartner:
Dr. med. Frank Hoffmann ist Gründer von Discovering Hands. Seit 1993 ist er niedergelassener Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Seit 2010 ist er zudem Fellow der internationalen Non-Profit-Organisation.