Geschmolzene Schokolade in einer Hosentasche ist meist nichts, worüber man sich freuen würde. Außer man ist Percy Spencer. Der US-amerikanische Ingenieur arbeitete 1945 in einem Forschungslabor an einer elektronischen Röhre, die elektromagnetische Wellen für Radarsysteme zur Überwachung von Kriegsflugzeugen erzeugte. Während er damit experimentierte, fiel ihm auf, dass die Schokolade in seiner Hosentasche schmolz. Ohne, dass er Wärme gespürt hatte. Spencer vermutete, dass die elektromagnetischen Wellen die Ursache für dieses Phänomen sein müssten. Ein paar Experimente später war er überzeugt – und der Mikrowellenherd erfunden.
Serendipität: Mehr als nur Zufall
Das unerwartete Entdecken von etwas Wertvollem, während man nach etwas ganz anderem sucht. Das ist das Prinzip der Serendipität. „Oft wird Serendipität als reiner Zufall abgetan“, sagt Johanna Slowik. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hohenheim und untersucht das Phänomen im Unternehmertum. Slowik beschreibt Serendipität als „Zwischenraum zwischen dem Individuum und der Welt“. Sie sei weder nur das Produkt der eigenen Anstrengung noch ein reiner Zufall der Umwelt. Vielmehr sei Serendipität eine dynamische Wechselwirkung. Neben dem Zufall brauche es nämlich die Fähigkeit einer Person, das Potenzial eines unerwarteten Ereignisses zu erkennen und es zu nutzen. Denn dasselbe Ereignis könne Person A zu einer wertvollen Entdeckung führen, während Person B einfach daran vorbeigeht. „Der Zufall wirft den Ball, der vorbereitete Geist fängt ihn auf“, sagt sie dazu.
Den eigenen Geist offen zu halten, sei nach Slowik eine kognitive Herausforderung. „Unser Gehirn ist eine Vorhersagemaschine. Menschen sehen vor allem das, was sie erwarten.“ Das steht der Serendipität im Weg. Denn sie erfordert, gewohnte Denkmuster zu durchbrechen und dem Unerwarteten Raum zu schenken. Gleichzeitig bedeutet Erfahrung aber nicht zwangsläufig Engstirnigkeit. Menschen mit jahrelanger Expertise können ebenso wie Neulinge offen für Neues sein – doch es bedarf eines bewussten Schrittes aus der eigenen Routine. Besonders im Arbeitsalltag greifen viele Fachleute auf bewährte Tools, Modelle und Theorien zurück. Das kann Effizienz steigern, aber auch den Blickwinkel verengen. Eine Möglichkeit, dem entgegenzuwirken, sieht Slowik in mehr Teamdiversität: Wenn gezielt neue Stimmen, etwa von Werkstudierenden oder Mitarbeitenden aus anderen Abteilungen, gehört werden, könnten alternative Perspektiven eingebracht, Denkmuster durchbrochen und somit glückliche Zufälle gefördert werden.
Dem Zufall auf die Sprünge helfen
Es gibt einige Faktoren, die Serendipität begünstigen können. Dazu gehört gutes Fehlermanagement in Unternehmen. „Viele Chancen werden vertan, weil Mitarbeiter sich im entscheidenden Moment nicht trauen, etwas zu sagen, aus Angst, ausgelacht, sanktioniert oder nicht ernst genommen zu werden“, sagt Slowik. Dabei gehe es nicht darum, Fehler zu glorifizieren. Die Kunst bestehe darin, zwischen produktiven Fehlern, die neue Möglichkeiten eröffnen, und schädlichen Fehlern zu unterscheiden. Serendipität brauche außerdem Raum für Kreativität. „Wer ständig unter Stress steht, schaltet in den Fight-or-Flight-Modus und verliert die Fähigkeit, offen für das Unerwartete zu sein.“
Unternehmen können bewusst Räume für Serendipität schaffen, etwa durch virtuelle Kaffeepausen oder Reflexionsrunden, in denen man sich fragt: „Was war in eurem Team diese Woche unerwartet?“ Doch nicht nur externe Impulse spielen eine Rolle – auch mit sich selbst könne man Serendipität erleben. In der digitalen Welt gehen Ideen oft verloren, weil sie gelöscht oder überschrieben werden. Wer stattdessen Notizen analog festhält und später durchblättert, kann wertvolle Gedanken wiederentdecken. Das gilt auch für Teams: Ein Backlog an Ideen kann verhindern, dass Einfälle vorschnell verworfen werden. Was heute unpassend ist, könnte morgen vielleicht Gold wert sein.
Lesen Sie auch:
Aktiv das Glück suchen
Serendipität erfordert Aktivität. „Wer nur auf der Couch bleibt, verpasst 98 Prozent der Möglichkeiten“, sagt Slowik. Chancen wollen aktiv genutzt und gesucht werden. Dass sich vielversprechende Gelegenheiten auftun, haben Menschen selbst in der Hand, indem sie zum Beispiel auf Netzwerkveranstaltungen hilfreiche Kontakte knüpfen.
Oft verbinden Menschen und auch Unternehmen das Unerwartete mit Bedrohung. „Wenn wir diese Perspektive ändern, schaffen wir einen kulturellen Shift. Vielleicht sollten Unternehmen das Ungeplante sogar feiern, anstatt es reflexhaft abzulehnen.“ Denn letztlich sei die Welt nicht planbar. „Der wahre Wettbewerbsvorteil liegt nicht in der perfekten Vorhersage, sondern in der Fähigkeit, im Unerwarteten Wert zu erkennen und daraus Kapital zu schlagen“, sagt Slowik. Für sie sei daher „Serendipität keine Alternative zur Strategie, sondern die Strategie für das Unplanbare“.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Struktur. Das Heft können Sie hier bestellen.

