Frau Gerecht, wann ist ein Mensch hochbegabt?
In Deutschland gilt ein Mensch bei einem Intelligenzquotienten ab 130 offiziell als hochbegabt. Diese Grenze zur Hochbegabung würde ich jedoch als fließend beschreiben. Betroffen sind ungefähr zwei Prozent der Bevölkerung. Es gibt somit mehr hochbegabte Menschen in Deutschland als zum Beispiel Lehrkräfte oder Ärzte und Medizinerinnen. Zum Vergleich: Die durchschnittliche Intelligenz liegt bei 100, und die Mehrheit der Menschen hat einen Intelligenzquotienten, der zwischen 85 und 115 liegt.
In welchen Arbeitsbereichen sind Hochbegabte besonders häufig anzutreffen?
Uns gibt es überall. Ich bin immer wieder überrascht, mit welch dickem Fell hochbegabte Menschen auf bestimmten Jobs sitzen und der Dinge harren.
Das klingt so, als würden Hochbegabte ihr Potenzial nicht nutzen.
So ist es. Die Expertinnen für Hochbegabung, Tessa Kieboom und Kathleen Venderickx, verweisen in ihrem Buch Mehr als intelligent darauf, dass die Mehrheit der Hochbegabten einen Beruf hat, der weit unter ihren Fähigkeiten liegt.
Warum ist das so?
Die Krux ist, dass viele Hochbegabte gar nicht wissen, dass sie es sind. Auch wenn sie merken, dass sie schneller denken und bestimmte Besonderheiten aufweisen, sehen sie sich selbst meist dennoch als der Norm zugehörig. Zudem haben Hochbegabte – insbesondere Frauen – laut Studien oft ein geringes Selbstwertgefühl und nehmen sich daher zurück.
Wie lässt sich Hochbegabung erkennen? Was sind also die häufigsten Persönlichkeitsmerkmale von hochbegabten Menschen?
Es ist schwierig, dies zu pauschalisieren. Hochbegabung hat viele Gesichter. Was wir in unserer Community immer wieder merken, ist, dass wir zum schnellen Sprechen neigen – gerade, wenn uns ein Thema interessiert. Da ist viel los im Kopf, das auf den Weg gebracht werden will. Auch ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn ist ein Merkmal von Hochbegabten. Ungerechtigkeiten in Meetings beispielsweise können sie nur schwer aushalten. Sie ergreifen in solchen Situationen schnell Partei für jemanden. Wo andere an ihren eigenen Belangen interessiert sind und schauen, wie sie vorankommen, sind Hochbegabte außerdem gesamtheitlich orientiert und achten auf mögliche Synergien.
Ansonsten sind sie oftmals polyprojektiert, also der Hansdampf in allen Gassen. Ungefähr die Hälfte aller Hochbegabten ist auch latent chaotisch. Ein unaufgeräumter Schreibtisch etwa – ohne, dass dieser so von ihnen wahrgenommen wird – ist typisch. Oder aber, das andere Extrem, sie sind sehr perfektionistisch und detailverliebt.
Viele Menschen haben ein Bild von Hochbegabten als introvertierte Persönlichkeiten im Kopf.
Ja, es besteht ein Vorurteil der sozialen Inkompetenz. Wobei man in diesem Kontext eigentlich zunächst definieren müsste, was sozial kompetent ist. Jemand, der viel redet, ist womöglich sozial ebenso unerwünscht wie eine Person, die sich total zurücknimmt. Auf jeden Fall wird bei Hochbegabten oftmals auch von einem tendenziell autistischen Verhalten ausgegangen. Tatsächlich betrifft dies aber nur einen geringen Teil von ihnen.
Erkennungsmerkmale von Hochbegabten im Arbeits- und Berufsumfeld:
- Hoher Ehrgeiz beim Verfolgen von Zielen
- Aber auch: Mit Frustration verbundene Unfähigkeit, sich für ein Ziel zu entscheiden
- Häufig mehrere Brüche in der Bildungs- und Berufsbiografie.
- Hohe Ansprüche an den Job und an Vorgesetzte
- Tendenz zur selbstständigen Tätigkeit
- Machen häufig Verbesserungsvorschläge und kritische Anmerkungen
- Oftmals vorauseilendes Denken
- Nutzen häufig ungewöhnliche Arbeitsmethoden
- Gewichten eigene Fehler und Unzulänglichkeiten stärker als ihre Erfolgserlebnisse
- Der Job wird häufig als zu wenig weltbewegend empfunden
- Oftmals ausgeprägte Abneigung gegen Routinetätigkeiten
- Haben originelle Ideen, aber häufig fehlt die Geduld und Ausdauer, um diese umzusetzen
- Manchmal Unfähigkeit zur Teamarbeit
Häufig geht Hochbegabung mit Hypersensibilität einher. Warum?
Das hängt mit der Übererregbarkeit zusammen. Man muss sich das so vorstellen: Wir haben einen großen Trichter auf dem Kopf – und je größer dieser ist, umso mehr und intensiver nehmen wir die Dinge wahr. Nicht nur in intellektueller Hinsicht, es gilt auch für sensorische Reize wie Gerüche und Lautstärke. Ich spreche daher auch lieber von Hypersensitivität. Dazu gehört auch die Empfindsamkeit für Veränderungen und Stimmungen. Hochbegabte spüren häufig, wenn etwas atmosphärisch nicht stimmt, etwa eine Schwere im Raum liegt. Zudem betrifft die Feinsinnigkeit die Emotionalität. Nach einem intensiven Feedbackgespräch sind wir oft noch so emotional mitgenommen, weil wir stets sehr tief einsteigen und die Informationen viel stärker für uns auswerten, sodass wir danach unter Umständen mehr Ruhezeiten brauchen als andere.
Für welche Arbeitsbereiche sind Hochbegabte besonders gut einsetzbar?
Insbesondere für Positionen, bei denen man auch mal um die Ecke denken muss, wo man Erkenntnisse und Erfahrungswerte zusammenbringt, die vermeintlich gar nicht zusammengehören. Hochbegabte Menschen verstehen es, Verknüpfungen herzustellen, auf die andere erst mal nicht kommen. Entsprechend sind sie überall da erfolgreich, wo neue Wege beschritten werden sollen und Impulse gebraucht werden. Ansonsten kommt es auf den Typus an. Ein perfektionistisch veranlagter hochbegabter Mensch etwa ist in der Qualitätssicherung gut aufgehoben. Ebenso jemand mit autistischen Zügen – die Übergänge sind hier ja fließend.
Was sollten Personalverantwortliche hinsichtlich des Umgangs mit hochbegabten Menschen beachten?
Manche Hochbegabten benötigen etwas mehr Struktur und Führung, weil sie die Themen sehr durchdringen und sich somit schnell verzetteln. Andere indes brauchen besonders viel Autonomie, damit sie sich entfalten können. Welches Extrem zutrifft, sollten Personalverantwortliche in einem offenen Gespräch erfragen. Aufgrund ihrer Übererregbarkeit empfehle ich zudem, Hochbegabte nicht in ein Großraumbüro oder ein Büro nah an der Kantine zu setzen.
Was sind die stärksten Bindungsfaktoren für Hochbegabte?
Wie andere Teammitglieder auch brauchen Hochbegabte das Gefühl, wertgeschätzt und gesehen zu werden, die sogenannte psychologische Sicherheit. Wenn ich weiß: Ich darf ich sein, ich werde so angenommen, wie ich bin, dann ist das eine gute Basis. Zudem sind Hochbegabte sehr sinngesteuert: Das, was sie tun, muss einen Mehrwert für andere beziehungsweise die Gesellschaft haben. Darüber hinaus sollte man Hochbegabten immer wieder neuen Input und einen vielfältigen Aufgabenbereich bieten. Sonst fühlen sie sich schnell gelangweilt. Sehr viele hochbegabte Menschen sind Jobhopper, weil sie nach circa einem Jahr das Gefühl haben, schon alles im Projekt und der Abteilung zu kennen.
Und was sind die größten Herausforderungen im Umgang mit Hochbegabten?
Häufig birgt die Besserwisserei von Hochbegabten Konfliktpotenzial. Zum einen fällt es vielen schwer, zu akzeptieren, dass das Gegenüber es meist besser weiß. Zum anderen treten Hochbegabte oftmals recht schroff auf, wenn es ihnen um die Sache geht. Auch fallen sie anderen häufig ins Wort. Nach meinen Erfahrungen ist es hilfreich, zu erkennen, was dahintersteckt: nämlich ein Mensch, der ein Thema unbedingt voranbringen will, aber in der Vergangenheit vielleicht immer wieder angeeckt ist. Dann sind oft ein anderes Verständnis und eine andere Basis für den Umgang da. Hinsichtlich hochbegabter Frauen indes liegt die Herausforderung in der Regel darin, ihre Potenziale zu erkennen und sie aus der Reserve zu locken. Denn sie stellen ihr Licht oft unter den Scheffel.
Was sollte getan werden, damit Hochbegabung besser erkannt wird?
Letztlich sind Aufklärung und eine gewisse Sensibilisierung nötig. Der Knackpunkt ist ja, dass sowohl HR-Verantwortliche als auch Fach- und Führungskräfte in der Regel kein ausreichendes Wissen über Hochbegabung haben. Es bedarf also gewisser Basisschulungen. Freilich muss aber auch eine gewisse intrinsische Motivation da sein, mehr über Neurodiversität herauszufinden, sodass die Menschen sich von sich aus darüber informieren. Es sollte sozusagen mehr Appetit auf das Thema gemacht werden.
Nicole Gerecht berät mit ihrem Unternehmen Uniqate Firmen im Umgang mit Hochbegabten. Sie ist selbst hochbegabt und hat dies erst im Erwachsenenalter nach einer psychischen Krise und damit verbundenen Gesprächen mit verschiedenen Fachleuten entdeckt.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Intelligenz. Das Heft können Sie hier bestellen.