Herr Schmidt, der ehemalige CEO von Hewlett Packard, Lewis E. Platt, soll mal gesagt haben: ,,If HP knew what HP knows, we would be three times as profitable“. Liegt ein Großteil des Wissens in den Unternehmen brach?
Ja. Und das ist auch der Grund, warum man das Thema Wissensmanagement seit einiger Zeit wieder verstärkt in den Fokus nimmt, weil man sich bewusst geworden ist, dass wahnsinnig viele Potenziale brach liegen.
Warum ist das so?
Es wird ja unterschieden zwischen dem expliziten und impliziten oder auch dem bewussten und unbewussten Wissen. Vieles was man weiß, ist einem gar nicht bewusst. Da kommt man dann nur dran, wenn man die Menschen dazu bringt, es an die Oberfläche zu holen, aber selbst wenn man das versucht, wird man nicht alles abschöpfen können.
Dieses Interview stammt aus der Ausgabe Wissen und erschien erstmals im Dezember 2010. Im Rahmen der 50. Ausgabe wurde das Interview 2018 um neue Erkentnisse ergänzt. Im Rahmen unseres 15. Jubiläums stellen wir nach und nach unsere Lieblingsstücke aus der Redaktion, auch aus dem Archiv, online.
Ist das das Wissen, was sich vor allem aus Erfahrung ergibt?
Genau. Werte, Überzeugungen, die durch Erfahrungen entsprechend wachsen, über Jahre und Jahrzehnte hinweg. Das Ziel von Wissensmanagement sollte aus meiner Sicht sein, etwas mehr von diesem Potenzial zu heben. Den Anspruch zu haben: Wir wollen alles. Das ist illusorisch. Denn man kann nur begrenzt, das, was man weiß, verbalisieren und weitergeben.
Und deshalb bleibt Wissen oftmals ein nicht zu bergender Schatz …
Hinzu kommt noch was anderes. Es gibt diese berühmten drei Barrieren: Können, Wollen, Dürfen. Das sind die hauptsächlichen Hinderungsgründe, warum Wissen sich nicht in der Organisation verteilt. Beim Können geht es um die Frage: Bin ich überhaupt in der Lage es zu verbalisieren? Das Wollen ist hingegen eine Motivationsfrage. Ein Wissensträger, der beispielsweise aus dem Unternehmen ausscheidet, muss auch offen und bereit sein, das Wissen weiterzugeben. Wenn er aber entlassen wird, dann können Sie zwar versuchen eine Wissensweitergabe durchzuführen. Das Problem ist nur: Er wird Ihnen unter Umständen gar nichts sagen oder nur Belanglosigkeiten. Und selbst wenn er ausführlich und konkret von seinen Erfahrungen berichtet, können Sie nicht sicher sein, ob er Ihnen nicht relevante Details vorenthält. Auf der Ebene der Motivation hat man also einen ganz großen Hebel zur Mobilisierung von Wissen.
Und was hat es mit der Barriere Dürfen auf sich?
Die ist von politischer Natur. Ein Mitarbeiter möchte gerne, aber darf nicht. Es kann sein, wie zum Beispiel in der Energiebranche, dass man aus Compliance-Gründen Wissen aus bestimmten Bereichen der Energiewirtschaft gar nicht austauschen darf. Bestimmte Kollegen aus verschiedenen Gesellschaften eines Konzerns müssen in solchen Fällen regelrecht abgeschottet werden. Das gibt der Gesetzgeber vor. Wir müssen also Nicht-Wissen managen. Wenn ich das Teilnehmern auf Tagungen sage, dann sind die im ersten Moment total irritiert.
Aber es gibt auch andere Ebenen in Firmen ab einer bestimmten Mitarbeitergröße, zum Beispiel Rivalitäten in bestimmten Bereichen des Unternehmens, da sagt dann der Abteilungsleiter – mal salopp gesprochen: Ne, mit denen reden wir nicht. All das verhindert natürlich den Austausch von Wissen.
Warum ist es überhaupt notwendig, dass in einem Unternehmen Wissensmanagement betrieben wird?
Wissen ist ein limitierender Faktor. Das Thema Demografie, das derzeit in aller Munde ist, ist deshalb ein Treiber für Wissensmanagement. Oder: Man will zum Beispiel expandieren, will die Zukunft gestalten und stellt dabei fest: Hoppla, da fehlt uns ja was. Wo ist eigentlich das Wissen, das wir brauchen, um unsere zukünftigen Aufgaben bewältigen zu können? Und damit kommt bei vielen Firmen das Thema Wissensmanagement wieder auf die Agenda.
Aber ist nicht zumindest der Begriff Wissensmanagement mittlerweile unpopulär geworden?
Ja, das ist nicht ganz falsch.
Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Die Gründe hierfür sind sehr vielfältig. Es fängt schon damit an, dass man sich nicht einig ist, was Wissensmanagement eigentlich ist. Wenn sie zehn Leute dazu befragen, bekommen sie zehn unterschiedliche Antworten. Der Begriff ist sehr schwammig. Vieles läuft inzwischen unter Kompetenzmanagement oder im Zweifelsfall sogar unter Enterprise 2.0. Es gibt mittlerweile unterschiedlichste Label, unter denen Wissensmanagement betrieben wird.
Ergänzung 2018:
Die Bedeutung von Wissen wächst stetig durch den Strukturwandel hin zur Wissensökonomie. Ablesen lässt sich dies vor allem an der Quote der Erwerbstätigen in hochqualifizierten Berufen: 1992 betrug sie 33 Prozent, 2016 44,5 Prozent. Prognosen bestätigen diesen Trend. Wissensmanagement muss mehr denn je sachkundig und konsequent betrieben werden, um zukunftsfähig zu bleiben. Ein weiterer Grund ergibt sich mit Blick auf die betriebliche Praxis. Die Aufgaben, die hinter einem professionellen Wissensmanagement stecken, sind in der Regel auf unterschiedliche betriebliche Funktionen wie HR, IT oder Kommunikation verteilt. Hier muss unbedingt koordiniert werden, denn immer wieder kommt es zu Problemen bei der Zuordnung von Verantwortlichkeiten, was oft zu Reibereien führt, die Zeit und Geld verschwenden.
Viele Unternehmen setzen verstärkt auf Kompetenzmanagement.
Das ist richtig, aufgrund der demografischen Herausforderung vor der wir stehen und des Fachkräftemangels. Hier steht der Mensch im Zentrum der Betrachtung und das ist grundsätzlich nicht falsch. Allerdings ist darauf zu achten, dass Wissensmanagement aus zwei Kernelementen besteht, die man nicht gelöst voneinander betrachten darf. Das eine ist der Mensch – seine Kompetenzen, deren Erwerb und Einsatz. Auf der anderen Seite ist es das, was man unter dem Oberbegriff Informationslogistik zusammenfassen kann. Vor zehn Jahren hatten wir diese Dimension mehr im Fokus. Man hat damals immer von Wissensmanagementsystemen gesprochen, intelligenter Suche, Datenbanken. Dann hat man allerdings festgestellt, dass dieser Ansatz nicht zum Ziel führt. Was einen Schatten auf das gesamte Thema Wissensmanagement geworfen hat.
Jetzt hat man das Thema Kompetenzen im Auge. Ich habe ein bisschen die Sorge, dass dadurch die Informationslogistik vernachlässigt wird. Denn es braucht beides. Das ist für mich das Entscheidende, diese beiden Aspekte intelligent miteinander zu verzahnen.
Ist das der Hauptunterschied zum Kompetenzmanagement, dass dieses die IT nicht berücksichtigt?
Ja, wobei ich in diesem Zusammenhang nicht von IT, sondern eher von Informationsbasis sprechen würde. Beim Kompetenzmanagement macht man eine Bestandsaufnahme: Wie sind diese, bezogen auf unsere Ziele in der Zukunft, zu bewerten? Reichen die Kompetenzen bei uns im Unternehmen? Wie sind diese, bezogen auf unsere Ziele in der Zukunft, zu bewerten? Reichen die Kompetenzen? Die Informationsbasis ist bei dieser Betrachtung völlig außen vor. Wenn man ernsthaft Wissensmanagement betreibt, muss man aber diese Dimension genauso betrachten.
Hat denn das Aufkommen von Social Software wie Wikis und Blogs dem Wissensmanagement einen Auftrieb gegeben?
Auf jeden Fall. Man merkt es zum Beispiel auf Tagungen, denn dort haben diese Themen in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Zu beachten ist allerdings, dass der Erfolg des Einsatzes von Web-2.0-Technologien stark von der Unternehmenskultur abhängt. Insofern sind die Erfolgsgeschichten mit Vorsicht zu genießen, denn diese sind nicht ohne weiteres eins zu eins von einem Unternehmen auf ein anderes übertragbar. So müssen beispielsweise in manchen Firmen die Mitarbeiter für einen Eintrag im Intranet erst die Freigabe ihrer Führungskraft einholen. Dieser Zustand veranschaulicht sehr plastisch, dass dort die notwendige Kultur noch nicht vorhanden ist.
Ich würde gerne noch mal auf ihre Rolle bei EnBW kommen. In welchem organisatorischen Bereich sind Sie angesiedelt?
Ich bin bei der EnBW Energie Baden-Württemberg AG bei der Holding angesiedelt und zwar im Vorstandsbereich Personal. Das halte ich für eine sehr gelungene Verortung des Wissensmanagements. Denn Wissen steckt zwischen den Ohren. Mit der Ansiedlung im HR-Bereich wird nach außen hin, aber auch innerhalb des Unternehmens, dokumentiert: Wir haben verstanden, was der erfolgskritische Faktor im Wissensmanagement ist, nämlich der Mensch. Insofern sind alle HR-Manager – zumindest im übertragenen Sinne – ganz klassische Wissensmanager.
Wo könnte man es denn noch verorten im Unternehmen?
In anderen Unternehmen ist es eher in der IT angesiedelt, was ein Indiz dafür ist, wo der Fokus gesehen wird. Dann gibt es auch noch interessante Kombinationen mit Qualitätsmanagement, Organisation, Unternehmensentwicklung oder auch mit dem Thema Lernen. Das ist bei uns durch die konzerneigene Gesellschaft für Personal- und Managemententwicklung, die EnBW Akademie, vertreten. Ich kooperiere sehr eng mit einem Kollegen der Akademie. Wir zwei sind diejenigen, die die konzernweiten Wissensmanagement-Aktivitäten koordinieren und vorantreiben.
Was ist der Kern dieser Aktivitäten? Welchen Zweck verfolgt speziell die EnBW mit ihrem Wissensmanagement?
Wir benutzen vor allem das Instrument der Wissensbilanz. In diesem Kontext redet man vom intellektuellen Kapital. Was wir versuchen ist, mit einer konsequenten Ausnutzung des Potenzials, das in unserem intellektuellen Kapital steckt, die Zukunftssicherheit unseres Unternehmens zu gewährleisten. Es geht auf der organisationalen Ebene darum, Gestaltungsspielräume für das Unternehmen mindestens zu erhalten oder sogar zu erweitern. Auf der individuellen Ebene versuchen wir die Einsatzfähig der Mitarbeiter durch Wissensmanagement auszubauen.
Versuchen Sie denn auch Ihr intellektuelles Kapital im Rahmen der Wissensbilanz zu bewerten?
Das ist genau das, was die EnBW mit dem Einsatz der Methode „Wissensbilanz- Made in Germany“ mittlerweile seit fünf Jahren erfolgreich macht. Sie wurde vom Bundeswirtschaftsministerium initiiert und wir sind das Unternehmen in Deutschland, das inzwischen mit Abstand den größten Erfahrungsschatz in der Anwendung dieser Methode hat.
Was machen Sie konkret?
Wir erstellen alle zwei Jahre in zwölf Konzerngesellschaften der EnBW Wissensbilanzen nach diesem Ansatz. Diese konsolidieren wir zu einer Konzernübersicht. Wir betrachten unser intellektuelles Kapital – damit meine ich das Human-, Struktur- und Beziehungskapital – wir betrachten, was wir heute haben, bezogen auf unsere mittelfristigen strategischen Ziele. Dabei werden bestimmte Entwicklungsfelder offenbar. Man sieht zum Beispiel, wenn wir die Ziele erreichen wollen, müssen wir an diesen und jenen Stellen nachlegen. Was wir auch festgestellt haben, die Ergebnisse der Wissensbilanzen sind für die Kapitalmarktkommunikation geeignet und deshalb seit 2005 Bestandteil unserer Geschäftsberichte.
Mit welchen Bereichen im Konzern arbeiten Sie als Wissensmanager zusammen?
Die praktische Umsetzung dessen, was in den Wissensbilanzen analysiert wurde, vollziehen die einzelnen Konzerngesellschaften. Auf der Ebene des Humankapitals sind das die Personalbereiche, auf der Ebene des Strukturkapitals sind diejenigen Bereiche in den Konzerngesellschaften gefragt, die sich um das Thema Organisation kümmern. Hier geht es um Prozesse und Kommunikation.
Seit 2008 gibt es bei der EnBW die Wissensstafette. Dieses Instrument soll helfen, bei einem Personalwechsel das Wissen des bisherigen Stelleninhabers systematisch für seinen Nachfolger verfügbar zu machen. Verlaufen denn solche Übergaben vom alten auf den neuen Mitarbeiter in der Regel eher chaotisch in Unternehmen?
Es gibt Unternehmen, die betreiben hier einen großen Aufwand. Dort arbeiten Wissensgeber und -nehmer monatelang zusammen. Das ist das Idealszenario, das sich allerdings immer seltener realisieren lässt. In der Regel ist es so, dass am 30. eines Monats der Mitarbeiter A geht und B am Ersten des Folgemonats kommt. In diesem Fall muss man mit einer pragmatischen Lösung versuchen das Wesentliche zu transferieren. Das kann mit einer Methode wie der Wissensstafette gelingen.
Und das verläuft strukturiert?
Wenn man eine Wissensstafette macht, dann passiert das strukturiert. Zuerst wird der Transfer in Einzelgesprächen zwischen Moderator und Wissensgeber sowie Wissensnehmer vorbe-reitet. Erst danach gibt es dann ein oder mehrere Gespräche zwischen Wissensgeber und -nehmer, die vom Moderator in Form einer Mindmap protokolliert werden.
Haben Sie denn schon selbst bei einem Jobbeginn eine nicht so gelungene Wissensweitergabe erlebt?
Ich hatte in meinem Berufsleben schon mehrere Firmenwechsel und habe dabei schon so manche absurde Geschichte erlebt. Einmal bin ich an meinem ersten Tag an den Schreibtisch gekommen und dort lagen zwei Stapel – lose Blatt-sammlungen, Hängeregister mit Folien, Bucher, alles kunterbunt aufeinander geschichtet. Mein Chef sagte: „Herr Schmidt, lesen Sie das und dann wissen Sie alles“. Das habe ich auch getan, es hat mehrere Wochen gedauert. Nach einer Kulanzzeit von einem Vierteljahr habe ich dann jedoch dauernd den Satz gehört: Herr Schmidt, das müssen Sie doch wissen.“ Etwa nach einem Jahr habe ich verstanden, dass das, was auf der Folie auf dem rechten Stapel oben war, in Bezug stand zu der Blattsammlung im linken Haufen unten. Dieses Beispiel zeigt, dass man jemanden braucht, der einem das vermittelt, der einen anleitet. Und das passiert bei der Wissensstafette.
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Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Wissen. Das Heft können Sie hier bestellen.