Der Leistungssport verfügt über ein riesiges Netzwerk aus Vereinen, Trainern und Funktionären in ganz Deutschland. Alle haben nur ein Ziel: Zukünftige Spitzensportler heranzuziehen. Personaler können von solchen Recruiting-Strukturen nur träumen. Oder sich ein paar Dinge abschauen.
Vor lauter Euphorie zerriss er sein Trikot. Robert Harting hatte es geschafft: Mit einem Wurf von 68,27 Metern erlöste der Diskuswerfer Leichtathletik-Deutschland von einer langen Pannenserie. Harting holte bei den Olympischen Spielen in London im Sommer 2012 nach zwölf Jahren endlich wieder eine Goldmedaille für Deutschland. Seitdem hat der Mann einen Lauf: 2013 folgte Gold bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Moskau, 2014 noch mal Gold bei der Europameisterschaft in Zürich. Harting gehört seither zu den deutschen Top-Athleten. Der Zwei-Meter-Mann wirft den Diskus so weit wie kein anderer, und als charismatisch gilt er ebenfalls. Seit seinem Erfolg bei Olympia wurde der Diskuswerfer bereits drei Mal in Folge zum Sportler des Jahres gekürt.
Doch Harting hat sich keineswegs alleine hochgekämpft. Er wurde gecastet, recruited, ist durch Dutzende Assessments gegangen, hat sich messen und vergleichen lassen. Er ist auch ein Erfolg ausgefeilter Personalarbeit. Nur dass die Talentsuche und Förderung für künftige Olympioniken nicht Personalarbeit heißt. Doch sie läuft genauso, wie sich Personaler deutscher Großunternehmen das auch für die eigene Firma wünschen würden: Kein Top-Talent entgeht der sportlichen Rasterfahndung. Der Human Resources Manager zeigt, welche fünf Strategien sich Personaler davon abschauen können:
1. Ein feinmaschiges Netz
Das Organigramm des deutschen Leistungssports gleicht der pyramidalen Struktur vieler Großunternehmen: Die Basis bilden die Sportvereine, die man von Sylt bis ins Allgäu an jeder Straßenecke findet. Hier fangen die Jungathleten an, unter denen sich womöglich künftige Weltmeister befinden. Turnen kann man deutschlandweit, gerudert wird dort, wo es Flüsse und Seen gibt. Wintersport geht nur in den Bergen. Es gibt Kreis-, Bezirks- und Landesverbände, auf Bundesebene sammeln sogenannte Bundesleistungszentren und Olympiastützpunkte die allerbesten ein – es sind die Kaderschmieden der Elite.
„Die Talentförderung funktioniert wie ein großer Filter“, erklärt Moritz Anderten, Sportpsychologe an der Deutschen Sporthochschule Köln und am Olympiastützpunkt Rheinland. „Kinder fangen ihr Hobby in Sportvereinen an, trainieren und verbessern ihre Leistungsfähigkeit. Sie beginnen, an offenen Wettkämpfen teilzunehmen und klettern so auf den Ranglisten nach oben. So kommen die Besten immer weiter an die Spitze.“ Vereins-, Bezirks-, Landesmeisterschaften – das feinmaschige Netz aus Wettkampfklassen setzt sich so lange fort, bis schließlich die Besten der Bundesländer gegeneinander antreten. Jeder Athlet der olympischen Disziplinen durchläuft das System. Ganz oben, in den deutschen Olympiastützpunkten, kommen nur Top-Sportler an, solche wie Diskuswerfer Harting. Seinen ersten bedeutenden Titel errang er 2001, mit gerade einmal 16 Jahren, es dauerte elf Jahre, bis er mit freiem Oberkörper im Londoner Olympia-Stadion stand. Im Profi-Fußball oder Motorsport gibt es ein ähnlich umfangreiches Talent Management, nur ist es dort weit weniger föderalistisch – die Clubs und Ställe betreiben private Programme.
Bei den Unter-18-Jährigen seien große Leistungssprünge noch kurzfristig möglich, weiß Jörg Peter, Bundestrainer der deutschen U-18-Leichtathletik-Mannschaft. „Aber ab dem U-23-Bereich weiß man um jeden, der das Zeug für internationale Wettkämpfe hat.“ Einen Sprinter, der im Schwarzwald unentdeckt schneller läuft als Usain Bolt, kann es laut Peter eigentlich nicht geben.
Learning für HR-Manager: Werfen Sie Ihre Netze möglichst breit aus. Rufen Sie Bonussysteme ins Leben, für Mitarbeiter, die hoffnungsvolle Kollegen oder auch Externe für Jobs empfehlen. Verpflichten Sie alle Führungsebenen – auch in kleinen Filialen auf dem Land –, Talente zu suchen und nach oben zu vermitteln.
2. Einfache Tests, große Wirkung
HR-Manager wählen meist einfach aus den Bewerbern aus, deren Anschreiben in ihrem E-Mail-Postfach eingetrudelt sind. Dass sie professionelle Headhunter einsetzen, dürfte bei Nachwuchstalenten eher die Ausnahme sein. Anders im Leistungssport: Laut Leichtathletik-Trainer Jörg Peter gibt es ab der Erwachsenenmannschaft keine Quereinsteiger mehr, circa 85 Prozent der Olympiateilnehmer stammen aus dem Nachwuchs der Nationalmannschaften (U18 und U20), der Rest war vorher aber auch schon für die Trainer sichtbar. Sie alle wurden also frühzeitig professionell gescoutet.
Das funktioniert, weil es Unmengen von Daten über jeden Sportler gibt. Schon die Jüngsten im Verein messen sich in Tests wie 30-Meter-Fliegen oder einem Fünfer-Sprunglauf miteinander, Trainer erfassen wieder und wieder ihre Zeiten und vergleichen die Jungathleten permanent miteinander. „Bei den sportmotorischen Tests können Trainer bereits bestimmen, ob jemand einen schnellen Fuß hat, also mit weiterem Training zum Top-Athleten werden kann“, sagt Peter.
Learning für HR-Manager: Nutzen Sie Datenbanken für Bewerber, Praktikanten, Trainees und Angestellte. Halten Sie die Ergebnisse von Tests, Assessment-Centern, die Beurteilungen von Vorgesetzten und Arbeitszeugnisse nach – und nutzen Sie solche Daten auch (soweit datenschutzrechtlich möglich), um Talente zu erkennen.
3. Intuition mit System
Doch es ist nicht nur das System aus Zahlen und Wettkampftabellen, das den Erfolg ausmacht, sondern auch der richtige Riecher erfahrener Trainer. So ermittelte Leichtathletik-Trainer Peter mit Kollegen im vergangenen Jahr acht vielversprechende Newcomer für den 400-Meter-Lauf anhand der Wettkampfleistungen, lud die Jugendlichen dann aber nach Kamen zu einem Sichtungstraining ein. „Die Jugendlichen absolvierten verschiedene Trainingsformen und Spiele“, erinnert sich Peter. Ihm fiel einer der Jungen besonders auf. Bei den darauffolgenden Jugendmeisterschaften wurde dieser Junge Deutscher Meister. Auch bei Diskuswerfer Harting sei früh zu spüren gewesen, dass er das Zeug für mehr hat, erinnert sich Peter.
Oft erhält Peter auch Tipps von Trainern der Landesverbände, sich den einen oder anderen Athleten bei einem Wettkampf genauer anzuschauen. „Jeder Trainer möchte, dass die Besten gefördert werden“, sagt Peter. Der Grund dafür? „Trainer sind Sportfans, sie wollen gute Sportler an der Spitze sehen.“
Learning für HR-Manager: Daten helfen bei der Auslese, doch Recruiter müssen am Ende eben doch auf ihre Erfahrung und ihr Bauchgefühl vertrauen dürfen. Noch eine Lektion gibt es zu lernen: HRler sollten Mentoring-Programme auflegen. Wer seinen Schützling eine gewisse Zeit begleitet hat, setzt sich hoffentlich auch dafür ein, ihn für höhere Weihen zu empfehlen. Wie ein Trainer.
4. Intensive Betreuung, sonst droht der Abbruch
Die regionale Organisation der Leistungssport-Stützpunkte verlangt den Jungathleten viel ab: Sie müssen noch in der Pubertät das Elternhaus verlassen und auf ein Sport-Internat gehen. Oder sie fordern ihren Eltern einen stetigen Fahrdienst ab. Viel Freizeit bleibt nicht. „Zwei Trainingseinheiten pro Tag sind für junge Leistungssportler eher die Regel als eine Seltenheit“, sagt Sportpsychologe Anderten. „Hinzu kommen nationale und sogar internationale Wettkämpfe am Wochenende.“
Sich im Kindesalter für bis zu 15 Jahre im Voraus dem Leistungssport zu verpflichten, ist viel verlangt. „Von einem 13-Jährigen kann man schwer die Fähigkeit erwarten, sich für mehr als ein Jahrzehnt für den Sport zu entscheiden“, sagt Anderten. „Viele brechen ab, bevor sie an der Spitze sind, obwohl sie dorthin hätten kommen können.“ Dass das eine Herausforderung ist, können auch erfahrene Personalmanager nur bejahen, schließlich kennen auch sie diejenigen, die kurz vor dem Ende ihrer Ausbildung hinschmeißen, oder vielversprechende Jungmanager, die dem Leistungsdruck nicht mehr standhalten.
„Wenn Sportler anfangen, über ihr Leben nachzudenken, stört viele, dass es an ihnen vorbeirauscht“, sagt Anderten. Auf Landesebene sind in einigen Sportarten Austrittsraten von bis zu 50 Prozent und mehr zu verzeichnen, berichtet der Sportpsychologe. Auch der psychische Druck macht sich bemerkbar. „Wir müssen sehr sorgsam mit der psychischen Gesundheit der jungen Talente umgehen“, sagt Anderten. Überforderungen, Depressionen, Essstörungen, Burn-out sind nicht nur Erscheinungen im Erwachsenenalter. Sie plagen auch jugendliche Leistungssportler. Besonders nach Verletzungen und verpatzten Wettkämpfen leiden viele Sportler. „Eine kontinuierliche und professionelle sportpsychologische Betreuung trägt deshalb entscheidend dazu bei, um die Menschen im Leistungssport zu halten“, sagt Anderten.
Learning für HR-Manager: Wer Nachwuchstalente einfach nur im Alltagsstress ausbrennen lässt, riskiert sie zu verlieren. Also muss man psychologisch auf sie Acht geben.
5. Langjährige Perspektive, langjähriger Erfolg
Im Gegensatz zu Fußball, Handball und vielleicht noch einigen Wintersportarten können Sportler olympischer Disziplinen in der Regel kein oder nur wenig Geld mit ihrem Sport verdienen. Manche Spitzensportler studieren viele Jahre oder verpflichten sich als Sportsoldat bei der Bundeswehr. Zu Beginn ihrer Sportkarriere sind sie auf die intensive Unterstützung ihrer Eltern angewiesen. Nach 15 Jahren Profisport haben sie oft keine Berufserfahrung, manche müssen dann immer noch ihr Studium abschließen.
Doch auch dafür hat die Olympioniken-Förderung eine Lösung. Die Sportstiftung NRW arbeitet etwa in dem Projekt „Zwillingskarriere“ mit Unternehmen zusammen. Top-Athleten sollen neben ihrer Sportkarriere einen Einstieg in das Berufsleben via Praktika, Stipendien, Trainee-Programme oder individuell ausgehandelter Jahresteilzeitarbeitsplätze finden. „Die Unternehmen geben den Sportlern Zeit zum Trainieren und eine langfristige Perspektive neben und nach der Sportkarriere“, sagt Jürgen Brüggemann, Geschäftsführer der Sportstiftung NRW. Dadurch bleibt nebenbei Zeit, um weiter für Olympia trainieren zu können. Mit Unterstützung aus der Wirtschaft hat die Stiftung bereits über 20 Sportler in Unternehmen untergebracht, etwa den deutschen Wasserball-Nationalspieler Julian Real bei dem Metall- und Chemieindustriekonzern Grillo-Werke; die Jugend-Weltmeisterin im Beachvolleyball Isabell Schneider bei Henkel; und Moritz Kröplin, den deutschen Meister im Florettfechten, beim Spezialmaschinenbauer GEA. Diskuswerfer Harting, der als Ideengeber der gerade erst gestarteten Deutschen Sportlotterie selbst finanzielle Sportförderung betreibt, hat bis vor kurzem Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste in Berlin studiert – und fährt somit ebenfalls zweigleisig.
Learning für HR-Manager: Was Mitarbeitern fehlt, ist die Freizeit. Personaler können Sabbaticals und Teilzeitstellen für Manager vorsehen, damit diese Zeit haben, ihre Kinder zu erziehen, die kranken Eltern zu pflegen – oder einfach mit 30 eine Weltreise zu machen.