Im Zeitalter der Risiken

Essay

Noch spät am Abend des 24. Februar appellierte UN-Generalsekretär António Guterres an Wladimir Putin: „Geben Sie Frieden eine Chance“. Genützt hat es nicht. Wenige Stunden später sprach der Präsident Russlands von einer „Militäroperation“, warnte die NATO-Staaten vor einem Eingriff und feuerte kurz darauf die ersten Raketen auf die Ukraine ab. Eine „Militäroperation“ ist es nur in der russischen Propaganda. In Wirklichkeit handelt es sich um einen Angriff, der längst zu einem Krieg geworden ist – mitten in Europa. Der Frieden, der für uns als selbstverständlich galt und für den die Europäische Union einst den Friedensnobelpreis erhalten hat, ist vorbei. Die Gewissheit über die ewige Sicherheit ist tot. Deutschland und Europa müssen sich neu sortieren, politisch wie wirtschaftlich. Denn die Folgen sind unmittelbar: Deutschland muss sich mit einem Ende der russischen Gaslieferungen auseinandersetzen. Die Energieversorgung steht auf dem Spiel und die Wirtschaftswelt vor einer noch nie da gewesenen Herausforderung. Unternehmen ziehen sich aus Russland zurück. Menschen flüchten aus der Ukraine nach Europa, auch nach Deutschland. Es herrscht Verunsicherung.

Die Wirtschaftswelt hält zahlreiche Risiken bereit – sei es durch Cyberangriffe, die Coronakrise oder den Fachkräftemangel. Doch der Krieg in der Ukraine verdeutlicht einmal mehr die Dringlichkeit des Themas: Die Wirtschaft bewegt sich in einem Hochrisikoumfeld, in dem lange Planungszeiten kaum etwas nützen, stattdessen in jedem Bereich Agilität gefragt ist. Doch wie sollen wir mit der permanenten Unsicherheit umgehen? Die Suche nach Antworten auf eben diese Frage kann zu Michael Grömling führen. Er ist Leiter der Forschungsgruppe Gesamtwirtschaftliche Analysen und Konjunktur beim Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. Grömling wirft in seinem Job einen Blick auf das große Ganze – und das ist nicht gerade rosig. „Bereits bestehende Probleme verschärfen sich gerade deutlich“, sagt er. Dass die aktuelle Zeit und die jüngere Vergangenheit risikoreicher sind, sei zwar erst einmal ein Gefühl, das viele hätten. „Doch es geht auch darüber hinaus“, sagt Grömling mit Blick auf die jüngsten Krisen. Die Finanzkrise von 2007/2008, die Fluchtbewegung von 2015, die Coronakrise, die über allem schwebende Klimakrise, der Handelsstreit zwischen den USA und China, all das überschreite Ausmaß und Taktung vorheriger Jahrzehnte, sagt Grömling.

Alleine die Überschneidung zwischen Coronapandemie und Krieg in der Ukraine sei für die Wirtschaft eine nie da gewesene Herausforderung, wie eine Analyse des Instituts der deutschen Wirtschaft von Ende März 2022 zeigt. Selbst wenn es den Krieg nicht gegeben hätte, so beschreibt es darin Grömling selbst, seien die Wirtschaftseinbrüche bis heute zu groß gewesen, um wieder das Niveau vor der Pandemie zu erreichen. Darüber, wie sich der Krieg weiter auf die deutsche Wirtschaft auswirkt, gibt es inzwischen diverse Analysen, deren Interpretation für Unsicherheit sorgt. „Im Grunde hängt jede Prognose vom politischen Ausgang ab“, sagt Grömling. „Dieser Mechanismus bestimmt uns derzeit, das haben wir bereits während der Pandemie erlebt.“

Aktuelle Nachrichten und Analysen lassen schnell den Glauben aufkommen, dass wir in der schlechtesten aller Welten leben. Doch ganz so einfach ist das nicht. Denn Risiko und Unsicherheit haben viel mit der Psyche zu tun, also mit dem, wie wir Risiko und Unsicherheit wahrnehmen, sagt Philosophieprofessor Olivier Roy von der Universität Bayreuth. Es komme darauf an, was man unter „Risiko“ verstehe. „Das klingt erst einmal trivial, aber im Grunde entstehen all unsere Entscheidungen aus Risiken heraus. Wir wissen nie genau, wie andere sich verhalten werden, von daher leben wir eigentlich immer in einem risikoreichen – oder zumindest einem ungewissen – Umfeld“, sagt der Wissenschaftler. Grundsätzlich, das zeige die Forschung, sei unser Gehirn immer darauf ausgerichtet, sich auf die negativen Aspekte zu konzentrieren und sie zu stark zu gewichten. „Es ist nicht so, dass es unbedingt mehr Risiko gibt, sondern dass sich die Risiken oder die Aufmerksamkeit für diese verschieben“, sagt er. Das liegt auch am medialen Fokus. Als die Coronapandemie begann, waren alle Medien voll von Inzidenzzahlen, der Lage in Norditalien und den Befürchtungen der Wirtschaft. Später ebbte die Aufmerksamkeit ab und wurde schließlich vom Krieg in der Ukraine überdeckt.

Die Aufmerksamkeitsfrage zeigt sich bei der Klima­krise ganz ähnlich. Sie schwebt immer über uns, manchmal erscheint sie aber doch sehr weit weg. Erst wenn die nächste Flut wieder Häuser wegspült, Menschen ums Leben kommen, im Sommer der Regen ausbleibt und die Wälder brennen, dann wird das Thema präsent. „Die Verhaltens­ökonomik zeigt uns sehr deutlich, dass wir immer dazu neigen, Risiken in weiter Ferne zu diskontieren“, sagt Roy. Was er damit meint: Solange wir Auswirkungen nicht direkt spüren, fällt es uns schwer, unser Verhalten zu ändern. Wir fliegen gerne in den Urlaub und fahren schnell über die Autobahn, weil es eben keinen unmittelbaren Effekt hat.

Globalisierung mit Wirkung auf HR

Durch die Globalisierung ist die Welt enger zusammengerückt. Alles hängt zusammen und hat Auswirkungen aufeinander. Wenn in China das Coronavirus Millionenmetropolen stillstehen lässt, Finanzkrisen anderer Länder Insolvenzen zur Folge haben oder ein querstehendes Schiff im Suezkanal zu monatelangen Lieferschwierigkeiten führt, sollten sich Unternehmen entsprechend aufstellen. Agil sein, flexible Strukturen schaffen, sich eine robuste Lieferkette zusammenstellen, all das sind Tipps die Unternehmensberatungen üblicherweise für solche Fälle geben. Wer sie mit mehr Leben füllt, erkennt dahinter noch besser die Bedeutung. Es kann jederzeit eine Virusmutation auftreten, die wieder Belegschaften ins Homeoffice zwingt. Es kann jederzeit zu Konflikten in für die deutsche Wirtschaft wichtigen Ländern kommen. Und es kann jederzeit ein Zulieferbetrieb irgendwo auf der Welt ausfallen.

Wenn also entscheidend ist, wie Menschen mit den Risiken umgehen, dass sie die negativen Aspekte nicht übergewichten sollen, dann ist das auch die Stunde von HR. Denn die HR-Abteilung kann es wie kaum eine andere schaffen, Beschäftigten ihre Verunsicherung zu nehmen. So sieht das zum Beispiel Katharina Himmerich, HR-Beraterin und Mitgründerin der inhabergeführten Unternehmensberatung 2bessential in Bielefeld. Dafür muss HR allerdings mehr sein als nur eine Abteilung, die sich um Abrechnungen und Weiterbildungsthemen kümmert. „Wir müssen daher wegkommen vom Abteilungsdenken, HR ist ein strategischer Partner für die Geschäftsführung“, sagt Himmerich. „Sie bündelt die Bedarfe der Angestellten und des Unternehmens, dafür muss sie in alle Prozesse eingebunden werden.“

In der Coronakrise etwa konnten HR-Abteilungen ihren Wert unter Beweis stellen. Bei Fragen rund ums Homeoffice, wie man Teams virtuell führt, wie sich Arbeitszeiten erfassen lassen und auch wie das Hygienekonzept aussehen kann. Überall waren die Personalabteilungen mit eingebunden. „In dieser Situation haben HR-Abteilungen oft gut reagiert – und auch sehr viel dazugelernt“, sagt Himmerich. „Was aber häufig fehlt, ist ein übergeordnetes Lernen, wie man sich strategisch auf ähnliche Risikolagen vorbereiten kann.“

Wer es also geschafft hat, aus der Coronakrise Erkenntnisse für andere Krisen zu ziehen, der kann nun auch besser auf den Krieg in der Ukraine und vor allem seine Folgen reagieren. HR muss erste Ansprechperson für alle in der Belegschaft sein, die Fragen zu der Situation haben. Die notwendigen Informationen erhält die Abteilung, wenn sie eng in die entscheidenden Prozesse des Unternehmens eingebunden ist. Ehrlich kommunizieren sei wichtig, sagt Himmerich, um so Vertrauen zu schaffen. Dann könne es gelingen, den Arbeits- und Führungskräften die Verunsicherung zu nehmen.

„Wichtig ist, Menschen nicht zu Betroffenen zu machen, sondern ihnen Brücken zu bauen“, sagt Himmerich. Die HR-Abteilung sollte ihnen daher Lösungswege aufzeigen können – und wenn sie selbst noch keine kennt, Vorschläge aus der Geschäftsführung verlangen. Das könne bei Fragen zu den Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine auf das eigene Unternehmen der Fall sein, gelte aber genauso für alle anderen Themen, die für Angestellte relevant sein könnten. Die HR-Abteilung sollte dafür sorgen, dass die Mitarbeitenden die Entscheidungen im Unternehmen nachvollziehen können und laut Himmerich im Zweifelsfall auch daran beteiligt werden. Unternehmen seien immer dann am erfolgreichsten, wenn sie ihre eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter befähigen könnten. „Und das geht nur, wenn ich sie einbinde.“ Diejenigen, die man einmal verloren hat, wieder aufzufangen, sei viel aufwendiger.

Der Krieg in der Ukraine lässt Europa stärker zusammenrücken. Wir alle, die Gesellschaft, die Politik, Unternehmen und Führungskräfte, lernen den Wert der Europäischen Union nun wieder neu wertzuschätzen. Gleichzeitig steht die Wirtschaft vor einer ungewissen Zukunft. HR muss sich im Machtgefüge einzelner Abteilungen im Unternehmen behaupten. Im Idealfall ist sie stark eingebunden und kann so helfen, die Krisen zu managen. HR kann gar einen Perspektivwechsel vollziehen und sich fragen, wie das Unternehmen Geflüchteten, die nun in Deutschland leben, helfen kann. Dazu braucht es auch Vernetzung außerhalb des Unternehmens. Die Abteilung kann mit Behörden in Kontakt treten, mit Arbeitsagenturen, Volkshochschulen, juristische Fragen für eine Arbeitsgenehmigung klären. In Teilen passiert das bereits.

Wenn uns bisherige Krisen bereits etwas gelehrt haben, dann ist es die Tatsache, dass sie sich gemeinsam am besten bewältigen lassen. Es braucht ein Zusammenspiel aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Ebenso eine gute Zusammenarbeit der verschiedenen Abteilungen in einem Unternehmen. Das Risiko, in die nächste Krise zu geraten, wird es immer geben. Mit der Klimakrise steht im Grunde eine schon unmittelbar bevor, auch wenn sie manchmal kaum greifbar scheint. Silodenken bringt niemanden weiter. Nun ist ein guter Zeitpunkt, enger zusammenzurücken.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Risiko. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Jan Schulte, Journalist

Jan Schulte

Jan Schulte ist freier Journalist und Mitgründer des ­Journalistenbüros Dreimaldrei in Köln.

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