„Reißt alle Heime ein!“, war eine radikale Forderung im fachlichen Diskurs über Einrichtungen wie Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM) in den 1980er Jahren, wie sich Mathias Stübinger erinnert. Er ist als Beauftragter für Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung an der Hochschule Coburg tätig. Von 1994 bis 2008 arbeitete er als sozialpädagogischer Fachdienst in einer WfbM. Diese Einrichtungen galten einigen Aktivisten als exkludierende Sondereinrichtungen.
Sie prangerten die strukturelle Entrechtung von Menschen mit Behinderung in Heimen, Psychiatrien und Werkstätten an, wie es die Bundeszentrale für politische Bildung 2019 in einem Rückblick auf 50 behindertenbewegte Jahre in Deutschland hervorhob. Noch heute gibt es zahlreiche kritische Stimmen gegenüber WfbM. „Für bestimmte Menschen ist die Werkstatt ein sehr guter Platz. Sie gewinnen an Selbstwert, sind eingebunden und werden zu Leistungsträgern“, sagt Stübinger, „aber wenn man rein fachlich darauf schaut und sie auf ihre Inklusion prüft, sind es schon ausgrenzende Einrichtungen.“
Gesetzlicher Auftrag verfehlt?
WfbM haben den gesetzlichen Auftrag, geeignete Beschäftigte auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vorzubereiten. So steht es im Sozialgesetzbuch. Die Realität weicht jedoch oft davon ab. Laut einer Studie der BMAS zum Entgeltsystem von Werkstätten für behinderte Menschen und deren Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt aus 2023 wechseln aus den in der Studie untersuchten WfbM zwischen 0,13 und 0,94 Prozent der Werkstattmitarbeitenden in eine reguläre Beschäftigung über. Der bundesweite Durchschnitt liegt laut Befragung der Werkstattleitungen bei lediglich 0,35 Prozent. Tragen Werkstätten damit ein falsches Versprechen in sich?
Menschenrechtliche Kritik
Zu den wohl größten Kritikern der WfbM gehört das Deutsche Institut für Menschenrechte. „Werkstätten in ihrer heutigen Form führen zu Segregation und Exklusion. Sie sind deshalb nicht Teil eines inklusiven Arbeitsmarktes“, heißt es im Positionspapier Menschenrechtliche Eckpunkte für die Reform von Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) aus 2024. Dabei wird auf Artikel 27 der UN-Behindertenrechtskonvention hingewiesen, der Menschen mit Behinderung das Recht garantiert, ihren Lebensunterhalt durch eine Arbeit zu verdienen, die „in einem offenen, inklusiven und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen wird“. Nach Auffassung des UN Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen sei dieses Recht in den Werkstätten nicht gewährleistet.
Das System hinterfragen
Eine Organisation, die sich für den Wandel des bestehenden Systems einsetzt, ist die Organisation Sozialhelden. Anne Gersdorff arbeitet hier als Projektleiterin für das Projekt Jobinklusive, dessen Ziel es ist, dass mehr Menschen mit Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten. „Wir waren anfangs sehr kritisch, aktivistisch und vehement gegen Werkstätten“, sagt Gersdorff. Doch Werkstätten seien für viele eine Lebensrealität, habe man später realisiert: „Niemand will Leuten etwas wegnehmen. Aber das System muss sich verändern und darf nicht so ausschließend bleiben.“
Als Expertin in dem Bereich mit eigener Behinderungserfahrung weiß Gersdorff, dass viele Wege in Sondereinrichtungen führen. Das müsse hinterfragt werden. Die Beschäftigten würden weder den Mindestlohn noch echte Arbeitnehmerrechte erhalten. Heute suche man bei Jobinklusive nach gemeinsamen Lösungen – nicht gegen, sondern mit den Beschäftigten in Werkstätten.
Verantwortung nicht nur bei den Werkstätten
Die Verantwortung werde oft nur bei den Werkstätten gesucht, obwohl gesetzliche Rahmenbedingungen fehlten, erläutert Andrea Stratmann, Vorstandsvorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen (BAG WfbM). Die WfbM seien keine ausgrenzenden Sondereinrichtungen, sondern eine notwendige Brücke. „Solange der allgemeine Arbeitsmarkt nicht alle Menschen mit Behinderungen zu angemessenen Bedingungen aufnehmen kann, bedarf es diverser Ausgleichsstrukturen“, sagt sie.
Bedarf für Reformen sieht Stratmann aber durchaus, vor allem, was das Entgeltsystem betreffe. Die Einkommen der Werkstattbeschäftigten setzen sich aus einem Grund- und Steigerungsbetrag sowie staatlichen Zuschüssen zusammen. Ein existenzsicherndes Einkommen sei unter diesen Bedingungen nicht möglich. Es brauche ein umfassendes Reformpaket mit klarer gesetzlicher Grundlage. Wirtschaftliche Tätigkeit sei kein Selbstzweck, sondern die Grundlage dafür, dass Teilhabe in Form von „Rehabilitation durch wertschöpfende Arbeit“ überhaupt ermöglicht werde, entgegnet Stratmann dem gängigen Vorwurf wirtschaftlicher Eigeninteressen.
Zusammenfassend ergeben sich folgende Hebel, mit denen Betriebe Barrieren abbauen und Teilhabe aktiv fördern können:
- Mitarbeitende nicht auf Behinderung reduzieren
Es ist wichtig, Menschen nicht auf ihre Behinderung zu reduzieren. Ihre Fähigkeiten und Kompetenzen sowie ihre Persönlichkeit und individuellen Bedürfnisse sollten im Fokus stehen.- Inklusion als Gemeinschaftsaufgabe verstehen
Inklusion sollte eine bereichsübergreifende Gemeinschaftsaufgabe sein, der ein Wertekonsens im Unternehmen zugrunde liegt.- Fehlerkultur und Geduld zulassen
Alle Menschen machen Fehler, auch die Kolleginnen und Kollegen mit Behinderung. Eine positive Fehlerkultur sollte hier auch durch mehr Geduld gekennzeichnet sein.- Berührungsängste und falsche Vorstellungen überwinden
Menschen mit Behinderung brauchen ein gewisses Maß an Betreuung. Aufklärung und Verständnis füreinander helfen, aufeinander zuzugehen und Barrieren abzubauen.- Nicht nur auf Neueinstellungen schauen
Unternehmen sollten bestehende Arbeitsplätze entsprechend anpassen, um diese oft langjährigen Mitarbeitenden zu halten. Schwerbehinderungen treten meist im Laufe des Arbeitslebens auf. Laut einem Bericht des IAB beträgt die Wahrscheinlichkeit, fünf Jahre nach Auftritt der Schwerbehinderung erwerbstätig zu sein, etwa 16 Prozentpunkte weniger als bei Personen ohne Schwerbehinderung.- Begleitete Praktika ermöglichen
Schon beim Übergang von der Schule in das Arbeitsleben sollten Menschen mit Behinderung die Möglichkeiten haben, unterschiedliche Arbeitsfelder kennenzulernen.- „Supported Employment“ oder unterstützte Beschäftigung
Die Bundesagentur für Arbeit organisiert und finanziert Projekte, in denen ein Jobcoach eingestellt wird, um gemeinsam passende Arbeitsplätze zu gestalten.- Budget für Arbeit
Unternehmen können bis zu 75 Prozent Lohnkostenzuschuss von der zuständigen Eingliederungshilfe, etwa dem kommunalen Sozialamt, erhalten. Die genauen Zuständigkeiten variieren je nach Bundesland.- Zusammenarbeit mit Integrationsfachdiensten
Integrationsämter unterstützen und beraten Arbeitgeber bei allen Fragen rund um das Einstellen von Menschen mit Behinderung sowie bei der Vorbereitung auf eine Beschäftigung. Bei der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen (BIH) lassen sich lokale Ämter auffinden.
Wo Unternehmen ins Spiel kommen
Stefan Doose ist Professor für Integration und Inklusion an der Fachhochschule Potsdam. Er appelliert, „die Werkstatt nicht mehr als einzigen Ort zu denken, an dem Menschen unterstützt werden können“. Stattdessen müsse man dafür sorgen, dass Menschen mit höherem Unterstützungsbedarf auch in Unternehmen eine dauerhafte Unterstützung bekommen können. Inklusion ist für ihn eine Frage der Unternehmenskultur. Anne Gersdorff weist darauf hin, dass Unternehmen neben mangelnder Inklusion sogar oft aktiv in das System der Werkstätten mit hereinspielen würden: „Viele lassen in Werkstätten produzieren oder kaufen Dienstleistungen ein und rechnen sich das als Ausgleichsabgabe an. Ich würde mir wünschen, dass mehr Firmen dies hinterfragen.“
Stärken gezielt nutzen
Während Menschen mit Behinderung ein gewisses Maß an Unterstützung erfordern, bringen viele von ihnen auch besondere Fähigkeiten mit. Isabell Pfeufer arbeitet als medizinisch-taktile Untersucherin (MTU) bei Discovering Hands, einem Projekt, das blinde und sehbehinderte Frauen für die Brustkrebsfrüherkennung qualifiziert, da sie durch ihren feinen Tastsinn Tumore frühzeitig erkennen können. Nach anfänglicher Skepsis fand Pfeufer durch eine intensive Ausbildung ihren neuen Beruf: „Die Zusammenarbeit mit den Trainern hat mir besonders gut gefallen, vor allem, weil sie sich so gut auf uns Menschen mit Sehbehinderung eingestellt haben.“ Auch das Material sei ideal auf die angehenden MTUs zugeschnitten gewesen. In ihrer Studienzeit sei das nicht immer gegeben gewesen.
Heute schätzt sie vor allem die enge Beziehung zu ihren Patientinnen: „Viele kommen jedes Jahr wieder“, sagt sie. „Das gibt mir das Gefühl, wirklich etwas zu bewirken.“
Dieser Text entstand im Rahmen der Initiative Jedes Talent zählt. Für eine inklusive Arbeitswelt.
Ihr Beispiel zeigt: Wer sich auf Menschen mit Behinderung einlässt und ihnen entgegenkommt, schafft ein Gefühl von Zugehörigkeit. Das Versprechen von Teilhabe scheint sich viel eher durch ein Zusammenwirken verschiedener Akteure zu erfüllen als durch verhärtete Fronten.
Lesen Sie auch das Interview mit Frank Hoffmann, Gründer von Discovering Hands, über Inklusion und Unternehmertum.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Fake. Das Heft können Sie hier bestellen.