Personal­verwicklung statt Personal­entwicklung!

Personalmanagement

„Das Bild hängt schief“, entschuldigt sich der Vertreter am Ende eines der lustigsten Kurzfilme von Loriot. Er sagt es, nachdem er Schritt für Schritt das Wartezimmer verwüstet hat. Und, na ja, tatsächlich hing das Bild schief. Beim Geradehängen fällt ihm dann aber das Tischchen mit den zarten Vasen um. Und als er versucht, es wieder zu richten, verrutscht das Regal. Der Unglückliche bleibt im Teppich hängen, reißt die Anrichte mit sich, hängt die Gardine aus – und so geht es verhängnisvoll weiter, bis am Ende nichts mehr an Ort und Stelle steht.

Mit perfekten Slapsticks führt Loriot hier eine Alltagserfahrung vor. Nicht nur: Shit happens! Sondern auch: Jeder Versuch, den einmal entstandenen Wirrwarr beiseite zu räumen, kann eine Reihe von neuen Problemen mit sich bringen, die man mit weiteren Lösungsversuchen dann noch einmal multipliziert.

Die Praxis ist voller Verwicklungen

In Unternehmen sind solche Häufungen bekannt. Jeder kann dazu eine gute Geschichte erzählen – die meisten stecken gerade in einer solchen drin. Es sind Geschichten, in denen nichts gerade auf die Ziele zuläuft, die man sich gesetzt hat. Sie handeln von Verwicklungen, in denen zwischendrin niemand mehr den Durchblick hat und alles nur noch komplexer und komplizierter wird.

Weil das aber nach Scheitern aussieht, ist es kein Zufall, dass man in Unternehmenskulturen lieber von Entwicklung spricht. Das klingt nicht nur besser. Es lässt auch alle in einem besseren Licht erscheinen. Gegen die tatsächlichen Erfahrungen wird die Idee beschworen, dass es nicht ums Verwickeln, sondern um das Entwickeln vorhandener Ressourcen und individueller Potenziale geht. Immer scheint es so, als wäre alles wie auf einem Wollknäuel aufgerollt. Und als müsse man es bloß wie einen roten Faden abspulen, in die Zukunft spannen und ihm geradeaus folgen.

In Unternehmen hat sich die Abteilung der Personalentwicklung auf diese Idee festgelegt. Klar ist: So einen wie Loriots Katastrophenvertreter würden Personaler wohl nicht rekrutieren. Die Personalentwicklung hat es gern mit klaren Zielrichtungen, geraden Linien und vorgedachten Pfaden zu tun. Ob es um Lern- und Transformationsprozesse von Personen, von Teams oder gleich von ganzen Organisationen geht – Aufgabe ist es, Problemlösungskompetenzen zu fördern, die schief hängenden Bilder geradezurücken. Mehr nicht. Angesichts der Alltagserfahrungen, dass sich die Welt nach Einführung von Problemlösungen nicht unbedingt einfacher, übersichtlicher und handhabbarer, sondern in der Regel noch komplexer und damit oft auch komplizierter gestaltet, wird aber deutlich, dass eigentlich etwas anderes gebraucht wird: Verwicklungskompetenz.

Wer die Kompetenz fördert, angesichts immer neuer Verwirrungen, Verstrickungen und Verknotungen nicht zu verzweifeln, sondern sie als Herausforderungen auf dem nächsten Level anzunehmen, schafft damit etwas, wozu sich die Personalentwicklung eigentlich verpflichtet hat: resiliente Mitarbeitende, die sich den Gegebenheiten stellen. Dann können sie ihre Umgebung komplexer verstehen und sie als immerwährendes interessantes Problem wahrnehmen, mit dem man produktiv umgehen muss. Damit holt man nach, was ein spezifischer Mechanismus von Gesellschaften ist, die sich modernisieren. Jeder Versuch, die Komplexität zu reduzieren, ändert vielleicht die Möglichkeit, anstehende Aufgaben anders zu beobachten, neu zu definieren und anders anzugehen. Tatsächlich aber wird die Gesamtkomplexität durch die Einführung neuer Lösungsversuche gesteigert. Und die wirkt wohl oder übel auf die Problemlösungen und ihre Probleme zurück. Dabei gilt: Je komplexer und vernetzter die Zusammenhänge, in denen man operiert, umso schlechter lassen sich solche Rückkopplungen berechnen oder absichern.

Lernen von den Künsten

Die Geschichte der Spätmoderne und die Beschreibung als Netzwerkgesellschaft lassen sich aus dieser Logik heraus begreifen. Es ist folgerichtig, dass sich die Gegenwart und der Blick auf die nächste Zukunft durch die Einsicht auszeichnen, dass alle bisherigen Problemlösungen die Gesamtlage keineswegs beruhigt haben. Die Probleme sind dynamischer, vielfältiger und komplexer, insgesamt schwieriger geworden – und vor allem immer verwickelter. Fast könnte man verzweifeln, Fatalist oder Zyniker werden. Es sei denn, man hat robuste Verwicklungskompetenz erworben.

Wer sie gewinnen will, kann sich an die Künste halten. Denn die haben entschieden weniger Probleme damit, von den Verwicklungen zu erzählen, in die man geraten kann. Dass die antiken Tragödiendichter Verstrickungsfiguren zur Entwicklung brauchen, ist bekannt. Einer wie Ödipus muss losziehen, weil er das vorausgesagte Schicksal abwenden will. Und er steuert doch gerade deshalb direkt ins Unheil, um sich anschließend bei der Aufklärung des Falles in lauter Widersprüchen zu verheddern. Die großen Dramen, die großen Romane, überhaupt die großen Narrative kommen nicht ohne Verstrickungen aus. Dass das nicht nur zum Heulen, sondern auch zum Lachen ist, führen die Komödiendichter ebenso vor wie die Artisten des Sketches und die Meister des Slapsticks. Loriots Katastrophenvertreter ist natürlich ein Verwandter von Don Quijote, der mit Charlie Chaplin und Buster Keaton ebenso verwickelt ist wie mit Mister Bean. Und bekanntermaßen haben Franz Kafkas Helden von all dem ein bisschen. Sie bewegen sich zwischen Tragödie und Komödie, wenn sie sich in Käfer verwandeln, das Schloss nicht finden oder ihren anstehenden Prozess zu einem guten Ende bringen wollen.

Abteilung für Personalverwicklung

Statt den vergeblichen Versuch zu unternehmen, Mitarbeitende vor der Komplexität zu schützen, sollten Personalentwickler zu Verwicklern werden. Ob im Meeting, am Kopierer oder in der Kantine – sie sollten sie durch Interventionen und Abweichungen vom Üblichen in Prozesse hineinziehen, ohne dass diese ahnen, was ihnen auf nächster und übernächster Stufe passieren wird. Die Personalverwicklung begleitet im Durcheinander und lässt erkennen, dass man inmitten der Verwicklungen Spielräume stricken muss. Ob es um die Einführung einer neuen Software geht oder die Umstellung der Kennzahlen, klar ist: Jeder muss jederzeit
mit fast allem rechnen. Vor allem damit, dass alles erst einmal immer komplexer wird – und es dadurch immer schwieriger wird, zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Wer einmal drinsteckt, wird lernen müssen, in und mit der Verwicklung zu arbeiten. Und dabei geht es – auch das sollte kommuniziert werden – nie um finale Lösungen, sondern um die Schönheit im Umgang mit Unübersichtlichkeiten und um die Steigerung der eigenen Komplexitätselastizität.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Angst. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Stephan Porombka ist Professor für Texttheorie und Textgestaltung an der Universität der Künste Berlin.

Stephan Porombka

Stephan Porombka ist Professor für Texttheorie und Textgestaltung an der Universität der Künste Berlin. Seine Schwerpunkte sind Experimentelle Kulturwissenschaft, Ökologien der Kreativität sowie Theorie und Praxis der Personalverwicklung. Zusammen mit Stephan Richter leitet er die Forschungsgruppe „Theorie und Praxis der Verwicklung“ an der Berliner Universität der Künste. Sie stellen derzeit das „Große Hausbuch der Personalverwicklung“ zusammen.
Thomas Richter ist assoziierter Forscher am Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft in Berlin.

Thomas Richter

Thomas Richter ist assoziierter Forscher am Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft in Berlin und promoviert zum Transfer künstlerisch-ästhetischer Prozesse in unternehmerische Kontexte. Zusammen mit Stephan Porombka leitet er die Forschungsgruppe „Theorie und Praxis der Verwicklung“ an der Berliner Universität der Künste. Sie stellen derzeit das „Große Hausbuch der Personalverwicklung“ zusammen.

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