Jede elfte erwerbstätige Person ist von sexueller Belästigung betroffen. Dies geht aus einer Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes aus dem Jahr 2019 hervor. Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz kann viele Formen annehmen: von sexualisierten Kommentaren, über zweideutige Blicke und Gesten bis hin zu unerwünschten Berührungen, die im schlimmsten Fall zu erzwungenen sexuellen Handlungen führen können. Aufmerksamkeit für die Schicksale von Opfern hat unter anderem die weltweite MeToo-Bewegung generiert, die sich 2017 als Reaktion auf die Missbrauchs- und Vergewaltigungsvorwürfe gegen den Filmproduzenten Harvey Weinstein geformt hat. Me too (zu Deutsch: „ich auch“) geht dabei auf die amerikanische Aktivistin Tarana Burke zurück, die den Ausdruck bereits 2006 auf der Plattform Myspace verwendete, um auf Opfer sexueller Gewalt aufmerksam zu machen. Heute teilen Betroffene ihre Erfahrungen durch das Hashtag. Doch wie viel Sichtbarkeit erhalten die Opfer sexueller Belästigung am Arbeitsplatz wirklich?
Fehlende Beschwerdestellen in Unternehmen
Für Larissa Hassoun, Referentin des Projektes make it work ist MeToo „eine Bewegung gewesen, die noch mal ein ganz klares Signal gegeben hat, wie weitverbreitet sexuelle Belästigung immer noch ist.“ Make it work ist ein Projekt des Bundesverbands der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) und bietet professionelle Unterstützung für Betroffene sexueller Belästigung und Führungskräfte von Unternehmen. Ziel ist es, das Thema Belästigung am Arbeitsplatz zu enttabuisieren und wirksame betriebliche Maßnahmen dagegen zu etablieren. Ihre Arbeit dockt für Hassoun und ihr Team dort an, wo die Unterstützung für Betroffene durch die Unternehmen oft aufhört: Die dem bff angehörigen Fachberatungsstellen bieten Hilfe bei der emotionalen Stabilisierung von Opfern, zeigen Handlungsoptionen auf und erläutern die geltende Rechtslage. Außerdem unterstützen die Fachberaterinnen und Fachberater Betriebe bei der Prävention, bieten Schulungen und Fortbildungen an und begleiten die anschließenden Umsetzungsprozess im Unternehmen. Zu den im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz aufgelisteten verpflichtenden Maßnahmen für Arbeitgeber gehört unter anderem auch die Einrichtung einer betrieblichen Beschwerdestelle, an die sich Betroffene in Notsituationen wenden können. Doch diese Pflicht wird von Arbeitgeber oft genug nur zu unbefriedigendem Maße erfüllt: „Bei sehr vielen Anfragen, die wir erhalten, zeigt sich, dass es in den Unternehmen keinerlei Beschwerdestelle gibt“, so Hassoun. Sie merkt weiter an, dass, neben einer mangelnden Beschwerde-Infrastruktur, Arbeitgebende aufgrund fehlender Prävention auch oft aus Überforderung handeln würden, was Betroffenen aber auch dem ganzen Betrieb erheblich schaden kann.
Weiterführende Literatur
- Was tun bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz? Der Leitfaden der Antidiskriminierungsstelle des Bundes richtet sich gezielt an Beschäftigte, Arbeitgeber und Betriebsräte und informiert über Rechte und Beratungsmöglichkeiten.
- Umgang mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz – Lösungsstrategien und Maßnahmen zur Intervention. Die Studie im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gibt Handlungsempfehlungen, insbesondere für Führungskräfte, zur Prävention von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz.
- Sexualisierte Belästigung am Arbeitsplatz verhindern! Der Handlungsleitfaden des Deutschen Gewerkschaftsbundes bietet eine Einführung in das Thema der sexuellen Belästigung. Er beinhaltet konkrete Interventionsvorschläge sowie eine Musterbetriebsvereinbarung zum partnerschaftlichen Verhalten am Arbeitsplatz.
Generell gilt, dass der Beurteilungsmaßstab für jegliche Belästigung das Empfinden des Opfers ist. Klaus Nünnerich, der als selbstständiger Business Coach und Konfliktmanager unter anderem Seminare zur Prävention von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz gibt, findet deutliche Worte: „Einen objektiven Maßstab gibt es für sexuelle Belästigung nicht.“ Von einem „Stell dich nicht so an!“ oder „So war das doch gar nicht gemeint“ hält er rein gar nichts. Ist die Schmerzensgrenze des Opfers erreicht und die betroffene Person äußert sich zu den vorgefallenen Interaktionen, sollte dies immer ernst genommen und auf keinen Fall relativiert werden. Jegliche Art von Belästigung am Arbeitsplatz bezeichnet er als besonders gravierend. Denn aus dem Umfeld, das den eigenen Lebensunterhalt sichert, kann man nicht einfach so ausbrechen und sich der Gegenwart des Täters entziehen. Und in vielen Fällen begrenzt sich die Belästigung nicht nur auf den unmittelbaren Arbeitsplatz. Auch auf Dienstreisen, während des Arbeitsweges, auf Firmenfeiern, Betriebsausflügen, in Pausen sowie durch SMS, E-Mails oder Anrufe wird in die privateste Sphäre des Opfers vorgedrungen – und in allen genannten Bereichen greift die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers, die den Schutz des Lebens und der Gesundheit der beschäftigten Person vorschreibt.
Machtdemonstration und Führungsversagen
Weitere Pflichten für Arbeitgeber schreibt auch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz vor. Im Zuge dessen gilt: „Am Arbeitsplatz ist verboten, was unerwünscht ist“, so Katja Hinz, Fachanwältin für Arbeitsrecht. Dies bedeutet ein Verbot jeglicher Form der sexuellen Belästigung, die innerhalb eines Arbeitsverhältnisses erfolgt. Zuständig für die Sicherheit der Beschäftigten ist der Arbeitgeber. Diese sind in den meisten Fällen auch in der Pflicht, Maßnahmen gegen sexuell belästigendes Verhalten zu ergreifen. Ausgenommen davon sind lediglich strafrechtlich relevante Formen sexueller Übergriffe, für die die Polizei oder die Staatsanwaltschaft zuständig werden.
Doch um sexuelle Belästigung zu unterbinden, ist es zunächst wichtig, sie überhaupt zu erkennen, was oft gar nicht so leicht ist. So macht zum Beispiel jemand einen anzüglichen Witz über eine Kollegin und alle lachen, auch das Opfer. Wenige würde von außen betrachtet vermuten, dass sich in dieser Situation jemand belästigt gefühlt hat. Die Rechtsprechung sieht das anders, wie Hinz erklärt: „Wenn das Opfer sich der Situation entzieht, zum Beispiel vom Tisch aufsteht und geht oder eine anzügliche E-Mail-Konversation beendet, indem man sich einfach verabschiedet und nicht mehr antwortet oder auf den Witz nicht reagiert, dann reicht dies schon als Merkmal der Unerwünschtheit.“ Als betriebliche Reaktion auf Vorfälle der sexuellen Belästigung plädiert sie auch dafür, die Rolle der Führungskraft zu hinterfragen. Denn nicht selten geht die Belästigung am Arbeitsplatz auch mit einem Führungsversagen einher: „Bei sexueller Belästigung geht es um Macht. Ich nehme mir das Recht heraus, Dinge zu sagen und zu tun, die eigentlich unschicklich sind.“
Und was sieht die Rechtslage für Personen vor, die andere am Arbeitsplatz sexuell belästigt haben? „Manchmal wird behauptet, dass man bei sexueller Belästigung den Täter sofort rausschmeißen könnte“, weiß Katja Hinz, doch sie warnt vor vorschnellen Maßnahmen. Dem Bundesarbeitsgericht zufolge ist sexuelle Belästigung immer ein Grund zur außerordentlichen Kündigung. Sexuell konnotierte Witze sind für die Instanz in Erfurt genauso schlimm wie unerwünschtes Anfassen. Doch die Praxis weicht des Öfteren von der Theorie ab: Arbeitsgerichte und Landesarbeitsgerichte sind in ihrer Rechtsprechung deutlich milder und gehen oft nicht über eine Abmahnung der schädigenden Partei hinaus. Oft genug sind es immer noch die Opfer, die dem Arbeitsverhältnis den Rücken kehren.
Handlungsempfehlungen
Für Führungskräfte
Wird ein Fall der sexuellen Belästigung innerhalb des Unternehmens oder Teams offenkundig, sollte zuallererst ein vertrauliches Gespräch mit der geschädigten Partei ermöglicht werden. Das Opfer hat so die Möglichkeit Wünsche und Bedürfnisse zu äußern, anhand derer agiert werden kann. Alle nachfolgenden Prozesse müssen top-down erfolgen, es muss angeleitet, geführt, aktiviert und an die Hand genommen werden. Auch im restlichen Unternehmen sollte offen über das Vorgefallene kommuniziert werden, beispielsweise durch Informationsangebote.Für Unternehmen
Die Prävention sexueller Belästigung verlangt ein zeitliches und finanzielles Budget. Dieses sollte bereitgestellt und investiert werden. Im Rahmen dessen ist eine klare Kommunikation einer Null-Toleranz-Haltung im gesamten Unternehmen die erste und kostengünstigste Maßnahme. Alle weiteren Präventivmaßnahmen sollten für den gesamten Betrieb erläutert werden. Für konkrete Vorfälle sollte ein verbindliches und transparentes Beschwerdeverfahren bei einer unabhängigen Stelle ermöglicht werden.Für Betroffene
Wird einem Fall sexueller Belästigung innerbetrieblich nachgegangen, dann steht oft Wort gegen Wort, daher sollten konkrete Vorfälle mit Datum, Zeit und Ort dokumentiert werden. Dies steigert die Glaubwürdigkeit und erleichtert die Arbeit der Beschwerdestelle. Sollten Sie Opfer sexueller Belästigung sein, finden Sie unter anderem an diesen Stellen Hilfe:
Hilfetelefon Sexueller Missbrauch – 0800-2255530
Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen – 0800-0116016
Hilfetelefon Gewalt an Männern – 0800-1239900
Wenn Betroffene das Unternehmen verlassen oder sogar gekündigt werden, ist die Aufarbeitung der Fälle offensichtlich gescheitert. Sich als Opfer laut zu den vorgefallenen Ereignissen zu äußern und eine offizielle Beschwerde einzureichen, ist oft genug mit enorm hohen Hürden verbunden. Denn sexuell belästigt zu werden, bedeutet in den meisten Fällen ein Leiden auf Raten. Nur selten melden sich Opfer nach der ersten unangemessenen Interaktion. Dies birgt das Potenzial, dass sich Verhaltensweisen verschlimmern, der Belastungsgrad weiter anschwillt. Und wenn am Arbeitsplatz sexuell belästigt wird, dann gewinnt niemand. Nicht das Opfer, nicht der Täter und nicht das Unternehmen, in dem sich die Vorfälle ereignen. Es handelt sich schlicht und ergreifend um eine „Lose-Lose-Situation, in der manche mehr verlieren als andere“, so Christina Stockfisch, Mitarbeiterin der Abteilung Frauen-, Gleichstellungs- und Familienpolitik des Deutschen Gewerkschaftsbundes.
Für Unternehmen können ohne adäquate Prävention hohe Kosten entstehen: Nicht nur juristische Schritte und eventuelle Kündigungen und Arbeitsausfälle als Reaktion auf das Fehlverhalten, müssen gestemmt werden. Der Arbeitgeber muss auch das Trauma am Arbeitsplatz aufarbeiten und das Vertrauen der Betroffenen und der unmittelbaren Belegschaft zurückgewinnen. Die Wiederherstellung eines angenehmen Betriebsklimas für alle Angestellten ist dabei ein aufwendiger Prozess. Für die Prävention spricht, nach Stockfischs Auffassung, also auch ein betriebswirtschaftliches Argument. Am einfachsten sei Prävention durch Kommunikation zu erreichen: „Wenn man klare Regeln aufstellt, was erwünscht und was nicht erwünscht ist, dann schafft man eine Handlungssicherheit für alle Beteiligten.“ Ein erster Schritt, um folgenschweren Missverständnissen vorzubeugen.
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Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Sichtbarkeit. Das Heft können Sie hier bestellen.