Wie wird sich das Recruiting bis zum Jahr 2035 verändern?

Bundesverband der Personalmanager*innen

Das frühzeitige Erkennen von Trends und daraus hervorgehender Handlungsfelder ist gerade für das Recruiting relevant, denn kaum eine andere Funktion des Personalmanagements sieht sich mit derart vielen Herausforderungen konfrontiert, angefangen von einem sich schnell verändernden Arbeitsmarkt bis hin zu technischen Innovationen, insbesondere mittels künstlicher Intelligenz. Daher entschied sich die Fachgruppe Recruiting vom Bundesverband der Personalmanager*innen (BPM) in enger Kooperation mit der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen eine Studie durchzuführen.

Bereits frühere Studien wie die Trendstudie HR-Strategie 2023 der Frankfurt Business Media prognostizierten bereits im Jahr 2018, dass das Gewinnen und Binden von Personal – sowohl für den Mittelstand als auch für Großunternehmen – die größte derzeitige Herausforderung darstellt. Damit bestätigt die Studie die Resultate der ersten Erhebung zum Thema im Jahr 2016. Der Schwerpunkt liegt vor allem auf der Gewinnung von Fach- und Führungskräften. Aber auch die Gewinnung von Ausbildungskräften ist für die Unternehmen relevant, besonders für solche, die in Branchen wie dem Handwerk oder der Pflege aktiv sind (Frankfurt Business Media, 2018). Betroffen sind auch MINT-Berufe. Das sind Berufsfelder, die sich in den Themenfelder Mathematik, Informatik, Natur- und Ingenieurwissenschaft sowie Technik zuordnen lassen. Die große Bedeutung des Recruitings zeigt sich auch, wenn man die betriebswirtschaftlichen und volkswirtschaftlichen Folgen betrachtet, die die Nichtbesetzung offener Stellen mit sich bringen.

Wenngleich die Schätzungen voneinander abweichen können, werden Verluste beziehungsweise entgangene Erträge in Milliardenhöhe befürchtet. So schätzt die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young laut ihrem Mittelstandsbarometer 2021, dass dem deutschen Mittelstand beispielsweise Umsätze in Höhe von rund 30 Milliarden Euro jährlich entgehen. Die unternehmerischen und volkswirtschaftlichen Folgen dieses Mangels unterstreichen die Bedeutsamkeit einer intensiveren Beschäftigung mit der Bedeutung des Recruitings. Damit einhergehend erscheint es sinnvoll der Frage nachzugehen, wie das Recruiting zukunftsfähig ausgerichtet werden kann. Denn zu beachten ist, dass viele der heutigen „Megathemen“ direkte Implikationen für das Recruiting mit sich bringen.

So wird der demografische Wandel in Deutschland aller Voraussicht nach dazu führen, dass der Fach- und Führungskräftekräftemangel Unternehmen noch auf Jahre hinaus fordern wird. Die Anwerbung ausländischer Fachkräfte gewinnt deshalb an Bedeutung. Der deutsche Arbeitsmarkt wird dadurch internationaler und interkultureller, was wiederum eine stärkere Berücksichtigung von Diversity im Recruiting nach sich ziehen dürfte. Einen weiteren Megatrend stellt die Digitalisierung dar. Damit werden manche althergebrachten Berufsbilder obsolet, andere verändern sich, völlig neue dürften hinzukommen. Weiterhin ist ein Umbruch in der Art und Weise wie, wo und wann gearbeitet wird zu beobachten. Vor allem die Coronapandemie wirkte wie ein Katalysator, der Arbeitsformen des mobilen Arbeitens in einem Ausmaß etabliert hat, der vor wenigen Jahren den meisten noch völlig undenkbar erschien.

Die vorliegende Studie zur Zukunft des Recruitings befasst sich deshalb mit den Fragen, wie sich das Recruiting inhaltlich voraussichtlich verändern wird, und welchen berufsbezogenen Anforderungen sich Recruiting-Fachleute zukünftig stellen müssen. Ziel ist es, mit Hilfe der Szenarioanalyse auf der Basis von Experteneinschätzungen erstmals eine Prognose für das Recruiting im Jahr 2035 zu erstellen.

Theoretischer Hintergrund

Wenn wir von Recruiting sprechen, dann sprechen wir von einer zentralen Funktion des Personalmanagements, die entscheidend dazu beiträgt, dass ein Unternehmen überhaupt als Organisation funktioniert und erfolgreich seine Ziele erreichen kann. Ohne die notwendige Zahl an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit der notwendigen Motivation und Qualifikation lassen sich auch die ansprechendste Vision und die durchdachteste Strategie kaum realisieren. Mit dieser Definition wird die strategische Bedeutung des Recruitings hervorgehoben. Dieses strategische Verständnis musste sich erst etablieren. Vor einigen Jahrzehnten wurde der Recruitingbegriff noch als operative und reaktive Maßnahme verstanden. Dies zeigte sich dergestalt, dass das Recruiting in der Regel erst dann aktiv wurde, wenn irgendwo im Unternehmen eine Stelle vakant war. Die jeweilige Fachabteilung meldete den Personalbedarf an und das Re-cruiting war bemüht, diesen Bedarf möglichst kurzfristig zu decken, indem eine Stelle ausgeschrieben, der Bewerbungseingang organisiert und vorselektiert und das Auswahlverfahren organisiert wurde.

In den vergangenen Jahren ist jedoch eine Bedeutungstransformation im Recruiting an zahlreichen Stellen zu beo­bachten, insbesondere aufgrund technologischer Fortschritte und gesellschaftlicher Veränderungen. So haben mittlerweile Online-Jobportale „klassische“ Stellenanzeigen in Zeitungen weitestgehend abgelöst. Social-Media-Plattformen, speziell mit beruflichem Bezug wie Linkedin, ermöglichen Unternehmen aktiv nach passenden Kandidaten zu suchen, ihre Profile zu überprüfen und direkt mit ihnen in Kontakt zu treten. Social-Media-Präsenz und Employer Branding auf Plattformen wie Facebook oder Instagram sind ebenfalls wichtige Aspekte, um Talente anzusprechen und sich als attraktiver Arbeitgeber zu präsentieren Mit dem Aufstieg von Smartphones und mobilen Apps hat sich das Recruiting zunehmend auf mobile Geräte verlagert. Unternehmen nutzen mobile Apps, um Stellenangebote zu veröffentlichen, Bewerbungen entgegenzunehmen und sogar Interviews durchzuführen.

Auch das aktuell wohl prominenteste Thema der künstlichen Intelligenz ist längst im Recruiting angekommen. Es verspricht das Recruiting effizienter zu machen, beispielweise indem Bewerbungen automatisch mit Anforderungsprofilen von zu besetzenden Stellen abgeglichen werden. Chatbots und virtuelle Assistenten werden ebenfalls eingesetzt, um Bewerberinnen Fragen zu beantworten und sie während des Bewerbungsprozesses zu unterstützen. Zudem mussten Unternehmen in den letzten Jahren auf virtuelle Bewerbungsverfahren, Video-Interviews und Remote-Onboarding umstellen. Ein solches Remote-Recruiting hat gezeigt, dass es möglich ist, talentierte Kandidaten unabhängig von ihrem Standort zu erreichen und einzustellen, was die Möglichkeiten für Unternehmen erweitert. Weiterhin ist insbesondere bei KMU und im Handwerk ein Trend zum Angebot digitaler Kurzbewerbungen direkt auf der Unternehmenswebsite zu beobachten.

Hierdurch soll ein niederschwelliger und spontaner Einstieg in den Recruitingprozess für potenzielle Bewerber erreicht werden. Diese und weitere Entwicklungen besitzen das Potenzial das Recruiting schneller, effizienter und globaler zu machen. Es bringt in vielerlei Hinsicht die Voraussetzungen mit, einen wesentlichen Beitrag zur Gesamtstrategie eines Unternehmens zu leisten, um langfristigen Erfolg zu erreichen. Doch bei einer derart komplexen Ausgangssituation stellt sich die Frage, wie sich das Recruiting in Deutschland zukünftig strategisch ausrichten muss. Aus diesem Grund legen wir mit der vorliegenden zukunftsorientierten Szenarioanalyse eine wissenschaftlich fundierte Bestandsaufnahme wahrscheinlich zu erwartender Entwicklungen des Recruitings in Deutschland vor.

Methodik

Die nachfolgend erläuterten Ergebnisse der Studie zur Zukunft des Recruitings wurden anhand einer mehrstufigen Methodik erarbeitet. Diese erhebt und analysiert systematisch Expertenmeinungen, um auf dieser Basis Prognosen zu generieren und zukünftige Entwicklungen abzuleiten. Im vorliegenden Fall wurden in der ersten Runde zwei unabhängige Workshops mit insgesamt 15 Recruiting-Experteninnen und -Experten aus der Praxis und der Wissenschaft mit offenen, qualitativen Fragen konfrontiert mit dem Ziel, deren Einschätzungen zur zukünftigen Bedeutung und Ausgestaltung des Recruitings abzugeben. Die Ergebnisse sind anschließend anonymisiert, zusammengefasst und einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen worden, in deren Folge verschiedene Szenarien abgeleitet wurden. Diese Szenarien bildeten in der folgenden Runde die Basis für eine standardisierte großzahlige Online-Befragung. Insgesamt nahmen an der quantitativen Befragung 208 Personen teil.
Ergebnisse

Im Rahmen des qualitativen Teils wurden 15 Zukunfts­szenarien anhand Fokusgruppendiskussionen erarbeitet. Dabei werden diese Zukunftstrends in Form von Szenarien operationalisiert. Diese Szenarien wurden anschließend im quantitativen Teil von den Befragten jeweils danach bewertet: Erstens, wie wahrscheinlich deren Eintreffen ist, zweitens, wie sehr sie den Alltag der Recruiterin und des Recruiters zukünftig verändern werden und drittens, wie stark sie bereits heute spürbar sind. Im Folgenden werden die Szenarien sowie deren quantitative Bewertungen dargestellt (siehe Tabelle).

Wesentliche Ergebnisse der umfassenden Analyse:

  • Der Einfluss der thematisierten Szenarien auf das Re­­cruiting wird überwiegend positiv beurteilt. Kritisch für das Recruiting werden hingegen der Fachkräftemangel, rückläufige Mitarbeiterbindung, temporäre Anstellungen und die Zuverlässigkeit von Social Media eingeschätzt.
  • Der Eintritt aller erarbeiteten Szenarien wird im Durchschnitt als (eher) wahrscheinlich beurteilt. Eine proaktive Beschäftigung mit diesen ist daher anzuraten und unablässig. Dies gilt insbesondere für den heute bereits spürbaren Fachkräftemangel, dessen Erscheinen auch in der Zukunft als besonders wahrscheinlich beurteilt wird.
  • Hierzu passt auch, dass mit der künftig geschätzten Wahrscheinlichkeit des Fachkräftemangels die Befragten auch eine stärkere Machtposition aufseiten der Bewerberinnen und Bewerber sowie der Mitarbeitenden erwarten. Das Auftreten diesbezüglicher attraktivitätssteigernder Maßnahmen aufseiten rekrutierender Unternehmen (Stärkung der Arbeitgebermarke, Candidate Journey, Remote Arbeitsplätze, Fringe Benefits) wird als wahrscheinlicher eingeschätzt.
  • Gleichzeitig wird die Fluktuation infolge sinkender Mitarbeiterbindung mit eher negativem Einfluss auf das Recruiting wahrscheinlich spürbar steigen, auch wenn sie heute nur leicht spürbar ist.
  • Die Bedeutung des internationalen Recruitings wird zunehmen, besitzt einen positiven Einfluss auf das Recruiting, ist jedoch heute nur leicht spürbar.
  • Die Szenarien zu künstlicher Intelligenz, Recruitingallianzen, temporäre Anstellungen sowie Zuverlässigkeit von Social Media sind heute noch nicht spürbar. Ihnen wird auch eine geringere Eintrittswahrscheinlichkeit zugesprochen.
  • Die Befragten zeigten Technologieoffenheit: Data Analytics und künstliche Intelligenz werden im Durchschnitt als (eher) positiv beurteilt
  • Eine stärkere strategische Bedeutung des Recruitings (in Form einer eigenständigen Organisationseinheit oder des Einbezugs in Managementgremien) wird überwiegend als eher wenig wahrscheinlich und heute nicht spürbar bewertet. Hier zeigt sich, dass die organisatorische Verankerung zur Bewältigung der anstehenden Herausforderungen – trotz der eingeschätzten hohen Bedeutung – noch diskutiert werden muss.

Fazit

Sollten die Trends eintreffen, muss die Transformation des Recruitings und dessen Position im Rahmen organisatorischer Überlegungen weiter voranschreiten. Mit den skizzierten Veränderungen gehen neue Anforderungen an die Recruiterinnen und Recruiter selbst in Form neuer Kompetenzen und Verantwortlichkeiten einher. Die Szenarien bieten aber zugleich die Chance, dass sich das Rollenverständnis des Recruitings emanzipiert und die eigene Positionierung gestärkt wird – weg vom reinen internen Dienstleister hin zu einem stärker strategischen Partner des Business, der einen signifikanten Beitrag zur Bewältigung der anstehenden Herausforderungen leistet.

Die Studie

Die Studie Zukunft des Recruitings fußt auf einer mehrstufigen Methodik. Zunächst erfolgten qualitative Workshops mit Recruiting-Fachleuten aus Praxis und Wissenschaft. Die daraus hervorgehenden Ergebnisse wurden mittels qualitativ strukturierender Inhaltsanalyse zu markanten Szenarien verdichtet. Anschließend wurden die Szenarien in einer quantitativen Online-Befragung großzahlig validiert. Im Zeitraum April bis Ende Juni 2023 wurden 208 Recruiterinnen und Recruiter befragt.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Investition. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Stephan Weinert

Professor für Personalmanagement
Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen
Stephan Weinert ist promovierter Wirtschaftswissenschaftler und Professor für Internationales Personalmanagement an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen.

Elmar Günther

Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen
Elmar Günther ist promovierter Wirtschaftswissenschaftler und Professor für Marketing an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen.

Silko Pfeil

Wirtschaftswissenschaftler und Professor für Betriebswirtschaftslehre
IU International University of Applied Sciences
Silko Pfeil ist promovierter Wirtschaftswissenschaftler und Professor für Betriebswirtschaftslehre an der IU International University of Applied Sciences.

Deborah Dudda-Luzzato

Leiterin Abteilung Globale Talent Acquisition
Hugo Boss
Deborah Dudda-Luzzato leitet die Abteilung Globale Talent Acquisition bei Hugo Boss und ist Fachgruppenleiterin Recruiting beim Bundesverband der Personalmanager*innen (BPM).

Lena Weber

Leiterin Abteilung Globale Talent Attraction
TUI Group
Lena Weber leitet die Abteilung Globale Talent Attraction der TUI Group und ist stellvertretende Fachgruppenleiterin Recruiting beim Bundesverband der Personalmanager*innen (BPM).

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