Teure Stereotype

Gleichstellung

Viele rollen zunächst mit den Augen, wenn sie hören, dass das Patriarchat unsere Gesellschaft immer noch im Würgegriff hält. Es sei doch schon so viel geschehen in Sachen Geschlechtergerechtigkeit und irgendwann müsse es doch auch einmal gut sein mit dem Draufhauen auf die Männer. Dem entgegensetzen lassen sich einige Zahlen: Rund 70 Prozent der Bundestagsabgeordneten sind männlich. Sie gestalten den gesetzlichen Rahmen dieses Landes. Die Personen, die diesen dann in deutschen Kommunen umsetzen, sind zu 90 Prozent Männer, also Bürgermeister. Und das im Jahr 2022. Männer leisten laut dem Gleichstellungsbericht der Bundesregierung von 2019 jeden Tag anderthalb Stunden – das sind umgerechnet 68 Arbeitstage à acht Stunden pro Jahr – weniger unbezahlte Sorgearbeit für Kinder, Haushalt und pflegebedürftige Angehörige als Frauen und in den Vorstandsetagen der DAX-Unternehmen sind immer noch deutlich weniger als 15 Prozent der Posten von Frauen besetzt. Keine Frage, es hat sich etwas bewegt in den letzten Jahren. Aber wenn wir nur Fakten betrachten, dann wird deutlich, dass wir noch einen langen Weg vor uns haben.

Wie sehr wir als Gesellschaft aber zum Handeln gezwungen sind, wird dann deutlich, wenn die Folgen des Patriarchats rein volkswirtschaftlich betrachtet werden. Ungesundes männliches Verhalten verursacht jedes Jahr eine Schneise der Verwüstung in den öffentlichen Haushalten – und kaum jemand interessiert sich dafür. Insgesamt entstehen Jahr für Jahr Zusatzkosten in Höhe von mindestens 63 Milliarden Euro durch toxisches männliches Geschlechterverhalten, und zwar nur in solchen Lebensfeldern, die unsere Gesellschaft unnötig belasten. Männer dominieren mit Abstand die Verkehrsunfälle, fast alle Süchte, die häusliche Gewalt, Wirtschaftsstraftaten oder auch das Feld der ungesunden Ernährung. Alle genannten Komplexe belasten unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt und verursachen direkt oder indirekt vollkommen unnötige volkswirtschaftliche Kosten. Wer jetzt gegenrechnen möchte, wie viel höher die Steuerzahlungen der Männer sind oder welche Kosten Frauen durch die Frauenheilkunde oder ein längeres Leben verursachen, wirkt allenfalls zynisch. Dass Männer den Löwenanteil der Steuerlast tragen, entspringt ja gerade einem patriarchalen System der Ungerechtigkeit, das Männern die Lohn- und Frauen die Sorgearbeit zuweist. Und dann die Kosten für das Gesundheitswesen: Da sind unnötig verletzte Menschen im Straßenverkehr durch Raser, ganze Kohorten von Männern, die aufgrund ungesunder Lebensweise das Gesundheitssystem weit überdurchschnittlich belasten oder Tausende Frauen, die in Folge von Partnerschaftsgewalt ärztlich behandelt werden müssen.

Die Ursache für solche systematischen und leider gesellschaftlich tolerierten Fehlentwicklungen sind in vielen Fällen Rollenklischees beziehungsweise Geschlechterstereotype, die Jungen und Männer – und natürlich auch Mädchen und Frauen – von Geburt an prägen und die täglich erneuert werden. Im Beruf, in den sozialen Medien, in der Presse und im Bildungssystem sowie im männlichen Freundeskreis. Jungen lernen früh, dass sie dominant, laut und konkurrenzorientiert handeln müssen, um sich im Wettstreit gegen ihre Geschlechtsgenossen durchzusetzen. Wagen es Jungen und Männer, Gefühle, Überforderung oder Schwäche zu zeigen, wird dies zügig mit männlich konnotierten Abwertungen wie „Memme“, „Weichei“ oder „Warmduscher“ sanktioniert. In der Folge spalten viele Männer ihre Gefühlswelt ab und haben so keinen Zugang mehr zu elementaren Emotionen wie Angst, Unsicherheit, Scham, Traurigkeit oder Trauer. Die Folgen lassen sich dann in den entsprechenden Statistiken ablesen. Was aber können wir tun, damit der patriarchale Kreislauf ungesunden männlichen Verhaltens durchbrochen wird?

Daten und Fakten auf den Tisch

Der erste Vorschlag kann umgehend in die Praxis umgesetzt werden. Daten und Kosten über die extreme Geschlechterschieflage, die in den Tabellenbänden und Archiven deutscher Behörden und Ämter schlummern, müssen dringend an die Öffentlichkeit. Deshalb sollten das Bundeskriminalamt, das Kraftfahrbundesamt, die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, die Bundesanstalt für Straßenwesen oder Destatis einmal im Jahr prominent über die Themenfelder berichten, in denen ein Geschlecht – das wird wohl hauptsächlich das männliche betreffen – überdurchschnittlich viel Schaden anrichtet. Erst wenn die Schieflage bekannt ist und die Folgekosten transparent werden, wird ein Bewusstsein für notwendige Maßnahmen geschaffen. Zudem sind harte statistische Fakten unumstößliche Argumente für notwendiges staatliches Intervenieren.

Die Summe volkswirtschaftlicher Kosten

Patriarchats, Heyne Verlag, 18 Euro, 304 Seiten. Erschienen im Mai

Der digitale Gleichstellungsmonitor

Wenn interessierte Menschen versuchen, sich über Themen wie Geschlechtergerechtigkeit oder Gleichstellung zu informieren, dann benötigen sie viel Zeit. Die notwendigen Statistiken, Studien und Kostendaten sind nämlich wild verstreut in den unterschiedlichsten digitalen und analogen Quellen. Deshalb braucht es dringend eine niedrigschwellige digitale Plattform, auf der alle relevanten Informationen für unterschiedlichste Zielgruppen leicht verständlich nachlesbar sind. Wichtig dabei ist, dass die Daten so abgebildet werden müssen, dass Veränderungen im Zeitablauf nachzuvollziehen sind. Wie verändern sich Gender-Care-Gap, Gender-Pay-Gap oder Gender-Pension-Gap? Sinken die Kosten ungesunden Geschlechterverhaltens im Laufe der Jahre? Nähern sich die Zahlen für Vollzeit arbeitende Väter und Mütter an oder driften sie auseinander? Wie verändert sich die Geschlechterverteilung bei typisch männlich oder weiblich konnotierten Ausbildungsberufen oder Studiengängen? Gelingt es, eine zentrale und aktuelle digitale Plattform der Gleichstellung aufzubauen, dann werden die Gesellschaft, die Medien sowie die Politik schnell nachvollziehen können, wo wir stehen und wo dringend nachjustiert werden muss. Der digitale Gleichstellungsmonitor könnte als Goldstandard für datenbasierte Diskurse und politische Entscheidungsprozesse etablieren.

Geschlechterstereotype durchbrechen

Hier kommt die eigentliche Herausforderung. Geschlechterklischees und ungesunde Rollenstereotype, die Jungen und Männern, aber auch Mädchen und Frauen bestimmte Eigenschaften und traditionelle Verhaltensweisen zuschreiben, haben sich in unserem vom Patriarchat geprägten Gesellschaftssystem über Jahrhunderte schrittweise festgesetzt. Es wird sicher mehr als eine Generation brauchen, dieses System zu dekonstruieren. Das soll uns aber nicht davon abhalten, es wenigstens zu versuchen und jungen Menschen eine Entwicklung frei von gesellschaftlichem Druck zu ermöglichen. Die Demaskierung der Stereotype sollte man schon vor der Geburt eines kleinen Menschen beginnen. Eltern könnten über die sogenannten frühen Hilfen der Jugendämter in Workshops oder Vorträgen auf die Wirkmacht von Stereotypen aufmerksam gemacht werden. In der Folge sollten die Kindergärten Orte werden, die eine Entwicklung frei von „typisch Junge“ oder „typisch Mädchen“ ermöglichen. Hierfür müssen dringend die Curricula der Fachkräfte im Erziehungswesen überarbeitet werden. Auch in Schul- und Ausbildungssystem sollte das Thema „ungesunde Rollenstereotype“ einen prominenten Platz bekommen, zum Beispiel durch Projektwochen zum Thema Gleichstellung, in die auch die Eltern einbezogen werden könnten. Auch erwachsenen Menschen sollte man zutrauen, sich noch weiterentwickeln zu können. Sie erreicht man beispielsweise durch staatlich geförderte Workshops und Fortbildungen in Unternehmen für alle Mitarbeitenden, mit dem Ziel, sich kritisch mit ungesunden Rollenbildern und ihren Folgen auseinanderzusetzen. So kann sich die Gesellschaft dem Einfluss der Medien – besonders der sozialen Medien – entgegenstellen und Programme entwickeln, die zumindest versuchen, für stereotypisiertes Verhalten zu sensibilisieren.

Ungesundes männliches Verhalten wird über einen Zeitraum von 20 Jahren zusätzliche volkswirtschaftliche Kosten in Höhe von mehr als einer Billion Euro verursachen. In Zeiten knapper Kassen ist die Politik gefordert, jetzt massiv in entsprechende Maßnahmen zu investieren, um unnötige Kosten in der Zukunft zu vermeiden. Aber auch, um dem individuellen Leid von Frauen, von Kindern, aber auch von Männern in diesem Land etwas entgegenzusetzen.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Employee Lifecycle. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Boris von Heesen

Boris von Heesen ist hauptamtlicher Vorstand eines Jugendhilfeträgers, Männerberater und Autor von Was Männer kosten. Der hohe Preis des Patriarchats

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