Welches Potenzial steckt in meinen Mitarbeitenden? Wo liegen ihre Stärken? Was machen sie richtig gerne? – Wichtige Fragen, die sich viele Personalverantwortliche in den Unternehmen leider viel zu wenig stellen. Entsprechend herrschen laut einer Kienbaum-Studie zum Talent Management von 2020 „One-Size-Fits-All“-Entwicklungsprogramme in den Firmen vor. Rund die Hälfte der mehr als 1.000 bei der Untersuchung befragten Talente gab an, sich damit eingeengt zu fühlen. So sitzen Mitarbeitende mitunter am falschen Platz oder werden mit ihren Talenten nicht sichtbar. „Die Unternehmen hängen oft noch einem alten Paradigma von Erfolg an“, benennt Eberhard Hübbe, Managing Director im Bereich HR Transformation der Kienbaum Consultants International GmbH, den Knackpunkt. „Sie glauben, dass die Mitarbeitenden bestimmte Kompetenzen haben müssen, deren Ausprägung die Firmen mit einer guten Diagnostik herausfinden wollen, um dann an den vermeintlichen Schwächen zu arbeiten.“ In vielen Unternehmen ist mittlerweile jedoch die Einsicht da: Es ist ein viel zu technokratischer Gedanke davon, wie Menschen sich entwickeln. „Man kann den Mitarbeitenden in einer Organisation auf diese Weise nicht gerecht werden“, sagt Hübbe.
Mitarbeitende in ihrer Persönlichkeit erfassen
„Ein Talentmanagement wie vor 20 Jahren greift heute nicht mehr“, meint auch Stephanie Schorp, Geschäftsführerin der Personalberatungsagentur Comites und Autorin des 2022 erschienenen Buches Persönlichkeit macht Karriere. Die Unternehmen müssten genauer hinschauen und die Mitarbeitenden nicht nur mit ihren Ausbildungen und Berufserfahrungen sehen, sondern sie in ihrer Persönlichkeit erfassen. Hierzu sei unter anderem ein Blick auf ihre Biografie und Sozialisation wesentlich. Laut Schorp gibt es hierfür jedoch keinen Fünf-Punkte-Plan oder Ähnliches. Sie tut sich entsprechend schwer damit, allgemeingültige Tools an die Hand zu geben, um etwa Vorlieben und versteckte Potenziale von Menschen erkennen zu können. „Wichtig ist vielmehr, in den Dialog zu gehen und mit den Mitarbeitenden zu sprechen“, sagt sie. HR könne Führungskräfte dabei unterstützen, beispielsweise, indem die Personaler und Personalerinnen förderliche Strukturen etablieren, um eben solche Gespräche zu ermöglichen. Genau damit engagiert sich Eva Stock, Chief People and Marketing Officer bei der Digitalagentur Comspace, gerade in ihrem Unternehmen. Um in den Austausch mit den Mitarbeitenden gehen zu können und zu verstehen, was jede einzelne Person antreibt, hat sie gemeinsam mit ihren Teams und den Führungskräften flächendeckende Eins-zu-eins-Gespräche zwischen der Teamleitung und den Mitarbeitenden im Unternehmen eingeführt. „Die Gespräche sind nicht primär dafür gedacht, harte Kompetenzen zu erfassen“, stellt sie klar. „Vielmehr wollen wir herausfinden, ob der Mitarbeitende sich in seinem Job wohlfühlt.“ Daher laute bei diesen Gesprächen auch immer die erste Frage: „Wie geht es dir gerade in deinem Job?“ Letztlich sollen diese Feedbackgespräche den Dialog zwischen den Unternehmensanforderungen und den Bedürfnissen der einzelnen Mitarbeitenden fördern. Dadurch wird laut Stock der Weg für mehr Offenheit und Flexibilität geebnet. Ihrer Überzeugung nach ist das Interesse für Themen und Aktivitäten, die Mitarbeitende auch außerhalb des Unternehmens verfolgen, sowie für eventuelle Nebenjobs und ehrenamtliche Engagements nämlich der entscheidende Aspekt, um weitergehende Potenziale zu heben und gegebenenfalls neue Perspektiven bis hin zu Querwechseln innerhalb des Unternehmens zu ermöglichen. Zu wenige Unternehmen hätten dies bislang erkannt. „Für die meisten sind nur jene Aktivitäten und Interessen der Mitarbeitenden wertvoll, die unmittelbar zum Unternehmenserfolg beitragen. Viele Unternehmen stehen Nebentätigkeiten ihrer Mitarbeitenden gar skeptisch gegenüber“, bemängelt Stock.
Agilere Herangehensweise nötig
Wie so häufig im Unternehmenskontext kommt es demnach auf die Haltung an. Entscheidend ist ein Mindset, das eine insgesamt agilere Herangehensweise zulässt. Laut Michael Bugge, Professor für Personalmanagement an der Hochschule Düsseldorf, entwickeln sich förderliche Strukturen, um die Kompetenzen von Mitarbeitenden erkennen und fördern zu können, quasi parallel mit New Work im Sinne von Agilität. „Es entsteht ein anderes Beziehungsgefüge im Unternehmen und der Handlungsspielraum für die Mitarbeitenden vergrößert sich“, erläutert er. Ein wesentlicher Punkt dabei ist, dass den Menschen im Unternehmen mehr Eigenständigkeit und Selbstverantwortung zugestanden wird. Das heißt letztlich, dass Talentmanagement demokratischer gelebt werden muss, wie Eberhard Hübbe es ausdrückt. Der eingangs erwähnten Kienbaum-Studie zum Thema Talentmanagement zufolge sind Mitarbeitende durchaus bereit, ihre Entwicklung selbst zu steuern: Die Mehrheit der Befragten gab an, dass sie befähigt, nicht bevormundet werden wollen. Für HR bedeutet dies wiederum, hilfreiche Rahmenbedingungen zu schaffen und die Leitplanken für die Prozesse der Selbstverantwortung zu setzen. „Den Mitarbeitenden sollten Möglichkeiten gegeben werden, Dinge auszuprobieren – in konkreten Projekten oder indem sie für bestimmte Themen die Verantwortung übernehmen und Aufgaben selbst gestalten“, sagt Hübbe. Sinnvoll insbesondere sei auch, geschützte Räume zur Selbstreflexion zu bieten – etwa in Form von Mentorenprogrammen oder mittels Peer-to-Peer-Gruppen.
Eigenen Bedürfnissen auf den Grund gehen können
Die Digitalagentur Comspace unterstützt ihre Mitarbeitenden mit einem eigenen Coaching- und Facilitation-Team – etwa wenn beim Feedbackgespräch herauskommt, dass sich jemand mit der aktuellen Tätigkeit nicht richtig wohlfühlt. „Ein Instrument hierbei ist beispielsweise eine Entwicklungs-Canvas, wo gemeinsam mit der Teamleitung, People and Culture sowie gegebenenfalls dem Coaching-Team geschaut wird, wo die Stärken des Mitarbeitenden liegen und wo für ihn oder sie die Reise hingehen kann“, erläutert Eva Stock. Im Verlauf gehe es auch darum zu konkretisieren, wie man die Wünsche und Themen in den bestehenden Arbeitsablauf integrieren oder wie man den bisherigen Job anreichern könne. Auch Jobs und Rollen neu zuzuschneiden, sei ihr Unternehmen prinzipiell offen gegenüber. Im Dialog mit den Mitarbeitenden werde eruiert, was schnell möglich ist und was aktuell vielleicht nicht realistisch umgesetzt werden kann. „Ein realistischer Dialog, der mit konkreten Meilensteinen und Zielen versehen ist, ist das Ziel beim Thema persönliche Weiterentwicklung“, so Stock.
„Wie auch immer man es anstößt, wichtig ist, dass die Mitarbeitenden anfangen, ihren eigenen Bedürfnissen auf den Grund zu gehen – und dass sie sich dann auch trauen und ihnen die Möglichkeit gegeben wird, ihre Komfortzone zu verlassen“, sagt Beraterin Stephanie Schorp. Es liege an den Führungskräften, das entsprechende Zutrauen zu vermitteln und Impulse zu setzen, damit die Mitarbeitenden schauen können, was sie wollen und was sie motiviert. Dies gelinge jedoch nur mit der richtigen Führungsphilosophie, die auf einem ganzheitlichen humanistischen Menschenbild basiere.
Auf den Kontext achten
Die richtige Haltung schließt darüber hinaus ein, die Dinge systemisch zu betrachten. „Wenn ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin schlechte Leistung zeigt, liegt dies nicht zwingend an dessen beziehungsweise deren mangelnden Qualitäten. Es kann auch sein, dass das Umfeld bestimmte Fähigkeiten blockiert. Oder der Mitarbeitende hat angesichts der umgebenden Umstände keine Chance, sich der eigenen Potenziale überhaupt bewusst zu werden“, sagt Wirtschaftswissenschaftler Michael Bugge. Während seiner früheren Tätigkeit als Personalleiter in einem Unternehmen hat er mitunter erlebt, dass Mitarbeitende mehr Leistung gezeigt haben, nachdem sie in eine andere Abteilung gewechselt sind. Bugge rät daher dazu, stärker auf den Kontext zu achten, in dem der oder die Mitarbeitende sich bewegt.
Strategisch systemisch vorzugehen ist allerdings nicht einfach und erfordert viel Zeit für die Analyse. Ein wichtiger Schritt ist laut Bugge in jedem Fall aber, den Begriff des Underperformers zu relativieren. Vorschnelle Zuschreibungen sind nach Ansicht von Stephanie Schorp ohnehin nicht zielführend. Sie plädiert für jegliche reflektierende Aktivitäten, um die Potenziale der Mitarbeitenden zu erkennen. Das gelte auch für Management-Audits, bei denen es schon länger nicht mehr darum gehe, Führungskräfte zu bewerten, als vielmehr deren Stärken herauszufinden, um ihnen entsprechende Hinweise geben zu können, wo sie sich hinentwickeln sollten. „Der Blick von außen ist dabei sehr wertvoll. Ich rate dazu, dass Unternehmen mehr externe Unterstützung hinzuziehen“, sagt Schorp.
Stärken stärken
Der Ansatz, sich auf die Stärken und Potenziale der Mitarbeitenden zu konzentrieren und diese zu stärken, gewinnt insgesamt zunehmend mehr an Bedeutung. „Langsam, aber sicher setzt sich in vielen Unternehmen die Überzeugung durch, dass die Menschen gut in dem werden, was sie tun, wenn sie ihren Job gerne tun“, sagt Kienbaum-Berater Eberhard Hübbe. Bleibt zu hoffen, dass die Firmen das nötige Durchhaltevermögen für diesen Ansatz mitbringen. Wie HRlerin Eva Stock weiß, muss man jeden Tag daran arbeiten, um eine neue Kultur der Offenheit zu etablieren. „Dazu gehört auch, darauf zu achten, dass sich nicht doch wieder einschleicht, dass einzelne Mitarbeitende Tätigkeiten nachgehen, die eigentlich nicht mehr in ihren Bereich fallen. Das braucht von beiden Seiten Disziplin“, sagt sie. Grundsätzlich mehr Offenheit für den Stärken-stärken-Ansatz in den Unternehmen sowie eine größere Flexibilität, was Jobprofile angeht, sieht auch sie. Angesichts des Fach- und Führungskräftemangels ist diese Entwicklung eine folgerichtige Konsequenz: Durch den leer gefegten Markt geht schließlich kaum ein Weg daran vorbei, aus einer anderen Perspektive auf die eigenen Mitarbeitenden zu schauen.
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