Sexarbeiterinnen. So werden Prostituierte, erotische Tänzerinnen oder Darstellerinnen gern in Pornofilmen bezeichnet. Doch der Begriff führt in die Irre, denn „Arbeiter“ – also jemand, der als Angestellter gegen Lohn körperliche Arbeit verrichtet – sind sie nicht. Vor allem sind sie sind nicht angestellt. „Sexunternehmerinnen“ würde es eher treffen, noch passender wäre „Freiberuflerinnen“, ähnlich wie niedergelassene Ärzte, Wirtschaftsprüfer oder Schriftsteller. Denn als gewerbliche Tätigkeit kann man diese Berufe aus dem Sexgewerbe nicht anmelden. Nicht nur wegen der diffusen Begrifflichkeit bleibt es kompliziert mit dem ältesten Gewerbe der Welt.
In Deutschland steht wohl kein Ort so sehr für das Rotlichtgewerbe wie der Hamburger Kiez. Auf der „sündigsten Meile der Welt“ – eigentlich ist sie nur 930 Meter lang – und in ihren Nebenstraßen spielt sich ab, was andernorts verboten ist: Prostitution auf der Straße. In diesem Bereich arbeiten etwa 400 Prostituierte. Dazu kommen Tänzerinnen, die in Table-Dance-Läden ihr Geld verdienen. Das Geschäft für die Prostituierten, die in den Laufhäusern oder auf der Straße auf ihre Kunden, im Fachjargon „Freier“, warten, ist auf dem Hamburger Kiez streng geregelt.
Dieser Artikel stammt aus der Ausgabe Freiheit des Human Resources Manager und erschien erstmals 2018. Im Rahmen unseres Jubiläums stellen wir nach und nach fünfzehn Artikel aus dem Archiv online.
Der Mann, der das genau weiß, ist Hauptkommissar Oliver Joneleit vom LKA 65 der Hamburger Polizei. Die Dienststelle des Landeskriminalamts bekämpft die Rotlichtkriminalität. Jede Frau, die auf der Straße oder in den Laufhäusern arbeitet, habe einen Zuhälter, sagt Joneleit. Dabei handele es sich nicht um Zuhälter im strafrechtlichen Sinne, also Menschen, die Frauen ausbeuten, indem sie ihnen mehr als 50 Prozent des Liebeslohns abnehmen und Arbeitszeiten, Praktiken und Preise dafür vorschreiben. Zumindest kann man es ihnen nicht nachweisen. Solche Männer sind „Geschäftspartner“.
Sie haben die Kontakte zu den Betreibern der Steigen, zu den Zimmervermietungen für kurzfristige Nutzung, oder zu den Laufhäusern, eine Art bordellartiger Betriebe mit Einzelzimmern. Diese Männer vermitteln „ihren“ Frauen die Plätze in einem Laufhaus oder auf dem Straßenstrich. „Ohne sie kann keine Frau dort arbeiten“, sagt Joneleit. Die Geschichte von der Studentin, die sich auf dem Kiez ihr Studium finanziert, hält er für eine Legende.
Recruiting nach „Loverboy-Methode“
Der Arbeitstag für die Sexarbeiterinnen auf dem Hamburger Kiez ist hart. Auf dem Straßenstrich arbeiten sie sechs Tage die Woche, täglich von 20 Uhr bis 6 Uhr. Die Zeit gibt die Sperrgebietsverordnung vor. Außerhalb dieser Zeit ist Prostitution auf der Straße verboten. An kaum einem anderen Ort in Deutschland wird Pünktlichkeit als Tugend derart gelebt. Punkt 20 Uhr stehen die Frauen auf ihren Plätzen. Der Nachwuchs an Sexarbeiterinnen wird durch die Männer aus dem Milieu rekrutiert. Ein nicht unerheblicher Teil der Frauen kommt aus dem Ausland. Vor allem seit Rumänien und Bulgarien Mitgliedsstaaten der EU sind, kommen viele Prostituierte im Rahmen der Freizügigkeit nach Hamburg. Die Herkunft hängt stark von den Verbindungen ab, die jene Männer haben, die im Rotlichtmilieu aktiv sind. Aber auch die Ausrichtung der Bordelle spielt eine Rolle. Teilweise werden Frauen auch ins Rotlichtmilieu gelockt – meist mit völlig falschen Versprechungen.
Knapp die Hälfte der Prostituierten auf dem Hamburger Kiez sind Frauen aus Deutschland. Sie werden meist von Männern angeworben, wie es schon vor rund 40 Jahren Männer mit Spitznamen wie „der schöne Klaus“, „Korvetten-Ralf“ oder „Karate-Tommy“ getan haben: „Da hat sich nicht viel verändert“, sagt Joneleit. Die Frauen werden in Diskotheken oder anderen Treffpunkten mit der „Loverboy-Methode“ angesprochen, erzählt der LKA-Mann. Es wird geflirtet, man geht eine Beziehung ein. „Fünf, sechs oder acht Wochen bereitet der Mann ihnen den Himmel auf Erden“, sagt der Hauptkommissar. Erst dann offenbart der Mann, dass er aus dem Rotlichtmilieu stammt. Die Frauen werden dann vor die Wahl gestellt: ganz oder gar nicht. Entweder Trennung oder
Milieu.
Dazu gehöre dann auch die Prostitution. Auf sich gestellt. Für Charlie Hansen, Generalsekretärin vom Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen, ist der Hamburger Kiez nicht repräsentativ für das Sexgewerbe. Sie selbst arbeitet mit einer Agentur, die für sie das Marketing und die Kundenkommunikation übernimmt, sich aber auch um Sicherheitsaspekte kümmert. Ein Arbeitgeber ist eine solche Agentur nicht. Eher ein Dienstleister, sagt Hansen. Viele der Frauen würden ohne einen tonangebenden Mann im Hintergrund arbeiten. „Es ist ein sehr vielfältiges und kein zusammenhängendes Milieu. Es läuft auf vielen Ebenen.“ Aktuell sei die Prostitution ein Gewerbe, das im Umbruch ist. Der Auslöser ist das neue Prostituiertenschutzgesetz, das im Juli 2017 in Kraft trat. Demnach brauchen Prostituierte nunmehr eine Anmeldebescheinigung. Zudem muss jedes Prostitutionsgewerbe eine Erlaubnispflicht vorweisen.
„Ich wüsste nicht, an welchen Stellen dieses Gesetz die Prostituierten besser schützt“, sagt sie. Es erschwere die Situation für die Frauen. Und kleinere Betriebe, in denen wenige Frauen sich zusammengetan haben, könnten sich nicht mehr halten. „Die schaffen einfach nicht den behördlichen Genehmigungsprozess.“ Das neue Gesetz wird laut Hansen das Gewerbe stark verändern. Übrig blieben nur die großen bordellartigen Betriebe und Frauen, die ganz allein für sich arbeiten.
„Viele allein arbeitenden Frauen wollen sich nicht überwachen lassen“, sagt Hansen. Das habe vielfältige Gründe. Als Prostituierte in einer ländlichen Gegend registriert zu sein, bringe für die Frauen Probleme. Gerade dort, wo der Behördenmitarbeiter ein Bekannter oder sogar Verwandter sein kann, sei die Scheu sich anzumelden noch größer. Frauen werden so in Nischen gedrängt, in denen sie unauffällig und ohne Anmeldung bei der Behörde arbeiten können. So gebe es immer mehr Prostituierte, die sich auf männliche Kundschaft in Altenheimen spezialisierten. „Sexualbegleitung“
nennt das Hansen.
Dass sich Frauen nicht anmelden, um der Steuer zu entgehen, glaubt Hansen nicht. LKA-Mann Oliver Joneleit kann es sich dagegen schon vorstellen. Denn mit den Daten der Prostituierten gehen die Behörden nur bedingt vertrauensvoll um. Sie werden dem Finanzamt gemeldet. Dort gibt es auch Finanzbeamte, die sich auf den steuerlichen Umgang mit Prostituierten spezialisiert haben. Mehr Ausstiegs- als Einstiegsberatung Charlie Hansen sieht einen dringenden Bedarf an Beratung für Frauen, die sich für die Prostitution entscheiden. „Sie haben in der Regel keine Erfahrung, worauf sie achten müssen“, sagt sie. Neben dem Kerngeschäft seien Marketing, Buchhaltung, Krankenversicherung oder Altersvorsorge wichtige Themen und eben auch die Vorgaben des Prostitutionsschutzgesetzes. Zwar gebe es viele Beratungsstellen für Prostituierte, die in der Regel aber eine Ausstiegs- und nicht eine Einstiegsberatung leisteten. Das liege auch an der Finanzierung der Beratungsstellen: Viele Geldgeber würden es nicht zulassen, dass Frauen der Weg in die Prostitution mit fundierter Beratung erleichtert wird.
Eine der wenigen Stellen, die diese Einstiegsberatung bieten, ist Hydra in Berlin. Dort spricht man aber von einer „Orientierungsberatung“. Diese werde sehr gut angenommen, sagt eine dort arbeitende Sozialpädagogin. Bei der Beratung sei es aber nicht nur Ziel, den Frauen den Weg zu ebnen. „Die Frauen kommen mit dem Wunsch zu uns, im Bereich der Prostitution tätig zu sein, wobei die Vorstellung von dem Beruf und die Realität wahnsinnig weit auseinanderliegen.“ So sei eine Folge der Orientierungsberatung, dass deutlich mehr als 30 Prozent der Frauen von ihrem Vorhaben abließen.
Dass es schwer ist, über das Gewerbe einen Überblick zu bekommen, zeigen auch die Anmeldezahlen im Rahmen des Prostitutionsschutzgesetzes in Hamburg. Bislang hat sich in der Hansestadt nur ein Teil der Prostituierten registrieren lassen. „Das Fachamt befindet sich seit dem 30. Oktober 2017 im Aufbau“, sagt Marcel Schweitzer. Er ist Sprecher der zuständigen Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration. „Es gelingt uns seitdem, anders als anderen Städten und Kommunen in Deutschland, Termine zu vergeben und Beratungsgespräche zu führen sowie Anmeldebescheinigungen auszustellen.“
Täglich würden neue Termine vergeben werden. Insgesamt wurden bislang 616 Beratungsgespräche und 612 Anmeldebescheinigungen ausgestellt. Über 700 Termine seien noch offen. Die Behörde ging bislang von bis zu 5.500 Prostituierten aus, die in der Hansestadt dem Gewerbe nachgingen. Beim LKA geht man von einer deutlich niedrigeren Zahl aus. Danach sind es etwa 2.500 Frauen, die sich in Hamburg auf dem Kiez, in bordellartigen Betrieben, Saunaclubs außerhalb von St. Pauli und in etwa 200 Wohnungen verteilt über das gesamte Stadtgebiet prostituierten. „Das ist jedoch nur eine Schätzung“, sagt Joneleit.
Man habe die Zahl der Prostituierten anhand der bekannten räumlichen Gelegenheiten und unter Berücksichtigung der Mehrfachbelegung von Betten hochgerechnet. Schwierig sei eine seriöse Schätzung auch deswegen, weil viele Frauen die Arbeitsplätze nicht nur innerhalb Hamburgs, sondern in ganz Deutschland oder sogar europaweit wechseln, während andere Frauen, gerade im Zuge von Armutsprostitution, für wenige Wochen vor allem aus Rumänien oder Bulgarien nach Hamburg kommen, um hier der Prostitution nachzugehen. Sie melden sich in der Regel nicht bei den Behörden an. Ein großer Teil der angemeldeten Prostituierten dürften aus dem Bereich St. Pauli stammen, wo die Überwachung einfacher ist. Die Betreiber der Steigen und Bordelle achten darauf, dass die Frauen angemeldet sind. Denn bei Verstößen drohen ihnen und nicht den Prostituierten hohe Strafen von bis zu 50.000 Euro.
Susis Show Bar
Ganz anders läuft es bei Susis Show Bar auf der Großen Freiheit. Seit 40 Jahren gibt es den Nightclub, den die Namensgeber Susi und Heinz Ritsch betreiben. „Bei uns sind die Mitarbeiter fest angestellt“, sagt Heinz Ritsch. Gearbeitet und abgerechnet wird wie in jedem normalen Gewerbetrieb. Zwischen zehn und 15 Mitarbeiter, im Sommer weniger, im Winter mehr, stehen in Susis Show Bar in Lohn und Brot. Neues Personal zu gewinnen ist für Ritsch kein Problem.
„Früher haben wir Annoncen in Tageszeitungen geschaltet“, sagt er. „Heute geht das über das Internet. Über unsere Homepage melden sich Bewerberinnen bei uns.“ Dann wird ein Termin vereinbart. Die Chemie zwischen allen müsse stimmen. In anderen Fällen kommen Bewerberinnen direkt in den Nightclub. Nachwuchsprobleme gebe es bisher keine. Die Frauen, die in den wenigen noch verbliebenen seriösen Nachtclubs wie Susis Show Bar oder dem ein paar Hausnummer weiter befindlichen Dollhouse tanzen, haben in der Regel nichts mit Prostitution zu tun. Vermutlich.
„Wenn es um Straftaten wie Menschenhandel oder Förderung der Prostitution geht, sind bei den betroffenen Frauen keine aktiven oder ehemaligen Tänzerinnen dabei“, sagt LKA-Mann Oliver Joneleit. Das Rotlichtgewerbe ist vielschichtig und rekrutiert sich aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Es gibt auch männliche Prostituierte. Die sind für die Fachleute vom Landeskriminalamt aber kein Thema. Und auch bei den Anmeldungen im Rahmen des Prostitutionsgesetzes spielen sie keine Rolle.
Vermutlich arbeiten die Männer, wie ihre weiblichen Kolleginnen, auf eigene Rechnung. Über diese Szene gibt es nur wenige Erkenntnisse. Sie ist geheimnisvoll und arbeitet im Verborgenen. An den „Runden Tisch Prostitution“, der 2010 in Hamburg gegründet wurde, hat sich aus dieser Szene, trotz Bemühungen, bislang noch niemand gesetzt.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Freiheit. Das Heft können Sie hier bestellen.