Was brauchst du, um 100 Prozent zu geben?

Essay

Mit Leistung ist das so eine Sache. Grundsätzlich haben Menschen das Bedürfnis, sich Herausforderungen zu stellen und etwas zu schaffen. Aber das klappt nicht immer so, wie sie sich das vorstellen. Sophie Weißenberg zum Beispiel wollte alles geben, monatelang hatte sie diesem Tag entgegengefiebert. Und dann riss der Siebenkämpferin – beim Einlaufen für den Hürdensprint im Stade de France – aus heiterem Himmel die Achillessehne.

Da war er dahin, der Traum von Olympia, zumindest vorerst. Die Leverkusener Sportlerin saß weinend auf der Bahn und musste später im Rollstuhl aus dem Stadion geschoben werden. Leistungsbereitschaft ist nicht gleich Leistung, so viel ist klar. Aber wovon hängt es ab, ob jemand seine vollen PS auf die Straße bringen kann? Im Sport spielt sicherlich vor allem die körperliche Verfassung eine Rolle.

Bei Beschäftigten in Unternehmen gibt es noch sehr viele andere Faktoren, die beeinflussen können, wie Menschen performen. Diese hat die Beratung Kienbaum in ihrer aktuellen Performance Management Studie Haben wir ein Leistungsproblem? untersucht. Insgesamt 400 Unternehmen aus dem deutschsprachigen Raum haben im vergangenen Sommer Fragen dazu beantwortet.

Die Ergebnisse zeigen, dass erfolgreiche Unternehmen klare Ziele vorgeben und die Beschäftigten unterstützen, diese zu erreichen. Sie sind bereit, Risiken einzugehen und Veränderungen zuzulassen. Sie erkennen Erfolge an und feiern sie auch.

Katharina Kreitz gehört wohl zu den Personen, die besonders viel Leistung abrufen. Die 37-Jährige hatte vor gut zehn Jahren zusammen mit einem Freund die Idee für ihr heutiges Unternehmen. Sie beide arbeiteten zusammen im Windkanal bei BMW und fanden, dass die kleinen Sonden da drin ganz schön empfindlich sind. So kam ihnen die Idee, die Geräte per 3D-Druck herzustellen, sodass sie sich in Form und Größe genau an den Einsatzbereich anpassen lassen und entsprechend robuster sind.

Inzwischen gehören Airbus, Siemens und Tesla zu den Kunden ihrer Firma Vectoflow in Gilching bei München. Doch bis es so weit war, musste Kreitz ganz schön ackern. Sie erinnert sich an ihre Zeit in San Francisco 2018, als sie Teilnehmerin eines Accelerator-Programms für deutsche Start-ups war. Während sie daran teilnahm und potenzielle Kunden in den gesamten USA besuchte, war sie gleichzeitig die einzige Person im Unternehmen, die für den Vertrieb verantwortlich war.

„Ich wusste ganz genau, wie viel Geld ich reinholen muss, damit ich die Mitarbeiter bezahlen kann“, erinnert sich Kreitz. Sie schlief oft nur drei Stunden die Nacht, für ihre Beziehung hatte sie gar keine Zeit mehr. Ihr damaliger Freund machte später Schluss. „Zu der Zeit war mir einfach die Firma am wichtigsten“, sagt Kreitz heute. „Ich hatte ein klares Ziel vor Augen und war deshalb auch bereit, besonders viel zu geben.“ Das Ziel hieß damals: Kunden gewinnen.

Blick nur auf individuelle Leistung

Aus Sicht des Softwareherstellers SAP wäre Katharina Kreitz ganz sicher eine Performerin. Der Softwarehersteller sorgte Ende 2023 für eine Debatte, als das Handelsblatt darüber berichtete, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in „Performer“, „Achiever“ und „Improver“ eingeteilt werden sollen.

Performer leisten mehr, als der Arbeitgeber erwartet, und bekommen einen entsprechenden Bonus. Achiever leisten etwa das, was erwartet wird – Improver schaffen dieses Pensum hingegen nicht und müssen daher an einem Coaching teilnehmen. Für sie soll es laut Medienberichten einen „Performance Improvement Plan“ geben.

Die geplante Einführung eines solchen Systems der „Winning Culture“ ließ viele in der Branche aufhorchen. Den Unternehmenserfolg einfach auf individuelle Leistung zu reduzieren, lasse Zufall, Glück und Pech außen vor, kommentierte Managementberater Reinhard K. Sprenger in einem Beitrag für Managerseminare. Vor allem würden auch Strukturen im Unternehmen und Wechselwirkungen im Team ausgeblendet, ganz zu schweigen von der Möglichkeit einzelner Personen, etwas zu leisten.

„Die Kurzfassung dieses Problematisierungskonzepts lautet: Einzelne Mitarbeiter sind schuld! Selbst wenn das partiell stimmen mag, hat man vor allem klargestellt, dass man als Management selbst keine Schuld trägt.“ Für den Berater ist klar: Performance ist auch Führungsaufgabe.

„Für gute Leistung braucht es gewisse Voraussetzungen“, ist für Jeannette Matti klar. Sie ist seit Januar Chief People & Culture Officer bei der Schweizer Handelsgruppe Brack Alltron, zuvor war sie sechs Jahre lang HR-Chefin beim Gastro-Zulieferer Saviva.

Auch Matti hat früher schon in einem Umfeld gearbeitet, in dem sie nicht ihre volle Leistung abrufen konnte. Eigentlich habe sie einen hohen Leistungsanspruch an sich selbst, damals aber das Gefühl gehabt, dass ihre Vorgesetzte sie ständig kontrolliert. „Ich konnte mich überhaupt nicht entfalten“, erzählt sie. Sie habe weniger geschafft und auch bei Aufgaben, die sie eigentlich konnte, Fehler gemacht. Das Unternehmen hat sie damals schon nach zwei Monaten wieder verlassen, die Stelle taucht in ihrem Lebenslauf gar nicht auf.

Seitdem weiß sie: „Leistung ist viel weniger von mir abhängig als von meinem Umfeld.“ Sie glaubt, dass Menschen grundsätzlich Leistung bringen und performen wollen. Aber dazu brauchen sie eben die entsprechenden Bedingungen. Dabei sei psychologische Sicherheit wichtig, also eine Kultur, in der Beschäftigte und Führungskräfte keine Angst haben, Emotionen zuzulassen oder Fehler zuzugeben.

„Wenn man den Menschen Vertrauen schenkt, sie Fehler machen lässt, aber auch die Erfolge mit ihnen feiert, dann zeigen sie ihre Bestleistung.“

Mehr Leistung durch mehr Spaß

Bei Saviva hatte Matti vor sechs Jahren ein solches Umfeld gefunden. Die Geschäftsleitung habe mutige Ideen immer unterstützt. „Wenn ein Fehler passiert ist, wurde die Ursache und nicht der Schuldige gesucht“, erzählt sie. So konnte sie auch in ihrem eigenen Team viel erreichen.

Statt eines Jahresgesprächs hat sie ihrem Team vor zweieinhalb Jahren ein Buch geschenkt: Entwickle deine Stärken von Don Clifton. Jedes Teammitglied hat den darin enthaltenen Test für sich durchgeführt, anschließend haben sie die Ergebnisse im Team offengelegt und ihre Aufgaben neu verteilt.

„Ich bin zum Beispiel jemand, ich rekrutiere nicht so gerne“, sagt Matti. Zwei Leute aus ihrem Team hatten aber Lust darauf – und machen das seitdem. Ein anderer Kollege hat Spaß an Datenanalysen und hat das Thema komplett übernommen. „So können alle viel mehr Leistung abrufen“, sagt Matti. „Und die Leute sind zufrieden.“

Mit einer einmaligen Stärkenanalyse ist es aber nicht getan, die Menschen sollten auch regelmäßig Rückmeldung geben dürfen, sowohl in Umfragen als auch in Eins-zu-Eins-Gesprächen und Teamrunden, wohin sie sich entwickeln möchten.

Wobei Matti auch wichtig ist, zu betonen, dass sich nicht jeder ständig weiterentwickeln oder eine Führungsfunktion übernehmen möchte. Und in anderen Bereichen, in denen viele Menschen ähnliche Aufgaben haben, geht es vielleicht weniger darum, bestimmte Stärken zu analysieren.

In der Logistik von Saviva waren stattdessen zum Beispiel die Arbeitszeiten ein viel wichtigeres Thema. Dabei haben sie versucht, die Schichten möglichst gut an die private Situation der Mitarbeitenden anzupassen, denn auch das trägt zur Zufriedenheit bei.

Im Team sind all diese Dinge natürlich leichter umzusetzen als im gesamten Unternehmen. Jeannette Matti glaubt aber: Wenn in einzelnen Teams eine Kultur der psychologischen Sicherheit herrscht, könne sich das auch auf das gesamte Unternehmen auswirken.

Bei Saviva haben sie und ihr Team Führungsgrundsätze zusammen mit allen Angestellten erarbeitet. Sie sollten sagen, wie sich ihre Führungskräfte ihnen gegenüber verhalten sollen – um so ein Umfeld zu schaffen, in dem sich alle wohlfühlen.

Bei Saviva konnten sie die neuen Führungsgrundsätze allerdings nicht mehr umsetzen, weil das Unternehmen übernommen wurde und solche Projekte erst einmal gestoppt wurden. Sie wird nun bei ihrem neuen Arbeitgeber Brack Alltron weiter an diesen Themen arbeiten.

Auch Nina Straßner sagt von sich, dass sie schon immer gerne Leistung erbracht hat. Aber gesellschaftlich kommen aus ihrer Sicht viele Aspekte des Themas zu kurz. Auch deswegen ist sie seit Ende vergangenen Jahres eine der Botschafterinnen der Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA).

Bund, Länder, Sozialversicherungsträger, Gewerkschaften, Stiftungen und Arbeitgeber haben die vom Bundesarbeitsministerium geförderte Initiative im Jahr 2002 gemeinsam ins Leben gerufen. INQA will Unternehmen helfen, sich den Herausforderungen der digitalen Transformation zu stellen – und dabei weder die Beschäftigten noch den Erfolg aus dem Blick zu verlieren.

„Es muss den Unternehmen erleichtert werden, sich auszutauschen und zusammenzuarbeiten, Zugang zu Wissen und Ideen zu bekommen“, sagt Straßner. Dazu bringt die INQA sie miteinander und mit der Politik ins Gespräch.

Straßner, die Fachanwältin für Arbeitsrecht und Mitglied des Aufsichtsrats bei SAP ist, findet, dass der Leistungsanspruch arbeitsrechtlich gut geregelt ist. „Es gilt zwar: Leistung gegen Geld“, sagt sie. Was genau aber Leistung ist, sei aus guten Gründen nach Ansicht des Gesetzgebers höchst individuell.

Das ist natürlich gut für Arbeitnehmer, weil sie so nicht einfach gekündigt werden können, nur weil sie gerade mal nicht 100 Prozent abliefern. „Wenn jemand mal nicht so viel Leistung bringt, wie der Arbeitgeber erwartet, fragt das Gericht als Erstes: Ist der vielleicht einfach am falschen Platz?“, sagt Straßner.

Aber es geht nicht nur darum, den richtigen Arbeitsplatz für eine Person zu finden und ihr dort Aufgaben zuzuteilen, die ihren Stärken entsprechen. Menschen leisten ja oft privat zusätzlich Care-Arbeit in der Familie oder für Freunde. Straßner sieht hier auch die Politik in der Pflicht.

Unser Sozialversicherungssystem beruht auf einem Generationenvertrag. Demnach hat die erwerbstätige Generation mit Arbeit, dem Aufziehen von Kindern und mit pflegebedürftigen Eltern privat und beruflich wohl am meisten zu tun. Aus Straßners Sicht muss hier für Entlastung gesorgt werden:

„Wenn wir nicht am Generationenvertrag rütteln wollen“, sagt die Anwältin – und sie persönlich möchte das nicht –, „dann müssen wir dafür sorgen, dass bei der Care-Arbeit nicht so viel Energie auf der Strecke bleibt.“ Das heißt: Kitaplätze, öffentlicher Nahverkehr, Pflege- und Betreuungsanträge – all das muss gut funktionieren.

Das ist zum einen ein Auftrag an die Politik. Aber auch an die Arbeitgeber.


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Schwierig, die Bedürfnisse von allen zu kennen

Leistung nur auf eine einzelne Person im Unternehmen zu reduzieren, greift zu kurz, so viel ist klar. Wie sehr Menschen ihr Potenzial ausleben können, hängt von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, der Unternehmenskultur und auch von der Branche ab.

In einem jungen Unternehmen wie dem von Katharina Kreitz herrscht gerade zu Anfang noch mal eine ganz besondere Leistungskultur. Kreitz sagt, sie habe die letzten acht Jahre durchgeackert. Sogar, nachdem sie 2019 nach einem lebensgefährlichen Skiunfall im Koma lag, saß sie sechs Monate später schon wieder im Büro.

„Das hat mir auch beim Gesundwerden geholfen. Alles andere hätte sich nach Aufgeben angefühlt“, sagt Kreitz.

Von ihren Mitarbeitern erwartet Kreitz aber nicht das, was sie von sich selbst oft erwartet. „Ich lerne die Menschen kennen und schätze dann hoffentlich richtig ein, was ich erwarten kann“, sagt sie. Ihr ist klar, dass nicht jede Person so arbeiten will wie sie. Es sei jedoch schwierig, die wahren Bedürfnisse von allen zu kennen.

Auch darum hat Kreitz vor anderthalb Jahren eine neue Führungsebene eingezogen. Als das Unternehmen noch klein war, wusste sie oft selbst, wem es gerade wie ging. Nachdem ein Mitarbeiter zum Beispiel von seiner Partnerin verlassen worden war, bekam er einen Stapel einfacher Aufgaben, die er abarbeiten konnte, ohne groß nachzudenken.

„Das hat ihm geholfen, weil er sich ablenken konnte – und mir auch, weil er Dinge erledigt hat.“

Wenn die Unternehmerin an die Gründungszeiten von Vectoflow denkt, sagt sie: „Damals war das die richtige Zeit in meinem Leben für die Firmengründung, da konnte und wollte ich durchpowern.“ Jetzt powere sie zwar schon auch weiterhin, aber die Arbeit fordert sie nicht mehr ganz so extrem wie am Anfang.

Heute verbringt Kreitz mehr Zeit mit ihren Hobbys, und sie nimmt sich Zeit für ihren Mann und ihre kleine Tochter.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Performance. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Kathi Preppner

Kathi Preppner ist Redakteurin in der Wirtschaftsredaktion Wortwert.

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