Die deutsche Wirtschaft verschläft die digitale Zukunft, sagt Tim Cole. Der Internet-Experte hält auch den Datenschutz in Deutschland für übertrieben. Ein Gespräch über Big Data, 3D-Drucker und die Notwendigkeit von Netzwerk-Strukturen.
Tim Cole hatte schon einen Blog, da wussten viele noch gar nichts vom Internet. Seit 1995 bloggt der deutsch-amerikanische Autor. Auf die Interviewanfrage reagiert er nach einem Tag. „Verzeihen Sie, dass ich mich jetzt erst melde“, schreibt er, „aber ich war zum Jagen in Kroatien und deshalb von der Außenwelt abgeschnitten.“
Herr Cole, Sie sind selbstständig als Berater, Redner und Autor tätig. Sie haben es geschafft, sich als starke Marke zu etablieren. Werden wir vermehrt so arbeiten: selbstständig und immer mit einem Fokus auf Eigenmarketing?
Es gibt ernste Anzeichen dafür, dass Festanstellung ein Auslaufmodell ist. Wenn Arbeit sich immer mehr industrialisieren und modularisieren lässt, dann wird es auch möglich sein, komplexe Aufgaben an Menschen außerhalb des Unternehmens zu vergeben – und zwar scheibchenweise. Das können auch wissensintensive Aufgaben wie Präsentationen oder Architekturzeichnungen sein. Im Unternehmen muss dann nur noch jemand die Module zusammenbauen.
Ein Unternehmen wird aber nicht nur mit Freelancern arbeiten, oder? Firmen werden weiterhin ein qualifiziertes Kernteam haben, das sie an sich binden wollen.
Ja, das wird es sicherlich weiterhin geben. Aber das Gute an den technologischen Entwicklungen ist vor allem, dass die Zahl der Routinetätigkeiten seit Jahren abnimmt und die können leicht automatisiert werden. Das gibt uns Menschen den Freiraum, spannendere und kreativere Aufgaben zu übernehmen. Das Schlechte ist natürlich, dass viele Tätigkeiten, die heute bezahlt werden, von Maschinen übernommen werden können. Unter anderem gehört das Schreiben von Artikeln dazu.
Werden Ihrer Meinung nach an anderer Stelle neue Jobs entstehen?
Auf jeden Fall. Es entstehen ständig neue Jobs. Aber in der Regel werden es höherqualifizierte Jobs sein als die, die wegfallen. Die Spaltung der Arbeitsgesellschaft könnte sich also vertiefen: Auf der einen Seite haben wir eine hohe Arbeitslosigkeit, die auch hoch bleiben wird. Auf der anderen Seite steuern wir auf einen noch größeren Fachkräftemangel hin – insbesondere aufgrund des demografischen Wandels. Deshalb müssen die Gesellschaft und die Politik in den nächsten Jahren sich ganz stark auf die Bildung fokussieren.
Sie schreiben in Ihrem Buch „Digitale Transformation“, dass Daten heute schon – und in Zukunft noch mehr – Teil des Betriebsvermögens sind. Warum entscheiden Ihrer Meinung nach Daten über den Erfolg von Unternehmen?
Wir bewegen uns auf eine Welt zu, in der immer mehr Systeme miteinander vernetzt sind. Und das Ziel im Marketing ist es beispielsweise, so viele Informationen über einen Kunden zu sammeln wie möglich, um ihm vorauseilend seine Wünsche erfüllen zu können und ihn mit Dingen in Ruhe zu lassen, die er nicht haben will. Heute heißt das Big Data, früher hieß es Service. Aber heute ist es tatsächlich möglich, die Bedürfnisse des einzelnen Kunden minutiös zu erfassen und sehr gezielt auf den Kunden einzugehen – auf einer persönlichen Ebene. Der, der das am besten kann, gewinnt den Kampf um die Kunden.
Ist das permanente Sammeln von Kundendaten für Sie in Ordnung?
Ich sehe da moralisch nichts Verwerfliches. Ich denke, in der Regel wird ein Unternehmen verantwortungsvoll mit den Daten umgehen, weil ansonsten negative Konsequenzen drohen, wenn das nicht passiert. Der Kunde ist unerbittlich, wenn mit seinen Daten Missbrauch betrieben wird. Er kann die Höchststrafe verhängen und die Kundenbeziehung beenden. Marktwirtschaft ist der beste Datenschutz.
Wie weit sind wir bei Big Data in Deutschland? Kann man sagen, die Unternehmen haben genug Daten über die Kunden, nur sie wissen nichts damit anzufangen?
Na ja, deutsche Unternehmen dürfen ziemlich wenig mit solchen Daten machen. In Deutschland wird eine paternalistische Form des Datenschutzes praktiziert, was eine echte Wirtschaftsbremse ist. Es ist fast paranoid, was wir da aufführen. Es muss möglich sein, dass ein Unternehmen die Daten seiner Kunden verantwortungsvoll verwendet, um bessere Produkte und einen besseren Service bieten zu können. Beispielsweise würden kundenzentrische Beziehungsnetzwerke Sinn machen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Eine Fluggesellschaft, ein Kreditkartenanbieter, eine Mietwagenfirma und eine Hotelkette könnten kooperieren, um den Kunden herum ein Netzwerk spannen und die Kundendaten miteinander teilen. So könnte das Netzwerk den Kunden hervorragend bedienen. Das geht aber nicht, weil die Unternehmen personenbezogene Daten nicht austauschen dürfen. Dennoch bin ich für das informationelle Selbstbestimmungsrecht. Der Bürger muss selbst bestimmen, wer seine Daten kriegt und wofür. Was Facebook macht, ist eine Sauerei. Sie ignorieren das Recht der Nutzer und machen mit den Daten, was sie für richtig halten.
Sie schreiben in Ihrem Buch zu dem Bereich Marketing: „Heute ist jeder Kunde eine Zielgruppe.“ Wie meinen Sie das?
Jeder Kunde muss ernstgenommen werden. So wie man früher Zielgruppen definiert und für diese Produkte hergestellt hat, kann man heute für jeden einzelnen Kunden das passgenaue Produkt herstellen – zumindest ist es möglich. Die Herausforderung ist nun, tatsächlich auch das Produkt anzubieten, und zwar zu einem wettbewerbsfähigen Preis. Das geht zum Beispiel über kundenindividuelle Massenfertigung oder Modularisierung. Die Automobilindustrie macht es eigentlich schon heute ganz gut vor. Im Internet kann der Kunde sich das passende Auto konfigurieren und beispielsweise unter zahlreichen Ausstattungs- und Fahrwerkvarianten auswählen.
Gleichzeitig gibt es viel Standardisierung bei den Herstellern. In verschiedenen Marken werden die gleichen Komponenten eingebaut.
Natürlich gilt nach wie vor die Effizienz des Taylorismus. Die Hersteller müssen aber dafür sorgen, dass die Produktion so flexibel ist, dass die Losgrößen immer kleiner werden – bis zur theoretischen Losgröße eins. Der 3D-Drucker wird dabei meiner Meinung nach eine Riesenrolle spielen.
Können Sie sich vorstellen, dass Kunden in einem Geschäft an einem 3D-Drucker ihre eigenen Produkte herstellen?
Das gibt es heute schon. Zum Beispiel bei einem Geschenkeartikel-Hersteller in Bonn. Da kann jeder seine eigenen Werbegeschenke ausdrucken.
Klingt nach Science Fiction.
Nein. Es ist Alltag und es wird in immer mehr Bereichen Alltag werden. Bis bald jeder Haushalt einen 3D-Drucker hat, sodass wir von den Herstellern nur noch die Konstruktionsdaten bekommen und es selbst ausdrucken können – nachdem wir vielleicht noch eine Kleinigkeit geändert haben. Es findet eine Demokratisierung der Fertigung statt.
Wo wird Ihrer Meinung nach bei deutschen Unternehmen ganz allgemein der größte Wandel stattfinden?
Deutsche Unternehmen sind in hohem Maße hierarchisch strukturiert. Das Obrigkeitsdenken bei den Menschen hierzulande ist immer noch weit verbreitet.
Und das wird sich ändern?
Das muss sich ändern. Arbeit 4.0 funktioniert nicht in einem hierarchischen System, sondern nur in Netzwerk-Strukturen, in denen der Einzelne ein Knotenpunkt darstellt. Das gilt auch für den Chef. Er kann ein dicker Knotenpunkt im Netzwerk sein mit vielen Verbindungen, aber er kann nicht außerhalb stehen. Dezentrales Arbeiten und zielorientierte Führung können nicht gelingen, wenn sich die Netzwerkstrukturen im Denken und Handeln nicht durchsetzen.
Was machen amerikanische Unternehmen aus dem Silicon Valley in dieser Hinsicht besser?
Sie schaffen es, den einzelnen Mitarbeiter zum Teil eines dynamischen Prozesses zu machen, sodass dieser bereit ist, sein ganzes Potenzial in den Dienst der Firma einzubringen. Mit einem Nine-to-Five-Mitarbeiter geht das natürlich nicht. Andererseits verbietet die Mehrheit der deutschen Unternehmen ihren Leuten im Home Office zu arbeiten. Das sagt alles über die Führungskultur in Deutschland.
Wir müssen viel mehr auf die Eigenverantwortung und die Selbstorganisation der Mitarbeiter setzen. Ein Team bewältigt gemeinsam die Aufgaben, man unterstützt sich gegenseitig, ohne dass der Chef eingeschaltet werden muss. Das bedeutet los zu lassen. Aber nicht ohne vorher gemeinsame Ziele zu definieren.
Wo steht das Thema Industrie 4.0 in Deutschland? Es gibt unter anderem eine Online-Plattform, die mit 250 Teilnehmern aus mehr als 100 Organisationen als größtes Industrie-4.0-Netzwerk gilt. Unternehmen wie Trumpf und Bosch sind bei dem Thema vorne dabei. Ich habe das Gefühl, dass sich in Sachen Industrie 4.0 in Deutschland einiges tut. Würden Sie mir zustimmen?
Das Bewusstsein für das Thema ist gestiegen. Wenn man allerdings berücksichtigt, von wo wir kommen, ist das nicht so wahnsinnig aufregend. Es war lange Zeit weniger ein Thema für Praktiker als für Politiker und Wissenschaftler. Noch vor einem Jahr war zwei Dritteln der Unternehmen der Begriff Industrie 4.0 unbekannt. Unternehmen wie Bosch und Trumpf sind nun bemüht, wissenschaftliche Erkenntnisse in konkreten Projekten umzusetzen. Bei Bosch sind es mehr als 30 – doch sie bleiben in der Regel punktuell. Wir sind weit entfernt von einer weit umfassenden digitalen Transformation eines Unternehmens.
Das liegt jedoch nur zum Teil an der Einstellung, sondern ebenso an der fehlenden Vernetzung in deutschen Unternehmen. Es wurden nämlich vor allem digitale Inseln geschaffen. Ein Customer Relationship Management-System, ein E-Shop oder ein Human Resources Management-System haben viele, doch sie sind in der Regel nicht miteinander verbunden. Die IT hat den Auftrag dazu nicht bekommen oder es war bei der Einführung des jeweiligen Systems nicht vorgesehen. Gerade bei einer Produktionsanlage oder einer Werkbank hat niemand daran gedacht, dass diese einmal mit anderen Systemen vernetzt werden. Deutsche Unternehmen müssen zuerst ihre Hausaufgaben machen, bevor sie vom „Internet of Everything“ träumen können.