Mitte März dieses Jahres startete ein wirtschaftliches und gesellschaftliches Großexperiment: Im Zuge des Corona-Lockdowns wurden fein abgestimmte Arbeitsabläufe und weit verzweigte Lieferketten massiv gestört, ein großer Teil der Arbeitnehmerschaft ins Homeoffice geschickt und – als erste Symptome der aufziehenden ökonomischen Krise – Belegschaften auf Kurzarbeit gesetzt. Viele Menschen haben dennoch aus ihrem persönlichen Blickwinkel auf die Auswirkungen des Lockdowns festgestellt, dass das eigene Leben durchaus an Qualität gewonnen hat; insbesondere, weil Arbeitnehmer wegen eines geringeren Arbeitspensums und weggefallener Fahrtwege mehr Lebenszeit gewonnen haben und dadurch wesentlich freier als zuvor ihr Leben gestalten konnten. Eine Teilzeitwelt entstand. Parallel dazu hat sich der CO2-Ausstoß drastisch reduziert.
Sieht man sich diese beiden Phänomene genauer an, zeigt sich, dass es sich um zwei Seiten derselben Medaille handelt. Unsere Art des Wirtschaftens bewirkt im Kern immer einen Energie- und Materialverbrauch: Wir produzieren Dinge und bieten Dienstleistungen an, die gekauft werden sollen. Das ist nicht möglich ohne den Einsatz von Energie und die Verarbeitung von Rohstoffen, indem also in natürliche Stoffkreisläufe eingegriffen wird. Begriffe wie Dekarbonisierung, Divestment oder den des „grünen Wachstums“ verschleiern diese Tatsache allerdings. Dahinter steckt immer der Traum, den Energie- und Materialverbrauch vom Konsumieren zu entkoppeln.
Zurück zum Status quo ante?
Allerdings handelt es sich hierbei um eine Utopie. Sieht man sich die grundsätzlichen naturwissenschaftlichen Zusammenhänge an, wird schnell klar, dass es grünes Wachstum nicht geben kann. Weil das jedoch einer gewissen gedanklichen Anstrengung bedarf, glauben viele eher den hoffnungsvoll vorgetragenen Visionen einer klimaneutralen Zukunft. Darunter fallen aktuell auch der Green New Deal der EU und alle Hilfspakete zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie, die man mit Zukunftsinvestitionen in grüne Technologien verbindet.
Weil die beschriebene Entkopplung nicht funktionieren kann, ist die einzige wirklich erfolgreiche Lösung, wie der Corona-Lockdown nachdrücklich gezeigt hat, eine ganz andere: die Reduzierung unserer Arbeitszeit. Nur so ist unsere Umwelt vor dem Kollaps zu bewahren. Es wäre an den politischen Entscheidungsträgern, eine Teilzeit für alle sozialverträglich zu gestalten. Die Arbeitszeitreduzierung ist zum Wählerwillen geworden, weil sie trotz aller Probleme von vielen als angenehm und bereichernd erlebt wurde. Allerdings geht der Trend in eine andere Richtung: Es werden hohe Schulden aufgenommen mit dem Ziel, möglichst schnell den Status quo ante wiederherzustellen, nämlich das „Laufen“ der Wirtschaft mit vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmern.
Die Steigerungslogik der Gegenwart
Es gibt verschiedene Definitionen des Begriffs der „Moderne“. Ein Verständnis unserer Zeit besteht darin, dass sie einer Steigerungslogik folge: Moderne Gesellschaften können demnach nur insoweit fortbestehen, wie sie ihren Mitgliedern ein immer größeres Maß an Gütern, Erlebnissen, Möglichkeiten und Ähnlichem versprechen und letzten Endes auch gewähren. Das erklärt die beschriebene Paradoxie des aktuellen politischen Handelns: Wenn die Politik zum Ziel hat, das Fortbestehen der modernen Gesellschaft, aus der sie ja erst erwächst, zu sichern, kann sie kaum anders, als die Mechanismen einzusetzen, die sich bisher als einzig wirksam gezeigt haben. Und das sind diejenigen, die der Steigerungslogik unterliegen und sie weiter antreiben. Konkret bedeutet das immer: Es muss mehr Geld ausgegeben werden. Fließt dieses Geld in die Wirtschaft, wird sie damit weiter angetrieben und sorgt ihrerseits im Sinne der Steigerungslogik dafür, die Gesellschaft zu stabilisieren. Der Nebeneffekt ist jedoch unweigerlich die Verschärfung der ökologischen Krise des Planeten.
Wenn große Teile der Bevölkerung diese Steigerungslogik durch bewussten oder unbewussten Konsumverzicht in Kombination mit reduzierter Arbeitszeit hinterfragen oder sogar durchbrechen, stellt sich die Frage nach einem Ende dieser Moderne, die der Steigerungslogik folgt. Vor diesem Hintergrund klingt es auf einmal fast abwegig, die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie als Krise zu bezeichnen. Vielmehr handelt es sich dann um eine große Chance. Wirklicher politischer Gestaltungswille bestünde also aktuell darin, auch im politischen Tagesgeschäft die moderne Steigerungslogik zu durchbrechen
Die neue Genügsamkeit
Wie kann das „alte“ Stabilisierungsversprechen, das nur durch eine ständige Steigerung einzuhalten wäre, aufgegeben werden? Wie könnte ein – zunächst womöglich destabilisierender – Weg der Genügsamkeit beschritten werden? Ist eine solche Wende nur möglich nach dem Motto „by design or by desaster“, indem man sie also aktiv gestaltet oder einfach auf sich zukommen lässt?
Das „Desaster“ haben wir mit der Corona-Pandemie in den vergangenen Monaten ansatzweise erlebt. Es hat unsere Lebensweise aus der gewohnten Steigerungslogik herausgerissen. Setzt man nun alles daran, zu dieser vertrauten Lebensweise zurückzukehren, erreicht man zwar die gesellschaftliche Stabilisierung durch weitere Steigerungsversprechen. Doch droht eine neue Destabilisierung durch ein zukünftiges weiteres „Desaster“, zum Beispiel durch das Erreichen eines Tipping Points in der Klimaveränderung oder durch den Kollaps ganzer Ökosysteme durch weiterhin ungebremstes Artensterben. Wir sitzen in der Zwickmühle: Wie die politischen Weichenstellungen auch aussehen werden, solange sie der Steigerungslogik folgen, haben sie stets eine potenzielle Destabilisierung zur Folge.
Der einzige Ausweg ist schlicht, die überforderte Politik als Individuum zu entlasten. Wir können die Dinge selbst in die Hand nehmen und unsere persönliche Lebensweise überdenken. Die entscheidende Größe ist dabei die persönliche Arbeitszeit. Nur durch ihre signifikante Reduktion und die damit einhergehende gesunkene Kaufkraft kann die Ökosphäre nachhaltig entlastet werden. Denn erst dann werden weniger Energie und Material verbraucht. Erst dann wird in geringerem Umfang in die natürlichen Stoffkreisläufe eingegriffen.
Ein solches individuell initiiertes Handeln muss politisch begleitet werden, weil die Arbeit in Teilzeit für Menschen mit geringem Einkommen ein Armutsrisiko bedeuten könnte. Es müssen sozialverträgliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit eine Teilzeitwelt für alle möglich wird, die dann zu einem wirklich ökologisch nachhaltigen Leben führen würde.