Das Telefon, in den Achtzigern ein klobiges Ding mit Wählscheibe, hat Christian Korff schon immer fasziniert. Als 16-Jähriger wollte er wissen, wie das funktioniert. Welche Bauteile es dafür braucht. Was wie verkabelt ist. Wann immer der Bielefelder einmal etwas Geld vom Zeitungsaustragen übrig hatte, kaufte er sich kleine Bauteile. Platinen, Kabel, Stecker und alles fürs
Löten. Er hatte einen Traum: Fernmelder werden.
Also macht er sein Schulpraktikum bei Siemens und taucht ein in die Fernmeldetechnik, sieht, was möglich ist, wie viel er lernen kann. Sein Praktikums-Chef, der Ausbilder im Betrieb, sagte ihm: „Mensch, bewirb dich bei uns und dann kannst du hier deine Lehre machen!“ Siegessicher bewarb sich der Teenager bei dem Industrieriesen. Doch er bekam eine Absage. Auch seine Bewerbung bei der Telekom, seiner Nummer zwei auf der Wunschliste, scheitert.
Und so geht es monatelang weiter. Er bewirbt sich bei großen Unternehmen und kleinen Handwerksbetrieben. Insgesamt 79 Absagen erhält er. Keiner hält es für nötig, ihm einen Grund dafür zu nennen. Aufgeben? Das kam für ihn nie infrage. Korff ist klassisches Arbeiterkind – der Vater Schneider, die Mutter arbeitet im Kaufhausrestaurant bei Karstadt. Rücklagen gab es keine, dafür reichte der Lohn der Eltern nicht. Nicht arbeiten zu gehen, war also nie eine Option für den Heranwachsenden. Für Taschengeld hatten seine Eltern nicht genug übrig. Deshalb musste er sich das Geld für seine Wünsche selbst erarbeiten.
Dass da so unerwartet viele Absagen im Briefkasten lagen, stimmte ihn traurig. Sein Traumjob schien in weite Ferne zu rücken. „Aber ich habe mich davon nicht unterkriegen lassen, ich konnte dafür nichts“, sagt Korff heute. Für ihn war das viel mehr ein Symptom seiner Zeit. „Ich bin ein ganz klassischer Boomer“, sagt er. „Überall, wo ich hinkam, war es voll. Egal ob es in den Klassenzimmern war oder später bei der Suche nach einer Lehrstelle.“
Die erste Chance: Jemand vertraut dir
Doch als er sich dann bei der diakonischen Einrichtung Bethel in Bielefeld bewirbt, steht er das erste Mal im Rampenlicht, ist nicht mehr einer von vielen. Seine Bühne: das Büro des Werkstattleiters in Bielefeld. „Da habe ich das erste Mal gespürt, dass ich eine Chance habe“, erzählt Korff. „Als der Chef dann sagte, dass ich bei Bethel anfangen kann, wusste ich: Da ist jemand, der vertraut dir, der weist dich nicht ab.“
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Also geht es los, am 1. August 1984. Korff bekommt wie alle anderen einen blauen Kittel. „Elektrowerkstatt“ steht
in gelben Lettern darauf. „Da war ich stolz wie Bolle, als ich mit meinem Kittel im Innenhof stand“, erzählt er. Als alle Lehrlinge versorgt sind, fahren sie mit einem Auto hoch zur Telefonanlage. Er hatte sein Ziel erreicht. Dann wurde er Teil einer Testkooperation. Bethel wollte als Handwerksbetrieb eine duale Ausbildung erproben. So konnte Korff regelmäßig wechseln zwischen Bethel und Heydel Elektroakustik, einem Hersteller für zum Beispiel Audiosysteme. Als er bei der anderen Firma ankam, war das sein persönliches Paradies. „Alle elektronischen Bauteile, die ich mir als Jugendlicher nie leisten konnte und hart erspart habe, gab es hier schubladenweise“, sagt er. „Meine glänzenden Augen beim Anblick des Bauteilewagens hat der Chef gesehen. Er sagte: ‚Nimm dir mit, was du willst. Solange du es zum Basteln für dich verwendest, hast du hier freien Zugriff.‘“
Der Chef vertraute dem damals 16-Jährigen. Der Start der Ausbildung hatte dem jungen Bielefelder gezeigt, was in ihm steckt. Dass er mehr kann, als Zeitungen austragen. Dass es nicht schlimm ist, dass ihm die 79 anderen Betriebe abgesagt hatten. Rückblickend sagt Korff: „Ich glaube, mein größter Kritiker war immer ich selbst.“ Den Grund für seine Unsicherheit sieht er in der Schulzeit. „Die Zeit in der Hauptschule war furchtbar. Ich war kein besonders guter Schüler, aber selbst auf den Lernzetteln unserer Lehrer habe ich Fehler gefunden.“ Er fühlte sich weder gefördert noch gefordert.
Er machte seine Fachoberschulreife, danach startete Korff seine Ausbildung. „Mir hat das gutgetan, erst eine Lehre zu machen,
durchzuatmen, Neues zu lernen.“ Doch eine Sorge begleitet ihn die ganze Zeit. „Ich wusste, dass ich im Gegensatz zu vielen anderen teils große Wissenslücken hatte.“ Doch er ist neugierig, fragt nach, testet und bastelt. Er meistert die Ausbildung, geht dann auf die Fachoberschule und kann somit doch noch studieren – als Erster seiner Familie. Ist das der Durchbruch?
Noch nicht. Denn als er 1994 kurz vor dem Abschluss seines Studiums der Elektrotechnik steht, hat er ein Déjàvu. Schon wieder schreibt der Bielefelder eine Bewerbung nach der anderen. Rund 60 Stück. Nur Absagen. Es gibt eben immer noch zu viele, die gleichzeitig ins Berufsleben starten wollen. Was nun? Korff tritt mit einem Bekannten die Flucht nach vorne an und wird Teilhaber der Visart GmbH. Die hatte ein Bekannter von ihm kurz zuvor gegründet. Das Unternehmen ist im Marketing tätig und bekommt große Aufträge. Als technischer Leiter soll Korff zum Beispiel die damals neue Mercedes E-Klasse auf der Bühne
ins richtige Licht rücken und dann – wie im Stile Copperfields – von Zauberhand verschwinden lassen.
„Ich habe nie wieder in meinem Leben so eine Anspannung und so viel Stress gespürt wie damals“, sagt Korff. Alles lief reibungslos, aber er merkte: Die Selbstständigkeit war nichts für ihn, die Existenzängste und die Abhängigkeit waren zu groß. 1995 steigt er als Teilhaber aus. Übrig geblieben ist davon nur ein kleiner Eintrag in seinem Linkedin-Lebenslauf, das Unternehmen gibt es aber heute noch. „Ich wollte einfach wieder Angestellter sein, ein geregeltes Einkommen und ein
Team haben“, sagt er.
Zu seinem heutigen Arbeitgeber ist Korff ganz ohne Recruiter gewechselt. Ein Mitarbeiter, der heute nicht mehr da ist, motivierte ihn zur Bewerbung. Dem damals 29-Jährigen kam das recht. Denn er war seinerzeit Manager Network Operations bei der Dresdner Bank, sollte aber raus aus der Abteilung für Infrastruktur und rein in die Bankensysteme. Das wollte Korff nicht.
Also schrieb er hoffnungsvoll an Cisco. Ein US-Unternehmen aus dem Bereich Netzwerktechnik. Doch es kam: eine Absage. Die Begründung: Sein Englisch sei zu schlecht. Das sah Korff ein, getroffen habe es ihn trotzdem. Er schämte sich schon lange für seine Englischkenntnisse, verzog sich immer in ein Einzelbüro, wenn er ein Telefonat in der fremden Sprache führen musste.
Er verbesserte sein Englisch mit Auslandsaufenthalten für die Dresdner Bank in Singapur, Tokio und San Francisco und fing an, Filme und Serien im englischen Original zu sehen. Denn er wollte immer noch unbedingt zu Cisco. Bekannte rieten ihm allerdings ab: Dieser US-Konzern? Da kommst du nur in so eine Hire-and-Fire-Mentalität rein!
Hartnäckigkeit zahlt sich aus
Aber das hat ihn nicht abgeschreckt und sein Englisch war endlich vorzeigbar. Also schrieb er wieder an Cisco. Und diesmal mit Erfolg. Seine Hartnäckigkeit hat sich ausgezahlt. Beworben hatte er sich als Systemingenieur. Aufgrund einer Entlassungswelle kurz vor seinem Start stieg er aber direkt als Manager ein. „Was für ein wilder Laden, dachte ich damals. Hier bleibst du sicher nicht lang. Und jetzt sind es schon 23 Jahre“, sagt Korff. Über die Jahre hat er sich hochgearbeitet, ist mittlerweile Managing Director Global Key Accounts. Er ist für das Unternehmen auch weg aus Hessen und nach Berlin gezogen, wo er immer noch lebt. Heute ist es ihm egal, wie oft er im Berufsleben abgelehnt wurde. Dass er auf der Hauptschule war.
Dass er eigentlich Elektrotechnik gelernt und studiert hat und nicht BWL oder Management, wie viele andere auf seinem Level, das merkt heute niemand mehr. Dafür müsste man schon einen Blick in seinen Lebenslauf werfen. Und der spielt abseits von
Linkedin ohnehin keine große Rolle. Auch nicht für Korff. „Meine eigene Geschichte hat mir gezeigt, wie irrelevant es ist, wo man herkommt und wie man zu dieser Karriere gekommen ist.“
Wenn er heute ein Bewerbungsgespräch führt, schaut er bewusst nicht in den Lebenslauf. „Und das, obwohl wir eigentlich in den Führungskräftetrainings immer gesagt bekommen, dass wir alles vorher lesen sollen“, sagt Korff und lacht. Er wolle die Menschen im Gespräch kennenlernen und ihre Motivation spüren. „Wenn ich einen Lebenslauf lese, merke ich direkt, wie ich Vorurteile aufbaue – positive wie negative.“
Der Managing Director ist sich aber bewusst, dass auch bei Cisco wahrscheinlich Menschen aufgrund ihres Lebenslaufs gepusht oder aussortiert werden könnten. Denn bevor eine Bewerbung schließlich auf seinem Tisch landet und zum Gespräch geladen wird, ist sie durch viele Hände gegangen. Karrieretechnisch hat sich Korff weit weg von seinen Wurzeln bewegt.
„Meine Eltern haben nur ganz schwer verstanden, was ich tue. Das ist für sie komisch gewesen, als ich da mit dem dicken Firmenwagen vorgefahren bin“, sagt er. Aber es gab einen Schlüsselmoment.
In den 2010er Jahren baute Korffs Bruder, ein Handwerker, das Haus der Eltern seniorengerecht um. Er übernahm dafür den Kredit, die beiden anderen Geschwister verzichteten aufs Erbe. Sechs Jahre lang dauerte das und die Eltern mussten auf
einer Baustelle leben. Das sei alles nicht einfach gewesen, erinnert sich Korff. Die finanziellen Mittel waren begrenzt, weil die Eltern selbst nichts beisteuern konnten. Die Rente war zu knapp, der Kredit für die Heizungssanierung über 80.000 DM war nach 30 Jahren immer noch nicht abbezahlt.
Die Situation war angespannt, und so kam es zum Streit. Über die Finanzierung. Die Renovierung. Alles. Also setzt sich Korff ins Auto, fährt die 300 Kilometer nach Bielefeld und macht das, was er zu dem Zeitpunkt schon so oft bei Cisco getan hat: Er hält eine Art Familien-Workshop. „Wir haben den ganzen Tag Übungen gemacht, die Wohnzimmerfenster mit Post-its vollgeklebt, einfach mal offen über Ängste und Wünsche geredet.“ Und es hat funktioniert, das Haus wurde gemeinschaftlich umgebaut. Und seine Mutter habe zu ihm gesagt: „Jetzt geht es uns als Familie besser und wir haben endlich verstanden, was du eigentlich den ganzen Tag auf der Arbeit machst.“
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Struktur. Das Heft können Sie hier bestellen.