Nichtregierungsorganisationen verfolgen ideelle Ziele. Muss auch die Personalleitung diese leben? Nora Winter ist Head of HR bei der Berliner Ernährungsorganisation ProVeg, die sich für einen fleischlosen Lebensstil einsetzt. Wir haben sie gefragt, wie aktivistisch ihre HR-Arbeit sein muss, wie sie Mitarbeitende vor dem Burn-out schützt und was sie tut, wenn Jobinteressierte nicht vegetarisch leben.
Frau Winter, wann haben Sie zuletzt Fleisch gegessen?
Nora Winter: Ich habe 2007 beschlossen, vegetarisch zu leben. Ich erinnere mich noch, dass ich jedoch kurz nach dem Entschluss bei einem Familienbesuch eine Boulette gegessen habe. Damals wollte ich die Entscheidung nicht mit anderen diskutieren und mochte Fleisch auch noch irgendwie. Danach lebte ich komplett vegetarisch – und 2010 ließ ich auch Milch und Eier weg.
Warum sind Sie Veganerin geworden?
Ich war damals auf einer Demonstration zum G8-Gipfel. In dem Camp, in dem wir wohnten, wurde vegetarisch gekocht. Das fand ich lecker. Da dachte ich: Das kann ich auch. Ich machte mir jedochwenig Gedanken über die Auswirkungen des Fleischkonsums. Politischer wurde diese Entscheidung erst wenige Jahre später: Mir wurde wichtig, Tierleid und Klimaschädigung zu reduzieren.
Fehlt Ihnen Fleisch manchmal?
Nein, mittlerweile ekele ich mich sogar davor. Ich esse auch nicht gern die vegetarischen Produkte, die sehr fleischähnlich ist. Diese sind jedoch mitunter für diejenigen wichtig, die eigentlich Fleisch gern essen, es jedoch reduzieren möchten, die sogenannten Flexitarier.
Nimmt dieser Trend zum Flexitarismus zu?
Absolut! Das Schöne ist: Wenn alle nur ein wenig ihren Fleischkonsum einschränken, braucht es am Ende gar nicht so viele vegetarisch lebende Menschen.
Wie sind Sie zu ProVeg gekommen?
2011 habe ich in Dänemark gelebt und bemerkt, dass es dort kaum vegetarische Angebote gab. Ich engagierte mich in meiner Freizeit dafür, übernahm später hierzulande ein Ehrenamt beim Vegetarierbund – dem Vorgänger von ProVeg. Dort organsierte ich beispielsweise das vegane Sommerfest auf dem Berliner Alexanderplatz. Mein großer Wunsch war damals eine Vollzeitstelle in dieser Organisation, weil sie meinen Werten entspricht. Ich bewarb mich für eine Stelle in der Öffentlichkeitsarbeit, bekam aber eine Stelle als Personalerin angeboten. ProVeg befand sich zu diesem Zeitpunkt sehr im Wachstum. Wir hatten damals zwölf Festangestellte. Jetzt, nach acht Jahren, bin ich immer noch dabei, habe mich intensiv weitergebildet und kümmere mich mittlerweile international um die Belange von 170 Mitarbeitenden.
Wie sieht Ihre typische Arbeitswoche aus?
Ich bin sehr viel in Absprachen mit der internationalen und deutschen Geschäftsführung sowie den Führungsteams. Google Calendar hat diese neue Funktion, durch die ich sehe, wie viel Zeit ich in Meetings verbringe: Es hat mich etwas schockiert, aber es sind mehr als 20 Stunden pro Woche. Ich bin zudem koordinativ im Recruiting involviert. Seit 2018 haben wir auch einen Betriebsrat, mit dem ich sehr viel verhandele. Aktuell erarbeiten wir ein neues Gehaltsmodell.
Für welches Gehaltsmodell haben Sie und der Betriebsrat sich entschieden?
Da unsere Arbeit von Spenden finanziert wird, sind unsere Gehälter niedriger als beispielsweise in der Wirtschaft. Daher ist der Anspruch unseres Modells zunächst einmal, mehr Transparenz zu schaffen, um mehr Fairness und Verständnis zu erreichen. Wir sind noch auf der Suche nach der besten Lösung.
Was nervt Sie manchmal an Ihrer Arbeit?
Als wir noch eine kleine Organisation waren, konnte ich flexibel und schnell reagieren. Mittlerweile ist das schwieriger. Einerseits kommuniziere ich HR-seitige Ziele, andererseits sind die einzelnen Länder unabhängig. Ich muss dann schauen, wie viel Freiheit wir geben. Das erfordert anstrengende Abstimmungsprozesse.
Haben Sie ein Beispiel?
Unsere Betriebsvereinbarung über die Arbeitszeit hat ein Jahr gedauert. Der Betriebsrat hatte das Arbeitszeitgesetz im Blick. Gleichzeitig wollen wir auch den Leuten Raum geben, die für ihre Arbeit leben. Sie brennen dafür, sich für eine Reduzierung des Fleischkonsums einzusetzen – sie engagieren sich über die acht Stunden am Tag hinaus dafür. Wir wollen als Arbeitgeber natürlich darauf achten, dass die Leute auch ihre Pausen bekommen, andererseits wollen wir ihre Passion auch nicht bremsen.
Wie lautet das Ergebnis?
Es gibt eine Arbeitszeiterfassung, Überstunden können erst sehr spät ausgezahlt werden. Es gibt natürlich viele Absprachen, dass diese Überstunden gar nicht erst anfallen, aber es sind einfach viele Mitarbeitende aktivistisch unterwegs. Nehmen Sie die Campaignerin, die daran arbeitet, dass die Europäische Union die Benennung von Milchalternativen strenger handhabt: Es gibt so viel Arbeit, sie könnte immer weitermachen. Das ist das Problem. Aktivistische Personen geraten recht oft in einen Burn-out. Sie müssen sich selbst Grenzen setzen. Ich coache deshalb auch Mitarbeitende, die persönlich in Schwierigkeiten stecken. Ich bin da, wenn es darum geht, Probleme zu lösen, bei Teamkonflikten zu vermitteln oder auch zu schauen, wohin sich eine Person entwickeln möchte.
Mit welchen Konflikten kommen die Leute zu Ihnen?
Ich begann mein Coaching in der Coronazeit und am meisten kommen Führungskräfte zu mir. Es ging viel um entgrenzte Arbeitszeit während der Pandemie und Konflikte zwischen Führungskräften und Teammitgliedern. Die Gespräche laufen dann kostenlos während der Arbeitszeit. Ich führe diese nicht als Leiterin der Personalabteilung, sondern als Coachin.
So bekommen Sie einen tiefen Einblick in die emotionale Lage der Organisation – ein Wunsch von HR, oder?
Die Vertraulichkeit ist natürlich gewährleistet, aber ja, ich bekomme dadurch viel mit. Grundsätzlich sind wir aber alle immer sehr persönlich und offen zueinander. Es geht recht familiär bei uns zu, auch im Leadership-Team.
Auf Linkedin schreiben Sie, Sie hätten den besten Job der Welt. Warum?
Wenn man Ideale hat wie ich – also mehr Nachhaltigkeit, weniger Tierleid–, kann man sich hier täglich dafür einsetzen. Im HR-Bereich bin ich natürlich eher dafür verantwortlich, dass es die richtigen Menschen bei uns gibt, die an diesen Themen arbeiten. Aber ich kann hier in vielen Projekten meine Ideen umsetzen. Das ist mir sehr wichtig.
Wenn wir uns in die Utopie begäben, niemand würde mehr Fleisch essen – was wäre dann?
Wenn niemand mehr Fleisch äße, hätten wir viel mehr Fläche, um Lebensmittel anzubauen; Lebensmittel, die Menschen direkt essen können. Nahrungsmittel wären besser verfügbar, es würde weniger Regenwaldfläche für Futtermittel gerodet. Es gäbe eine geringere Umweltverschmutzung. Die Tierindustrie ist ein maßgeblicher Treiber des Klimawandels, was bei den Klimadebatten noch viel zu wenig berücksichtigt wird. Ich glaube, und das ist meine persönliche Utopie, dass alle Menschen dann mehr Mitgefühl für alle Lebewesen hätten, nicht nur für das eigene Haustier.
Die Studienlage zeigt, dass diese Utopie nicht einfach so umgesetzt werden könnte. Je nachdem auf welches Nahrungsmittel wir schauen, fällt die Klimabilanz anders aus. Wie reagiert ProVeg auf solche Ambivalenzen?
Wir haben auf unserer Website viele wissenschaftliche Artikel, die zeigen, wie wichtig es ist, zu untersuchen, was genau miteinander verglichen wird. In der Regel ist es so, dass pflanzliche Nahrungsmittel besser abschneiden als die tierischen – aber es hängt davon ab, auf welche Aspekte man schaut. Es geht nicht darum, dass niemand mehr Fleisch isst. Normalität sollte jedoch sein, dass die Nationen, die es sich leisten können, darauf verzichten. Es geht auch nicht nur um die Tiere, sondern auch um schreckliche Arbeitsbedingungen für den Menschen in der Fleischindustrie.
Damit eine Kuh Milch gibt, muss sie jedes Jahr ein Kalb bekommen. Im Jahr werden dadurch zwei Millionen männliche Kälber geboren. 1,7 Millionen Kühe pro Jahr sind zudem krank oder werden kaputt gemolken, wie eine Dokumentation des Bayerischen Rundfunks berichtete. Wohin mit diesen Tieren, wenn wir kein Fleisch mehr äßen?
Es sollte natürlich ein langsamer Umstellungsprozess sein. Es würden nicht von einem Tag auf den anderen plötzlich alle Schlachtbetriebe stillstehen. Die Zahlen zeigen, dass dringend auch die Milch- und die Eierproduktion verändert werden müssen. Dort gibt es ebenso viele Schattenseiten wie in der Fleischindustrie, auch auf die Umwelt bezogen. Die Nutztiere würden dann teilweise auf Bauernhöfen leben können, auf denen sie um ihres Lebens willen existierten – sogenannte Lebenshöfe.
Hat sich schon einmal jemand bei Ihnen beworben, der Fleisch isst?
Ja, das passiert immer mal wieder. Wir haben auch einige davon eingestellt. Interessanterweise haben sie aber im Verlauf der Zeit aufgehört Fleisch zu essen. Das liegt sicherlich auch an unserer Köchin, die jeden Tag zeigt, wie man sich sehr lecker vegetarisch ernähren kann. Unsere Mission lautet, dass wir bis 2040 den globalen Konsum von Tierkonsum halbieren – damit können sich eigentlich sehr viele identifizieren
Wie sieht Ihre Idealkandidatin oder der perfekte Bewerber aus?
Das kommt natürlich auf die Stelle an. Bei Entry-Level-Positionen kommen Leute direkt aus dem Studium mit einer sehr hohen intrinsischen Motivation. Unser Erfolgsweg ist, diese jungen Leute zu halten und zu entwickeln. Wir suchen aber auch Menschen, die jahrzehntelange Erfahrung haben und ihrem Leben einen neuen Sinn geben wollen. Sie sind bereit, für die gute Sache Abstriche im Gehalt in Kauf zu nehmen, da Geld ihnen nicht so wichtig ist. So haben wir unseren deutschen Geschäftsführer gefunden und auch unseren Finanzleiter. Letztere Stelle war sehr lange ausgeschrieben.
Wie haben Sie den Finanzleiter gefunden?
Letztlich über persönliche Kontakte.
Welche Stellen sind am schwierigsten zu besetzen?
Das war definitiv diese Position. Wir suchen auch seit sehr langer Zeit einen Legal Counsel. Im juristischen Bereich können wir mit den Gehältern einfach überhaupt nicht mithalten. Im Fundraising finden wir ebenfalls sehr schwer Leute. Dafür sind Stellen in der Kommunikationsabteilung sehr gut zu besetzen.
Als Volkswagen die Currywurst vom Kantinenspeiseplan im Wolfsburger Markenhaus durch eine vegetarische Variante ersetzt hat, gab es einen medialen Aufruhr. Unter anderem bemängelte Gerhard Schröder auf Linkedin, deutsche Fachkräfte bräuchten ihren Kraftriegel. Woran liegt es, dass die Deutschen ihre Currywurst so lieben?
Ernährung ist eine sehr emotionale und persönliche Sache, sodass jeder Eingriff als Übergriff empfunden wird. Es wird als komplettes Wegnehmen wahrgenommen. Ich muss sagen, ich habe auch einen anderen Eindruck als diese Debatte suggeriert: Wir arbeiten sehr viel mit Cateringunternehmen zusammen und die Nachfrage nach Veggie-Menülinien ist riesig. In deutschen Kantinen wird schon gesünder und pflanzlicher gekocht.
Zum Abschluss: Was sind die drei größten Mythen über Vegetarismus und Veganismus?
Erstens: Dass man nur noch Salat isst oder eine rohe Möhre zum Mittag bekommt. Ich persönlich habe gerade durch den Vegetarismus eine viel reichhaltigere Palette an Gerichten kennengelernt als zuvor. Der zweite Mythos lautet, dass Vegetarier und Veganerinnen Nicht-Veggies missionieren wollen. Ich persönlich habe jedoch selten Lust, darüber zu diskutieren – ich werde eher in Debatten verwickelt. Drittens wird oft gedacht, dass eine vollwertige Ernährung tierische Produkte enthalten müsste. Das stimmt nicht. Studien zeigen, dass nur das Vitamin B12 supplementiert werden müsse. Interessanterweise wird dieses Vitamin übrigens nicht von Tieren, sondern von Mikroorganismen produziert, die im Darm und im Erdboden leben. Auch den Schlachttieren wird es künstlich verabreicht, weil Wiederkäuer kaum noch auf Weiden grasen und die natürliche Bodenflora durch die industrielle Landwirtschaft zerstört wurde.
Frau Winter, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Zur Gesprächspartnerin:
Nora Winter ist seit 2013 bei der Ernährungsorganisation ProVeg und inzwischen International Head of HR and Volunteer Management. Sie hat Germanistik, Psychologie und Politikwissenschaft studiert. Die Nichtregierungsorganisation arbeitet mit internationalen Entscheidungsgremien, Regierungen, Nahrungsmittelproduzenten, Investorengruppen und der breiten Öffentlichkeit zusammen. Ziel ist der weltweite Übergang zu einer Gesellschaft und Wirtschaft, die weniger von der Tierhaltung abhängig ist. Aktuell arbeiten 170 Menschen auf vier Kontinenten für die NGO.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Ideale. Das Heft können Sie hier bestellen.