Wie das Wissen im Unternehmen bleibt

Wissenstransfer

Sie wissen, dass Ihre Lieblingskundin ihren Kaffee am liebsten mit zwei Stück Zucker und Hafermilch trinkt? Solch ein Wissen kann den entscheidenden Unterschied machen. Doch das ist vielen nicht bewusst. Wissen ist Macht – das gilt auch für Erfahrungswissen. Wissen ist auch Geld. Menschen, die aus einem großen Wissensreservoir schöpfen, sind auf dem Arbeitsmarkt viel wert. Sie beherrschen ihr Fachgebiet, kennen die jeweilige Branche und wissen, wen sie zu welchem Thema konsultieren können. Vor allem ältere Beschäftigte haben über Jahrzehnte Expertise aufgebaut und Erfahrungen gesammelt. Scheiden sie aus dem Erwerbsleben aus, nehmen sie all das mit – es sei denn, sie haben es vorher weitergegeben.

Noch nie war ein funktionierender Wissenstransfer so essenziell wie derzeit. Die Baby-Boomer, also die geburtenstarken Jahrgänge von 1950 bis 1969, gehen in Rente – und mit ihnen jahrelang erworbenes Wissen und gewonnene Kontakte. Fast 13 Millionen Deutsche scheiden laut Statistischem Bundesamt in den kommenden 15 Jahren aus dem Erwerbsleben aus. Dass Unternehmen, und allen voran HR, hier gefordert sind, liegt auf der Hand. Doch beim systematischen Wissensmanagement gibt es Verbesserungsbedarf: Mit 46 Prozent empfindet nicht einmal die Hälfte der Büroangestellten in Deutschland und Österreich den Wissensaustausch in ihrem Unternehmen als strukturiert, zeigt eine Studie des Dokumentenmanagement-Spezialisten Kyocera. Damit Wissenstransfer funktioniert, braucht es nämlich ein System – und das haben längst nicht alle.

Benjamin Nakhosteen, Wissensmanagementspezialist bei Thyssenkrupp, kennt das Problem: Als er Ende der 2000er Jahre zum Essener Stahlkonzern kam, wurde dort zwar Wissen punktuell weitergegeben, aber von flächendeckender Systematik keine Spur. Nakhosteen, der an der Technischen Universität Dortmund zum Wissensmanagement in der Produktion promoviert hatte, entwickelte ein Wissensmanagement für die komplette Stahlsparte mit Schwerpunkten auf Wissenstransfer und Wissensspeicher. Als Grundlage für den Wissenstransfer diente ihm unter anderem die sogenannte Wissensstafette, eine Methode, die beim Autobauer Volkswagen Ende der neunziger Jahre entwickelt wurde.

Die Methodik: Zu Beginn der Wissensstafette wird vereinbart, welches Wissen weitergegeben werden soll. Das ist vor allem prozesskritisches und strategisch relevantes Wissen, das nur bei einzelnen Personen vorliegt. Aber auch implizites Erfahrungswissen, das sich Menschen im Laufe von Jahrzehnten aneignen – wie die Kaffeepräferenz des Lieblingskunden –, zählt dazu. Wer ein halbes Jahr für den Wissenstransfer Zeit hat, kann mehr Themen abhandeln als jemand, der gekündigt hat und in vier Wochen weg ist. Und: Nicht alle Kenntnisse müssen zwangsläufig weiterleben: „In Unternehmen, die sich beispielsweise einen Kulturwandel verordnet haben, ist es womöglich gut, wenn gewisse tradierte Verhaltensmuster mit den in Rente gehenden Personen ausscheiden“, sagt Nakhosteen. Stehen die Kernthemen für die Übergabe fest, führt eine unabhängige Person halbstrukturierte oder strukturierte Interviews mit den Wissensträgerinnen und Experten sowie jenen, die das Wissen empfangen sollen, um auszuloten, welche Kenntnisse auf beiden Seiten vorhanden sind. Das, was auf Seite der Empfangenden fehlt, wird dann in moderierten Gesprächen weitergegeben.

Die Vorbereitung der Gespräche kommt bei Thyssenkrupp aus der Personalabteilung. Hier kümmern sich aktuell vier Personen kontinuierlich um das Thema – mit wechselnden Anteilen ihrer Kapazität. In einer Wissens­transfermappe, die es digital und gedruckt gibt, sind unter anderem alle Elemente des Prozesses erklärt, die Rollen und Zuständigkeiten beschrieben. Auch eine schriftliche Vereinbarung liegt bei: Hier unterschreiben Ausscheidende und Wissensempfangende, dass sie den Wissenstransfer durchführen wollen, wie viel Zeit sie pro Woche dafür investieren, und sie halten zudem die zu übertragenden Aufgaben fest. Die jeweilige Führungskraft entscheidet, wer welches Wissen an wen weitergibt. Auch die Transferbegleitung, die Führungskraft und der Betriebsrat zeichnen gegen. „Das macht die gegenseitige Verpflichtung und die Relevanz deutlich“, sagt Nakhosteen. In der Regel dauert der Wissenstransfer mindestens ein halbes Jahr, pro Woche werden rund drei Stunden Austausch fällig. Diese Richtwerte werden je nach Komplexität der Aufgaben angepasst.

Für den Wissensaustausch haben Nakhosteen und sein Team mehr als 150 Leitfragen entwickelt, die sie 20 Kategorien zugeordnet haben, darunter etwa „regelmäßige Aufgaben“, „Arbeitssicherheit“ und „Dos and Don’ts“. „Die Fragen werden kontinuierlich über den gesamten Wissens­transfer in den regelmäßigen Austauschgesprächen von Wissensgeber und Wissensnehmer genutzt“, sagt Nakhosteen. Wissens­transfer findet auch nicht immer am Tisch statt. Wer seine Kontakte weitergibt, nimmt sein Gegenüber beispielsweise mit in einen Arbeitskreis oder zum Netzwerktreffen.

Implizites Wissen weitergeben

Die Fragen unterstützen die Wissenstandems dabei, auch implizites Wissen weiterzugeben – also Erfahrungen, ungeschriebene Gesetze und Kniffe. „Erfahrungswissen ist schwer zu beschreiben, die meisten wissen gar nicht, dass sie es haben“, sagt Anke Schiffer-Chollet. Die Beraterin hat deshalb das Format Wissenswerkstatt entwickelt, in dem sie implizites Wissen sichtbar macht. In ihrer Wissenswerkstatt betreut sie Führungskräfte und auch ganze Teams. Sie arbeitet ebenfalls mit Fragen: „Ich bitte die Teilnehmenden, eine besonders schwierige Situation zu schildern. Dann schauen wir uns an, wer beteiligt war und welche Lösung gefunden wurde“, sagt sie. Dabei kommt womöglich heraus, dass die zähe Verhandlung wohlwollender wurde, als die Kundin ihren Kaffee mit zwei Stück Zucker und einem Schluck Hafermilch bekommen hat. Das visualisiert Schiffer-Chollet, mal mit bunten Klebezetteln, mal mit Legosteinen auf dem Boden. Der Kaffee ist womöglich der kleinste Legostein, kann aber ein ganzes Gebilde zusammenhalten. Will ein alteingesessener Geschäftsführer sein Wissen an die Nachfolgerin weitergeben, nutzt Schiffer-Chollet zum Beispiel Seile: Jedes Seil symbolisiert einen Meilenstein, die Seile können auch untereinander verflochten sein. „Es kommt nicht drauf an, wie man das Wissen sichtbar macht, sondern, dass man es tut“, sagt die Beraterin.

Bei Thyssenkrupp identifizieren im ersten Schritt die Führungskräfte diejenigen mit viel Erfahrungswissen. „Das ist nicht nur aus Personalsicht wichtig, auch der TÜV schaut bei seinen Qualitätsmanagement-Audits genau hin, wie das Wissen der Organisation bewahrt wird“, sagt Nakhosteen. Entscheidende Prozesse, vor allem in der Produktion, dürfen nämlich nicht nur von einer Person abhängig sein, es muss mindestens eine stellvertretende Person geben, um die Prozesssicherheit zu gewährleisten. Und hier geht es eben nicht nur um Fachwissen, sondern vor allem um Erfahrung. Rund 500 demografisch bedingte Austritte muss Thyssenkrupp jedes Jahr abfedern. „Natürlich ist nicht jeder Mensch davon ein systemkritischer Wissensträger, aber ein paar Hundert kommen da schon zusammen“, sagt Nakhosteen. Die Führungskräfte entscheiden, wer zu systemkritischen Wissensträgern gehört. Nicht nur Personen, die das Unternehmen verlassen, sollten ihr Wissen weitergeben, sondern auch diejenigen, die intern wechseln.

In jedem Unternehmensbereich der Thyssenkrupp-Stahlsparte arbeitet zudem inzwischen mindestens eine Person, die durch E-Learnings und Präsenztraining die Rolle der Transferbegleitung übernehmen könnte. „Viele Paarungen brauchen gar keine Begleitung“, sagt Nakhosteen, da die Systematik des Wissenstransfers auf Selbststeuerung ausgelegt ist. Wenn es doch mal im Prozess hakt, stehen die Moderierenden zur Seite. Sie kommen aus dem jeweiligen Bereich und kennen die Kolleginnen und Kollegen. Probleme können etwa entstehen, wenn die Person, die ihr Wissen weitergeben soll, keine Lust darauf hat. Oder wenn sich ein junger Kollege nicht traut, eine ältere Kollegin auszuquetschen. Um die Motivation für den Wissenstransfer zu steigern, haben diejenigen, die Wissen empfangen, den Hut auf. „Das ist ungewöhnlich, aber effektiv“, sagt Nakhosteen. „Wer sich Wissen neu aneignen muss, hat eine hohe intrinsische Motivation.“ Am Ende des Wissenstransfers verschickt die Personalabteilung Fragebögen, die von Führungskraft, Wissensgeber und Wissensnehmer ausgefüllt und zurückgesendet werden. „Über diese quantitative Rückmeldung haben wir eine statistische Aussage zum Erfolg der Methode und zur Zufriedenheit der Beteiligten“, sagt Nakhosteen. „Darüber hinaus erhalten wir natürlich in den Gesprächen, die wir mit den Beteiligten führen, qualitatives Feedback, sodass wir daraus und mit den Fragebogenergebnissen die Methode kontinuierlich verbessern und optimieren ­können.“

Erfolgsrezept Reverse Mentoring

Der Versicherer Allianz setzt darauf, dass Jung von Alt lernt – und umgekehrt. „Wir haben erstmals fünf Generationen im Unternehmen“, sagt Angelika Inglsperger, die das People Department in der Global-HR leitet. Seit Anfang 2022 hat die Allianz das Konzept des Reverse Mentoring konzernweit umgesetzt, bei dem beide Parteien voneinander lernen. In Frankreich etwa gibt es jetzt ein Reverse-Mentoring-Programm, in dem Beschäftigte, die älter als 50 Jahre sind, mit Millennials zusammenkommen. Mindestens vier Mal im Jahr sollten sich die Paare austauschen. Die Jungen zeigen den Älteren beispielsweise, worauf es beim digitalen Kundenerlebnis ankommt, und erhalten im Gegenzug etwa fachliches Know-how. „Hier geht es vor allem darum, Fachwissen in beide Richtungen weiterzugeben“, sagt Inglsperger. Eigen­initiative ist gefragt: Wie bei einer Tauschbörse können Mentoring-Interessierte der deutschen Gesellschaften im Intranet Gesuche und Angebote veröffentlichen. Wer beispielsweise nach 20 Jahren im Job sein Vertriebswissen weitergeben will, inseriert im Intranet. 250 Tandems sind daraus schon entstanden. Die Allianz-Personalabteilung unterstützt die Tandems mit einem Briefing-Dokument. Darin enthalten sind unter anderem Leitfäden dazu, wie oft sich die beiden treffen sollten und wie das erste Treffen ablaufen könnte.

Um das Wissen von Beschäftigten, die in Rente gehen, auf die nachfolgenden Generationen zu übertragen, baut die Allianz zudem eine Business Intelligence Unit auf. Hier sollen künftig von HR ausgewählte erfahrene Personen Beratungsfunktionen einnehmen und in verschiedene Projekte innerhalb des Konzerns springen. Sie könnten etwa als Interimslösung in einer Einheit unterstützen, in der gerade jemand ausfällt – auch wenn sie die Abteilung gar nicht kennen. Hier schlägt die Allianz zwei Fliegen mit einer Klappe: Langjährige Beschäftigte können vor dem Ruhestand noch einmal etwas anderes sehen und daraus neuen Schwung schöpfen – gleichzeitig übergeben sie ihr Wissen an die nachkommenden Generationen. Eine gelungene Transferleistung.

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Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Employee Lifecycle. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Anna Friedrich, Foto: Privat

Anna Friedrich

Redakteurin
Wortwert
Anna Friedrich arbeitet seit 2017 bei wortwert in Köln. Sie schreibt regelmäßig für den HRM.

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