Hochstapelei ist zeitlos, spektakulär und abgründig. Diesegewiefte Form des Betrugs fasziniert durch ihren Einfallsreichtum und ist gleichzeitig unheimlich, weil sie eine Zeit lang gelingt und schließlich doch grandios scheitert. Gedanken über das Wesen der Hochstapelei.
Haben Sie heute schon Lippenstift aufgetragen oder Ihre Haare über eine kahle Stelle gekämmt, um anziehender, jünger und vielleicht leistungsfähiger zu erscheinen? Keine Sorge, das ist noch keine Hochstapelei, sondern nur banale Selbstoptimierung, die als solche erkannt und durchschaut wird. Hochstapeln hingegen ist eine besondere Form der Lüge. Doch wann wird aus einer schönen Illusion der betrügerische Schwindel?
Der strenge Aufklärer Immanuel Kant zählte die Schminke bereits zum Betrug, als er über den gesellschaftlichen Schein der Menschen philosophierte. Der Unterschied zwischen Sein und Schein sowie die Möglichkeit, daraus Profit zu schlagen, hat schon viele Philosophen, Theologen, Literaten und Juristen beschäftigt. Auch Psychologen, Psychiater, Soziologen und Kriminalisten versuchen dieser besonderen Form des Betrugs auf die Spur zu kommen. Dem eigenen Sein einen höheren Schein zu geben, vorgeblich etwas Besseres zu sein, als man ist, oder mehr zu können, als man kann, ist eine Sache, die es im menschlichen Zusammenleben wohl schon immer gab. Es ist eine anthropologische Konstante.
Hochstapelei ist nach deutschem Gesetz kein strafbares Delikt. Juristisch geahndet wird sie nur als Betrug, Urkunden-
fälschung, Amtsanmaßung oder Missbrauch von Titeln, Berufsbezeichnungen und Abzeichen. Selbst ernannte Ärzte können wegen Körperverletzung, Freiheitsberaubung und der Fälschung von Gesundheitszeugnissen belangt werden. Einen anderen Namen als den eigenen zu benutzen, gilt als Ordnungswidrigkeit. Ansonsten darf nach dem zweiten Artikel des Grundgesetzes jeder sein, wer und was er will. Wir dürfen unsere Persönlichkeit frei entfalten, eingeschränkt nur dort, wo Rechte anderer verletzt oder gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstoßen wird.
Vom Gentleman zum konturlosen Zeitgeistidol
Es war die Kriminalistik, die diesem Phänomen im 19. Jahrhundert seinen offiziellen Namen verpasste: Hochstapelei. Die Verbrechenskundler hatten das Wort ihren Delinquenten abgelauscht. Diese nutzten seit dem Mittelalter eine mündliche Geheimsprache, das Rotwelsche, in der ein „Stappler“ oder „Hochstappler“ ein falscher Bettler war. Einer, der sich mit gefälschten Zeugnissen und erlogenem Unglück als Bedürftiger ausgab. Durch die Polizeiberichte wurde der Begriff lexikalisiert. So machte der Hochstapler als Verbrechertypus eine rasante Karriere und galt bald als geistige Elite, als Gentlemen unter den Ganoven.
Hochstapelei wurde zum Schlagwort für jeglichen Identitätsschwindel: vom Millionär mit leerem Konto über die Prinzessin ohne Stammbaum, die falsche Heilige und die unverbindliche Verlobte bis zum Möchtegernmediziner und Goldmacher. Trotz allem Glanz, der moderne Hochstapler umgab, blieb er im Wesen, was schon der angebliche Bettler war: ein Betrüger mit einem erfundenen Selbst, das ihn besserstellte, als Geburt, Talent und Leistung es hergaben.
Die Postmoderne erkor den Hochstapler zum Kulturtypus des 20. Jahrhunderts. Er wird zum Zeitgeistidol und verliert dadurch seine historisch gewonnene Kontur, denn in der postmodernen Identitätskrise des Selbst werden fortan alle zu Hochstaplern erklärt. Wer Karriere machen will, folgt dem Diktum: Fake it till you make it! Parallel dazu beobachten Psychologen die Konjunktur des gegenteiligen Typus: erfolgreiche Menschen, die glauben, nichts zu können, und nur zufällig, mit Glück oder durch die Fehler anderer, zum Ziel gekommen zu sein. Es sind jene, die am Hochstapler-Syndrom leiden.
Die Meister der kalten Empathie
Hochstapler kennen die Sitten ihres Reviers sehr genau. Sie sind ein Spiegel der Gesellschaft, ihrer Werte und ihrer Sehnsüchte. Als Meister der kalten Empathie erkennen sie instinktiv ungestillte Bedürfnisse im Einzelnen und in der ganzen Gesellschaft. Es geht um schnellen Reichtum, Macht und Ansehen, um Aufmerksamkeit und Einzigartigkeit, um seelische, geistige und körperliche Aufrüstung – das gilt für den Hochstapler selbst als auch für die verführten Opfer. Was und wer in der Gesellschaft etwas gilt, kannan den Hochstapeleien abgelesen werden. Nie aus der Mode kommen Autoritäten wie Ärzte, Juristen, Offiziere, Diplomaten und Wirtschaftsbosse, die das Geheimnis unendlichen Reichtums kennen, gern in Kombination und dekoriert mit einem akademischen oder noblen Titel.
Hochstapelei funktioniert besonders gut in hochkomplexen Gesellschaften, in denen auf Referenzen und Symbolen vertraut wird. Es würde den Einzelnen überfordern, jede Behauptung zu prüfen und jedes Gegenüber aus eigener Erfahrung zu kennen. Ausweise und Zeugnisse sollen für das Gegenüber bürgen. Manchmal reichen auch eine imposante Visitenkarte und, neuerdings, perfekt getunte Social-Media-Profile. Roben, Uniformen und Arztkittel signalisieren Stand und Status wie der Maßanzug, die Markenuhr oder die Nobelkarosse. Fälschungssicher ist das alles nicht. Nun füge man noch ein wenig imitierten Habitus als klassenspezifisches Distinktionsmerkmal hinzu – und der feine Unterschied ist herbeigeschwindelt.
Sind Hochstapler
überdurchschnittlich intelligent?
Seit Hochstapler aktenkundig sind, versuchen Psychologen und Psychiater ihnen auf die Schliche zu kommen. Größenwahn scheint ein elementares Charaktermerkmal zu sein, wie auch Geltungssucht, Arroganz und Minderwertigkeitskomplexe. Pseudologie, der pathologische Hang zum Übertreiben und Lügen, gehört in ihr Psychogramm wie der Narzissmus. Die dunkle Triade aus Narzissmus, Machia-
vellismus und gemäßigter Psychopathie als latentes Potenzmittel der Aufsteiger lässt Menschen die Karriereleiter
erklimmen, ist aber auch charakteristisch für Hochstapler.
Deren angeblich überdurchschnittliche Intelligenz konnten Kriminalpsychologen hingegen nicht nachweisen. Sie ist gefälscht wie die ganze Person, vorgetäuscht durch Eloquenz und Perseveranz, also durch die Perfektionierung ihrer Masche durch Wiederholung.
Es bleibt das Charisma, das jeder noch so kleine Hochstapler für seinen Erfolg braucht. Seine Ausstrahlungskraft gründet auf Anpassungsfähigkeit, Intuition, Kommunikationsfähigkeit und Empathie. Alles Eigenschaften, die als weiblich gelten. Sind Frauen also die besseren Hochstapler? Für die Kriminalpsychologen zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Antwort eindeutig: Von Natur aus seien Frauen versiert in Verstellung und Maskerade, dazu fantasie-
reicher, verlogener und oberflächlicher. Sie besäßen nicht dasabstrakte Gefühl für Wirklichkeit und Wahrheit wie der Mann. Dass Hochstaplerinnen dennoch selten seien, liege an der mangelnden weiblichen Neigung zu Abenteuer, Kriminalität und Selbstständigkeit, so die historische, männlich geprägte Sichtweise.
Die Wahrheit ist wohl eher, dass sie sich nur nicht so oft erwischen lassen wie ihre männlichen Pendants. In der Geschichte wimmelt es von falschen Prinzessinnen und Erbinnen und von Frauen, die sich als Männer ausgaben, um ein Leben zu führen, wie es nur Männer vorbehalten war. Eine hohe Dunkelziffer ist anzunehmen, denn von einer Frau hereingelegt worden zu sein, ist vielen Hochstapleropfern besonders peinlich.
Karriere ohne Kompetenzen
Das Treiben der Personenschwindler deckt die Willkür der fragilen Hierarchien auf. Der erschwindelte Aufstieg hat subversives Potenzial, eine gehörige Portion Provokation und Sozialkritik. Konventionen und Privilegien werden hinterfragt, wenn ein Naseweis Politiker narren, ein Dilettant wissenschaftliche Durchbrüche schaffen und ein Bankkaufmann ein Skalpell führen kann.
Karrieren ohne Kompetenzen scheinen möglich und die Leistungsgesellschaft blamiert sich, weil sie als Propaganda entlarvt worden ist. Wird der Hochstapler ertappt, gibt er sich gern als sittlicher Aufklärer und frecher Avantgardist. Seine Unmoral avanciert zur schelmischen Mission, um Schwächen vorzuführen wie die blinde Gier der Reichen, die Arroganz der Mediziner, die Verführbarkeit der Politiker, die Verlogenheit der Wissenschaft oder die Eitelkeit der Liebesuchenden.
Je spektakulärer die Erzählung, umso größer der Beifall aus dem Publikum, das vor lauter Schadenfreude, Voyeurismus und Sozialneid nicht nur die Opfer aus dem Blick verliert, sondern auch die wirklichen Motive der Betrüger. Deren Antriebe sind bei aller Findigkeit so banal wie konstant: Geldgier und Geltungsdrang.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Hochstapler. Das Heft können Sie hier bestellen.