Wie künstliche Intelligenz das Recruiting beeinflusst

KI-Recruiting

Angesichts der vom anhaltenden War for Talent und den zunehmenden Qualifikationsengpässen im Arbeitsmarkt getriebenen Bedeutung von Human Capital sind effektive und effiziente Rekrutierungsprozesse heute einer der wichtigsten Faktoren für Unternehmenserfolg. Es verwundert daher kaum, dass Unternehmen versuchen, jeden technologischen Fortschritt zu nutzen, um durch die Optimierung eigener Prozesse einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen. Spätestens seit dem ersten öffentlichen Release von ChatGPT im November 2022 liegt das Augenmerk dabei auf dem Thema künstliche Intelligenz. (In diesem Artikel werden im Folgenden der englische Begriff Artificial Intelligence (AI) sowie verwandte Fachbegriffe in englischer Sprache verwendet, da eine englischsprachige Forschungsarbeit zugrunde liegt.)

AI ist kein „Nice-to-have“

Fortschritte in der praktischen und wirtschaftlichen Nutzbarkeit von Maschinen- und Deep-Learning-Technologien haben die Art und Weise, wie Menschen im digitalen Zeitalter arbeiten und Unternehmen Werte schaffen speziell in der jüngeren Vergangenheit disruptiv verändert und unterscheiden sich signifikant von den eher linear verlaufenden technischen Innovationen seit der Einführung des Internets. Auch wenn AI nicht erst seit ChatGPT Einfluss auf unser tägliches Leben nimmt, ist die Geschwindigkeit, mit der die Technologie speziell in den letzten zwei Jahren die Wertschöpfung von Unternehmen verändert, schier atemberaubend. Wie J. Stewart Black und Patrick van Esch schon 2020 in ihrem Aufsatz AI-enabled recruiting: What is it and how should a manager use it? erkannten, hat sich speziell im Recruiting die Nutzung von KI-Tools aufgrund ihres immensen Potenzials von einem Nice-to-have zu einem Business Case entwickelt, mit dem sich Unternehmen beschäftigen müssen, um den Anforderungen der modernen Arbeitswelt gerecht zu werden.

In meiner Masterthesis habe ich versucht, einen Blick über das Buzzword „Artificial Intelligence“ hinauszuwerfen und der Frage nachzugehen, wie neue Anwendungsmöglichkeiten von AI sowohl den eigentlichen Recruitingprozess als auch die zur erfolgreichen Prozessgestaltung benötigten Fähigkeiten der Recruiter verändern.

Um die Forschungsfragen „How will the recruiting process change using AI technologies?“ und „Which skills will become more and less important for recruiters increasingly using AI technologies?“ möglichst divers zu beleuchten, wurden auf Grundlage akademischer Literaturrecherche acht Interviews mit Experten geführt, die drei Berufsgruppen zugeordnet werden können:

Entwickler: Fachleute, die an Machine-Learning-Algorithmen und Deep Neural Networks arbeiten, um die technischen Aspekte in ausreichender Tiefe abzubilden.

Anwender: Recruiter, die AI-basierte Tools in ihrer täglichen Arbeit einsetzen, sowie Account Executives, die solche Technologien vertreiben. Diese Gruppe ermöglicht Einblicke in die tatsächliche Wertschöpfung der Technologie und ihr zukünftiges Potenzial.

Forscher: Autoren von Fachbüchern und peer-reviewed Artikeln in der akademischen Fachliteratur, die eine wissenschaftlich fundierte und umfassende Perspektive einbringen.

Da der Einsatz von KI-Technologien ein sehr dynamisches Feld ist und besonders in Bezug auf rechtliche und ethische Aspekte in unterschiedlichen Wirtschaftsräumen durchaus unterschiedlich gehandhabt wird, wurde die Forschungsarbeit auf den europäischen Arbeitsmarkt und eine voraussehbare Zukunft von fünf Jahren beschränkt.

How will the recruiting process change using AI technologies?

Um profunde Aussagen über die durch den Einsatz von AI im Recruiting entstehenden Prozessveränderungen treffen zu können, ist es zunächst erforderlich, die gegenwärtigen und unmittelbar absehbaren Anwendungen der AI im Recruiting zu identifizieren. Abbildung 1 illustriert die fünf maßgeblichen Anwendungsszenarien, die aktuell und in naher Zukunft signifikanten Einfluss auf den Recruitingprozess haben.

Abbildung 1: Changes in the recruiting process resulting from the enhanced use of AI technologies. Quelle: Eigene Darstellung.

Hieraus ergibt sich ein erheblicher Einfluss der KI auf weite Teile des Recruitingprozesses, vom Employer Branding bis hin zur Vorauswahl der Kandidaten. Dies manifestiert sich insbesondere durch eine verstärkte Automatisierung und die damit verbundene gesteigerte Effektivität. Beispielsweise können intelligente Algorithmen passende Bewerber auf dem Markt identifizieren oder Chatbots Kandidaten durch die frühen Phasen des Bewerbungsprozesses begleiten. Bemerkenswert ist zudem, dass KI in vielen Teilen des Recruitingprozesses potenziell objektiver agieren kann als menschliche Recruiter, da maschinelle Systeme nicht den bekannten Bias-Typen wie „Pretty Privilege“ oder „Similarity Bias“ unterliegen. Wie bei allen datengetriebenen Systemen liegt jedoch das Rückgrat ihrer Funktionalität in der Datengrundlage. Werden diese Systeme mit voreingenommenen Daten trainiert, multiplizieren sie tendenziell die bestehenden Verzerrungen in ihrer Anwendung.

In den letzten Phasen des Recruitingprozesses „Selection“ und „Final Hire Decision“ übt die KI-Technologie derzeit und absehbar nur geringen Einfluss aus. Dies liegt hauptsächlich an ethischen und moralischen Bedenken, wie der Frage, ob Maschinen über das Leben von Menschen entscheiden sollten. In Wirtschaftsräumen wie den USA oder China wurden jedoch bereits Systeme eingesetzt, die versuchen, auch diese Phasen zu optimieren. Beispielsweise analysieren sie Mikrobewegungen im Gesicht während eines Interviews, um Lügen oder Nervosität zu erkennen. Um den Erfolg solcher Ansätze beurteilen zu können, mangelt es bislang allerdings an einer soliden Datengrundlage.

© Mirella Frangella Photography

Für seine Masterarbeit The Influence of Artificial Intelligence Technologies on Recruiting wurde Niels Herwegh mit dem diesjährigen Nachwuchsförderpreis des Bundesverbands der Personalmanager*innen (BPM) ausgezeichnet. Die Preisverleihung fand feierlich bei der Nacht der Personaler*innen im Rahmen des Personalmanagementkongresses des BPM am 20. Juni 2024 in Berlin statt. Mit dem Förderpreis, der mit 2.000 Euro dotiert ist, ermöglicht der Verband jungen Talenten, von Anfang an in Führung zu gehen. Zugleich unterstützt er damit Forschung und Wissenschaft im Bereich Personalwesen sowie die Praxisorientierung in der Hochschulbildung. Mehr Informationen.

Which skills will become ­more- and less ­important for ­recruiters increasingly using AI technologies?

Bezüglich der zweiten Forschungsfrage ergaben die Ergebnisse der Arbeit, dass sich die von Recruitern zur erfolgreichen Gestaltung des Prozesses benötigten Fähigkeiten durch den wachsenden Einfluss von AI relativ analog zu den in der ersten Forschungsfrage beschriebenen Prozessveränderungen transformieren. 

Abbildung 2: Changing recruiter skills resulting from the enhanced use of AI technologies in recruiting. Quelle: Eigene Darstellung.

Organisatorische und administrative Kompetenzen, die besonders in den frühen Prozessphasen von Bedeutung sind, verlieren durch die zunehmende Automatisierung dieser Teilprozesse an Relevanz. Im Gegensatz dazu gewinnen zwischenmenschliche und kommunikative Fähigkeiten erheblich an Bedeutung, insbesondere in den späteren Phasen des Prozesses, um zum Beispiel zu beurteilen, ob ein Kandidat in ein bestimmtes Team passt, Entwicklungspotenziale zu erkennen und Spitzenkandidaten von Angeboten zu überzeugen.

Zudem deuten die Ergebnisse auf eine notwendige technische Kompetenz hin, die über die bloße Akzeptanz und Anwendung von Software hinausgeht. Es wird zwar nicht erforderlich sein, dass jeder Recruiter die mathematischen Grundlagen von maschinellem Lernen oder Deep-Neural-Networks erklären kann, jedoch sollten Recruiter künftig eine Affinität für die zugrunde liegenden Daten sowie ein grundlegendes Verständnis für die Funktionsweise hinter „AI-Systemen“ mitbringen, um getroffene Entscheidungen im Business-Kontext richtig bewerten zu können. Darin liegt eine gewisse Ironie, sind Recruiter doch oft Menschen, die ihren Job gewählt haben, um im „People-Business“ zu arbeiten, anstelle sich mit komplizierter Technik auseinanderzusetzen. Zukünftige Schlüsselkompetenzen im Recruiting werden zudem voraussichtlich sowohl sozial-technische Transferkompetenzen sowie konsultative Fähigkeiten im Bereich AI-Strategie, -Integration und -Anwendung umfassen.

Die Ergebnisse der Arbeit zeigen klar, dass die Verwendung von KI im Recruiting einen Business Case darstellt, mit dem sich Unternehmen jetzt und in Zukunft intensiv auseinandersetzen sollten. An dieser Stelle ist zu betonen, dass die Masterthesis im Januar 2023 eingereicht wurde. Seitdem haben sich die Einsatzmöglichkeiten für KI-Technologien im Business-Kontext rasant weiterentwickelt, was in dieser Darstellung nicht berücksichtigt werden konnte. Durch den Einsatz multimodaler KI-Modelle beispielsweise eröffnen sich im Recruiting völlig neue Potenziale, wie etwa die Möglichkeit, dass Kandidaten in Zukunft direkt über gesprochene natürliche Sprache statt wie bisher schriftlich mit Recruiting-Chatbots interagieren könnten. Es bleibt daher spannend zu beobachten, wie die fortschreitende Integration solcher Technologien die Art und Weise, wie Unternehmen Talente anwerben, unaufhaltsam und nachhaltig revolutioniert.

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Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Skills. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Niels Herwegh

Niels Herwegh ist Teil des People and Business Transformation Traineeships der SAP und durchläuft aktuell mehrere unternehmensinterne Stationen im Bereich Personal und Unternehmensstrategie. Bereits während seines Studiums sammelte er in verschiedenen HR-Bereichen sowohl im Konzern- als auch im Start-up-Kontext Berufserfahrung. Die hier beschriebene Abschlussarbeit war Teil des Masterstudiums International Business and Consulting – Human Resource Management an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin.

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