Wir leben in einer Welt, die zunehmend von künstlicher Intelligenz geprägt ist. Täglich hören wir von neuen Tools und Fortschritten, die uns zeigen, wie Maschinen lernen, denken und sich Wissen aneignen. Dabei sollten wir nicht den Ursprung vergessen: die menschliche Intelligenz. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird Intelligenz oft im weitesten Sinne verwendet: als Synonym für die allgemeine Fähigkeit zu denken. Dabei beschränkt sich die kognitive Intelligenz laut dem Neurowissenschaftler Henning Beck auf „die Fähigkeit, Probleme effizient zu lösen“. Beck ist studierter Biochemiker und Neurowissenschaftler. Kognitive Intelligenz definiert er weiter als „ein Optimierungsverfahren im Gehirn“.
Sie ermöglicht es uns, unsere Denkressourcen so effizient wie möglich einzusetzen. Je intelligenter ein Mensch ist, desto weniger Aufwand muss er in der Regel betreiben, um ein bestimmtes Problem zu lösen. Laut Beck sei Intelligenz nicht in einem bestimmten Hirnareal zu verorten, sondern „eine Fähigkeit, die entsteht, wenn verschiedene Hirnareale miteinander interagieren“. Ähnlich wie in einem Orchester, für das viele verschiedene Instrumente nötig sind, damit eine harmonische Melodie entstehen kann. Intelligenz brauche etwa 20 bis 22 Jahre, um organisch ihr Maximum zu erreichen. Danach bleibe die Intelligenz eines Menschen über die Jahre aber relativ konstant, erklärt Beck. Das liege vor allem daran, dass die Nervenfasern lange Zeit brauchen, um sich entsprechend zu strukturieren.
Der Schlüssel zur Intelligenz
„Intelligenz ist eine kognitive Eigenschaft, die sehr stark von den Genen beeinflusst wird“, sagt Beck. Die Gene geben das Maximum dessen vor, was Menschen an Intelligenz erreichen können. Aber nur weil jemand gute Gene hat, sei er noch lange nicht intelligent. Ob dieses Maximum erreicht werde, hänge von Umweltfaktoren ab.
Das bestätigt auch Elsbeth Stern, Psychologin und Professorin für Lehr- und Lern-Forschung an der ETH Zürich: „Wer die besten genetischen Voraussetzungen hat, aber nicht lesen, schreiben, lernen oder rechnen kann, wird nicht die Intelligenz entwickeln, die er unter anderen Bedingungen hätte entwickeln können.“ Stern beschäftigt sich als kognitive Psychologin vor allem mit dem Lernen und Lehren von mathematischen und naturwissenschaftlichen Fächern aus kognitions- und lernpsychologischer Sicht. Auch die schulische Bildung spielt eine zentrale Rolle für die Entwicklung der eigenen Intelligenz, sind sich Stern und Beck einig. Symbolsysteme wie Rechnen oder Lesen helfen dabei, Informationen effizienter zu speichern und für logische Schlussfolgerungen zu nutzen. „Je mehr Wissen wir uns aneignen und je mehr Erfahrungen wir sammeln, desto besser können wir dieses Wissen kombinieren“, sagt Beck. Wer diese Bildung nicht genossen hat, sei automatisch im Nachteil, somit sei Intelligenz auch ein Privileg.
Dreiklang Intelligenz, Lernen, Wissen
Obwohl Intelligenz zu einem gewissen Grad durch Gene und Umweltfaktoren wie die eigene Bildung vorbestimmt ist, gibt es dennoch einen Spielraum, sie auszubauen und anzuwenden. Viele Unternehmen werben damit, dass sie das Lernen ihrer Mitarbeitenden kontinuierlich fördern. Um zu verstehen, wie das gelingen kann, hilft ein Blick auf den Zusammenhang von Intelligenz, Lernen und Wissen. Der Neurowissenschaftler Henning Beck erklärt die Zusammenhänge anhand eines dreistufigen Modells. Während die Intelligenz selbst (Ebene eins) die Rechenleistung des Gehirns beschreibt, ist das Lernen (Ebene zwei) eine Form der Anwendung dieser Rechenleistung. Das Wissen (dritte Ebene) schließlich beschreibt die Erfahrungen, die ein Mensch macht, die Umwelt, die ihn dabei unterstützt, und die Möglichkeit, die erworbenen Informationen anzuwenden.
„Je höher die Intelligenz, desto größer die Chance auf einen Lernerfolg“, sagt Elsbeth Stern. Dennoch gilt: „Wenn ein weniger intelligenter Mensch mehr Zeit mit einer Sache verbringt als ein intelligenter Mensch, dann ist der weniger Intelligente in der Regel erst einmal besser.“ Das Vorwissen hat also auch einen großen Einfluss auf die Lernfähigkeit.
„Das Problem ist nicht, dass die Menschen nicht intelligent genug geboren werden, sondern dass wir unsere Fähigkeiten oft nicht voll ausschöpfen“, so Beck. Das liege unter anderem daran, dass sich der Mensch in der heutigen Zeit sehr leicht ablenken lasse. Ständig tauchen Störreize auf, die die Konzentration erschweren. Gleichzeitig betrachte der Mensch das Gehirn oft fälschlicherweise als eine Art Festplatte, so Beck, auf der Dinge gespeichert werden können.
Das sei nicht der Fall. Vielmehr denke der Mensch in Mustern und Zusammenhängen. Glücklicherweise verfügt das Gehirn über einen Mechanismus, um bei so vielen Reizen den Überblick zu behalten: den Hippocampus. Beck bezeichnet ihn als eine Art Trainer des Großhirns. In einer Region in der Mitte gelegen, fungiert er als eine Art Warmhalteplatte. Hier werden die wichtigsten Informationen des Tags zwischengespeichert. In der Nacht präsentiert der Hippocampus der Großhirnrinde diese Informationen. Werden sie als wichtig eingestuft, passt das Gehirn verschiedene Nervenverbindungen so an, dass das Erregungsmuster der Nervenzellen beim nächsten Mal leichter ausgelöst werden kann. Das Ergebnis ist ein Lernprozess.
Eine Lernkultur am Arbeitsplatz schaffen
Um das Maximum an Intelligenz auch im Unternehmen ausschöpfen zu können, braucht es innerhalb der Belegschaft eine gesunde Lernkultur. Dabei gilt es folgende Dinge zu beachten:
- Zeit einplanen: Wer komplexe Dinge verstehen will, muss sich dafür Zeit nehmen. Von „Druckbetankungen“ und halbtägigen Seminaren dürften Unternehmen laut Stern keine großen Lernfortschritte erwarten. Lernen sei ein kontinuierlicher Prozess.
- Anreize schaffen: Ohne den richtigen Anreiz zum Lernen, fehlt bei Mitarbeitenden der Ansporn für Veränderung. Gibt es zum Beispiel ein neues digitales System, dessen Umgang Mitarbeitende erlernen sollen, sollte genau erklärt werden, warum es eingeführt wird und was die Vorteile und Ziele (auch für die Beschäftigten selbst) sind. Das Erlernen von neuen Dingen sollte sich für Beschäftigte niemals anfühlen wie „Schikane“, wie Stern es betitelt.
- Fehlerkultur etablieren: Eine der besten Techniken, um das Lernen zu fördern, ist laut Beck „die Freiheit, Dinge ausprobieren zu können“. Dafür brauche es in Unternehmen ein geschütztes Umfeld, in dem Leute selbstverständlich einmal „auf die Nase fallen können“ und ihnen hinterher wieder aufgeholfen werde. Menschen die Freiheit zu geben, Fehler zu machen, ist laut Beck eine Führungsfrage.
- Anwendung und Praxis: Für das Lernen innerhalb der Organisation gilt: Machen statt reden. Das bedeute, so Beck, den Mitarbeitenden immer Beispiele zu geben, sie Aufgaben konkret anwenden und Prozesse testen zu lassen. Mit der KI bestehe die Möglichkeit, sich „innerhalb von Sekunden unendlich viele Testfragen zu beliebigen Themengebieten erstellen zu lassen“. Sich selbst zu testen, sei „keine Möglichkeit, sich zu blamieren, sondern die beste Möglichkeit für effektives Lernen“.
Kein Konkurrenzkampf
Es steht außer Frage, dass die künstliche Intelligenz unsere Denkmuster in gewisser Weise beeinflusst. Laut Beck liege das zum Beispiel daran, dass die KI uns genau das zeigt, was zu uns passt. „Das spricht dafür, dass Menschen in ihrem Denken eher einfältiger werden oder noch mehr in ihren eigenen Denkmustern verharren.“ Gleichzeitig biete die KI aber auch viele Möglichkeiten, sich durch die Gestaltung von Bildern, Texten und Videos neu auszudrücken. Wichtig sei vor allem ein kritischer Umgang mit ihr.
Parallel dazu sei „das Beste, was wir tun können, die Menschen mit einer guten Allgemeinbildung auszustatten, ihnen beizubringen, selbst aktiv zu denken, Dinge zu hinterfragen, Dinge zu testen und sich mit anderen auszutauschen“, so Beck. Auch Stern sieht in der KI positive Effekte: „Wir können schneller auf Informationen zugreifen und mehr Aufgaben delegieren.“
Dem Begriff selbst steht sie aber kritisch gegenüber. Eine Bezeichnung wie „maschinelle Intelligenz“ wäre ihrer Meinung nach treffender. Künstliche Intelligenz ist eben kein Naturphänomen, sondern das Ergebnis unserer eigenen Denkleistung. Sie wird die Menschheit nicht ersetzen, sondern uns vielmehr neue Möglichkeiten bieten, wenn wir ihre Chancen klug und kritisch hinterfragen. Denn am Ende bleibt die menschliche Intelligenz der Ursprung aller Entwicklungen – auch der künstlichen Intelligenz.
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Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Skills. Das Heft können Sie hier bestellen.