Selbstorganisierte Teams: Wer hat die Macht?

Agile Organisationen

Das Ideal der klassischen Organisation besteht darin, dass sie geschaffen wurde, um Ordnung und Handlungssicherheit zu gewährleisten. Der US-amerikanische Sozialwissenschaftler Edgar Schein definierte Organisation als „jede nach rationalen Gesichtspunkten erfolgende Koordination der Aktivitäten einer Anzahl Menschen mit dem Zweck, ein gemeinsames, explizit genanntes Ziel vermittels der Aufteilung von Arbeit und Funktionen und vermittels einer hierarchisch geordneten Autorität und Verantwortlichkeit zu erreichen“. Macht in Organisationen zeigt sich darin, welche Handlungsmöglichkeiten Personen haben und welche Interessen sie verfolgen. Für den deutschen Soziologen Max Weber bedeutet Macht „Jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht“.

Zwei Eigenschaften von Macht können hieraus abgeleitet werden: Die erste Voraussetzung lautet, einen „eigenen Willen“ verfolgen zu wollen. Zweitens geht Weber davon aus, dass Machtausübung nicht einseitig ist. Machtbeziehungen können durchaus kooperativ sein. Führungskräfte sind nicht lediglich Unterdrückungsapparate, sondern es braucht seitens der Untergebenen ein Minimum an Kooperationsbereitschaft. Worin aber die Grundlage der „Chance der Willensdurchsetzung“ liegt, wird nicht näher spezifiziert. Dies klärt ein Zitat von Niklas Luhmann, ebenfalls ein deutscher Soziologe, demgemäß die Ausübung von Macht die Schaffung von Ordnung sichert: „Macht ermöglicht es, Systeme so zu organisieren, dass sie trotz hoher Komplexität entscheidungsfähig bleiben.“ Daraus ergibt sich die dritte Eigenschaft von Macht: Das Rationale der Konstruktion besteht darin, dass die Ausstattung einer Person mit „Organisationsmacht“ aus ihrer Rolle resultiert, aus der heraus sie das Überleben der Organisation sichert. Die Legitimation der Macht in Organisationen beruht also nicht auf besonderen individuellen Qualitäten wie Erfahrung, Charisma oder Überzeugungskraft. An die Stelle irrationaler, persönlich-partikularistischer Gesichtspunkte treten rationale, unpersönlich-universalistische Regeln. Die formale Organisation setzt auf unpersönliche Beziehungen, auf die Trennung von Position und Person, die sachbezogene Verteilung von Kompetenzen und eine geprüfte fachliche Leistungsqualifikation der Mitarbeitenden.

Agile Organisation und ­Personalisierung der Macht

Dass die klassische Definition von Organisation nicht mehr viel wert ist, lässt sich daran erkennen, dass sie zunehmend mit Begriffen wie Netzwerk, Felder oder Räume beziehungsweise durch Substantivierung englischer Verben wie „Organizing“, „Strategizing“ oder „Sense-Making“ ergänzt wird. Den meisten von uns ist klar, dass starre Hierarchien, gekoppelt mit einem schematisch-strukturierten Führungsverständnis, nur bedingt in einer komplexen, arbeitsteiligen Welt taugen. Wissens-, Innovations- und Dienstleistungsarbeit orientiert sich nicht mehr an vorgegebenen Kennzahlen und den Erfahrungen aus der Vergangenheit, sondern an der Zukunft. Wenn es aber um Zukunft geht, dann geht es immer auch um Ungewissheit. Und Ungewissheit lässt sich nicht organisieren! Infolgedessen werden die klassischen Führungsaufgaben von Entscheiden und Durchsetzen sowie Command und Control fragwürdig.

Von Heinz von Foerster, einem österreichischen Physiker und Philosoph, stammt der Satz: „Nur die Fragen, die im Prinzip unentscheidbar sind, können wir entscheiden.“ Für diese paradoxe Formulierung liefert er die Begründung gleich mit: „Einfach, weil die entscheidbaren Fragen schon entschieden sind durch die Wahl des Rahmens, in dem sie gestellt werden, und durch die Wahl von Regeln, wie das, was wir ‚die Frage‘ nennen, mit dem, was wir als ‚Antwort‘ zulassen, verbunden wird.“ Solange wir also Fragen mithilfe von Logik beziehungsweise Regelkonstruktionen beantworten können, treffen wir keine Entscheidung. Wenn sich die Alternative A bereits von selbst entscheidet, weil sie mehr positive Gründe auf sich vereint als B, sind nicht wir diejenigen, die entscheiden, sondern das Entscheidungskriterium. Folglich müssen wir die Wahl auch nicht verantworten, weil sie rational selbsterklärend ist.

Während bei entscheidbaren Fragen die Kriterien vorgegeben und die Verantwortung festgelegt sind, müssen wir bei einer Entscheidung, bei der eine Alternative existiert, die sich nicht aus rationalen Gründen von selbst ergibt, aus unserer persönlichen Freiheit heraus entscheiden und die Verantwortung selbst übernehmen. Wenn sich Organisationen fortan Ungewissheit und komplexen Herausforderungen stellen, kann es nicht mehr allein um Rationalität als Entscheidungskriterium gehen. Dementsprechend werden bei den Mitarbeitenden Fähigkeiten wie Eigeninitiative, Reflektiertheit und Kooperationsbereitschaft dominant. Bei alldem müssen wir uns jedoch bewusst sein, dass dies Verhaltensweisen sind, die die rationale Organisation weder selbst herstellen noch eindeutig spezifizieren oder überprüfen können. Sie unterliegen der persönlichen Kontrolle der Mitarbeitenden und können nur freiwillig eingebracht werden. Jede Aufforderung, dies zu tun, endet in einem performativen Widerspruch. Mit den Worten des deutschen Soziologieprofessors Peter Fuchs geht es um die „Erzwingbarkeit nicht erzwingbarer Leistungen“. Auf das Thema der Organisationsmacht übertragen, bringt ein Zitat des Soziologen Marc Ortmann Klarheit: „Wo nicht intendierbare Zustände benötigt werden, ist Macht im bisher verwendeten Sinne des Begriffs also weitestgehend wirkungslos.“

Hat sich damit die Organisationsmacht erübrigt? Verschwindet sie einfach oder wohin wandert sie ab? Aktuelle Lösungsideen bestehen darin, auf agile Organisationskonzepte und Selbstorganisation zu setzen. Es geht darum, sowohl die Arbeit als auch die Interaktion und Kooperation mit anderen flexibel zu koordinieren. Offiziell werden die Hierarchien abgeflacht, es gibt kaum mehr positionale Macht, es gibt keine vorgegebenen Entscheidungsverfahren. Alles wird paritätisch ausgehandelt. Infolgedessen lässt sich aber auch Machtausübung nicht mehr formal legitimieren. Das Problem: Agilität bringt die Machtverhältnisse keineswegs zum Verschwinden, stattdessen verlagert sie sie in die Informalität der Kooperationsbeziehung. Das führt zu der Frage: Wie werden fortan Entscheidungen in Organisationen getroffen und durchgesetzt und wodurch lässt sich nicht organisationale Macht legitimieren?

Interaktion, Gruppendynamik und die reife Gruppe

Agilität bezeichnet die Fähigkeit von Organisationen, sich Umweltveränderungen flexibel anzupassen. Damit müssen sie das ermöglichen, was sie weder sind noch selbst herstellen können: Orte, an denen Entscheidungen unter Ungewissheit getroffen und Kooperationsverläufe immer wieder neu ausgehandelt werden. Genau genommen geht es um die Organisation des Nichtorganisierbaren. Anders als in klassischen sind in agilen Organisationen die Rollen und der Ablauf von Interaktion und Kooperation nicht vorentschieden. Die Aufgaben werden nicht per Weisung oder Stellenbeschreibung aufgegeben, sie werden von den Personen ausgehandelt. Das hört sich zunächst unspektakulär an, allerdings zählt individuelles Rollenaushandeln nicht zu den originären Organisationsprinzipien. Dieser entscheidende Aspekt der agilen Organisation bleibt aufgrund der folgenreichen Komplexität der Aushandlungsprozesse weitgehend unbeachtet. Stattdessen heißt es lapidar: „Das wird im Team entschieden.“ So ist das Team, das beliebteste agile Konzept, um die eigentliche Komplexität der Kooperation und den Umgang mit Macht unsichtbar zu machen.

Nehmen wir als Beispiel ein Scrum-Team. Dort herrscht keine Anarchie, aber was genau organisiert sich da selbst? Daily Scrum, Sprint Review, Sprint Planning und Sprint Retrospective koordinieren die Zusammenarbeit und kehren regelmäßig als Verfahren wieder. Sie schreiben aber keine Handhabe vor, auf welche Weise die Mitglieder mit Ungewissheit, Macht oder der Frage, wie Entscheidungen gefällt werden, umgehen können. Dies muss ausgehandelt werden. Das Team muss die eigene Kooperation selbst erfinden, weil erst dann die Personen sichtbar und wirksam werden können.

Wenn das Team selbst entscheiden soll und wir akzeptieren, dass allen Entscheidungen unter Ungewissheit immer ein Aspekt der Willkür anhaftet, kann es keine richtige Art der Entscheidungsfindung geben. Ebenso verhält es sich mit der Macht: Wenn wir nicht sicher wissen, welches Verhalten der Systemsicherung dient, kann es auch keine formale Legitimität mehr geben. Damit wird Machtausübung in Teams nicht illegitim, sie muss sich nur anders rechtfertigen – aber wie?

Dank der wissenschaftlichen Expertise der Gruppendynamik wissen wir, dass Gruppen sich immer irgendwie selbst organisieren, das heißt, in ihnen finden immer Formen von Führung und Gefolgschaft statt. Damit diese Prozesse nicht intransparent und unbewusst ablaufen, muss sich das Team über sich selbst Klarheit verschaffen. So lautet das Ziel der Gruppendynamik, der Gruppe zu ermöglichen, sich über ihre unterschiedlichen Macht- und Einflusskonstellationen, ihre Widersprüche und Paradoxien bewusst zu werden, ihren Standort selbst bestimmen zu lernen und sich darüber ihre eigene soziale Wahrheit zu geben. Selbstorganisation und der Umgang mit Macht und Entscheidung kann nur über Selbstdiagnose in Form von gegenseitigem Feedback laufen. Die Instanz, die darüber entscheidet, ob richtig entschieden wurde beziehungsweise, ob die Ausübung von Macht zuträglich war, ist die reife Gruppe selbst.

Die Agilität moderner Organisationen besteht nicht darin, Person und Gruppe sich selbst zu überlassen. Stattdessen braucht es verlässliche formelle Regelungen für nicht organisationale Kommunikationsformen und das Wissen und die Bereitschaft, sich auf diese mitunter informalen und sehr personennahen Prozesse einzulassen und sie professionell zu begleiten. In dieser Tradition zielen gruppendynamische Konzepte darauf ab, eine explizite Beobachterposition einzuführen, die unbewusstes Agieren besprechbar und latente Strukturen sichtbar macht. Hier hat die Gruppendynamik noch viel zu bieten.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Miteinander. Das Heft können Sie hier bestellen.

Unsere Newsletter

Abonnieren Sie die HR-Presseschau, die Personalszene oder den HRM Arbeitsmarkt und erfahren Sie als Erstes alles über die neusten HR-Themen und den HR-Arbeitsmarkt.
Newsletter abonnnieren

Olaf Geramanis

Olaf Geramanis ist Dozent an der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz. Als Professor für angewandte Gruppendynamik und personenorientierte Beratung verantwortet er als Studienleiter den Master of Advanced Studies Change und Organisationsdynamik. Der promovierte Pädagoge ist zudem als Coach, Supervisor und Trainer für Gruppendynamik in den Bereichen Coaching, Teamentwicklung und Organisationsberatung tätig. Geramanis ist Autor mehrerer Bücher. Gerade ist Vertrauen und Vertrautheit in Organisationen bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienen.

Weitere Artikel