Konzerne sind wie große Dampfer: Sie bahnen sich langsam und mitunter schwerfällig ihren Weg, legen dafür allerdings weite Strecken zurück. Auf ihnen arbeiten viele Menschen in unterschiedlichen Funktionen, oft wissen sie gar nicht, wer im Maschinenraum nebenan beschäftigt ist oder wer in der Kajüte ein Stockwerk höher sitzt. Start-ups wiederum sind wie Schnellbote: Mit hoher Geschwindigkeit jagen sie durch unruhiges Gewässer. Hier hat nicht unbedingt jede Person einen festen Platz – stattdessen ist man froh, wenn Etappenziele erreicht und alle Aufgaben an Bord erledigt sind. Den Hut hat in der Regel die Person auf, die das Start-up gegründet hat. Sie sitzt mittendrin und baut auf das Vertrauen aller Beteiligten untereinander.
Für HR-Verantwortliche sind diese Unterschiede folgenreich. Es beginnt beim Alter des Unternehmens: Während insbesondere junge Start-ups die für sie optimalen Prozesse und Strukturen noch etablieren müssen, gibt es in Konzernen in aller Regel für jede Einstellung, Weiterbildung, Beförderung oder Kündigung der Mitarbeitenden einen festen Ablaufplan. Und auch die Frage nach der Kultur und wer überhaupt im Unternehmen beschäftigt ist, ist bei Start-ups anders zu beantworten als bei Konzernen. Laut dem Deutschen Start-up-Monitor 2021 beträgt etwa das Durchschnittsalter der Gründer und Gründerinnen 36 Jahre – das der allgemeinen Erwerbsbevölkerung derweil rund 43 Jahre. Und zu guter Letzt ist da noch der vor allem in der Gründerszene hochgejazzte Purpose: also der Sinn, das Ziel und die Bestimmung der Beschäftigten. Der Purpose findet sich bestenfalls in der HR-Strategie von Konzern und Start-up wieder.
Zwei HR-Beauftragte aus Start-up und Konzern berichten, wie sie ihre Rolle auf hoher See einschätzen.
Jungunternehmen: Der Offizier unter Deck
Christopher Diedrich leitet bei HomeToGo, einem digitalen Marktplatz für Ferienhäuser und Ferienwohnungen, die Abteilung People and Organization. Das Berliner Unternehmen hat rund 350 Beschäftigte.
„Bei uns nimmt nicht die Person das Ruder in die Hand, die über die meiste Seniorität verfügt, sondern die mit der größten Expertise.“
Christopher Diedrich, Personalleiter HomeToGo
Als ich im Jahr 2016 bei HomeToGo angefangen habe, gab es nur eine Person, die sich um das Administrative gekümmert hat. Das Unternehmen wurde 2014 gegründet und ist im Laufe der zwei Jahre stark gewachsen, deshalb hat das irgendwann nicht mehr gereicht. Ich habe also begonnen, das HR-Team sukzessive aufzubauen – wobei wir ungern von HR sprechen, weil das suggeriert, dass Menschen reine Ressourcen sind. Wir nennen unsere Abteilung stattdessen People and Organization. Heute sind wir etwa 20 Leute, die an den verschiedenen Standorten in Deutschland und Litauen angesiedelt sind. Ich selbst bin schwerpunktmäßig in den Bereichen People Operations und Recruiting involviert und moderiere zum Beispiel die Talentkonferenzen, in denen wir die Leistung und Entwicklung aller Beschäftigten einzeln besprechen.
Ein zentraler Begriff, der meine Arbeit besonders prägt, ist „Enabling“ – also möglich machen, einen Rahmen schaffen. Das ist unser Selbstverständnis: Wir möchten unserer Kundschaft ein exzellentes Produkt bieten und glauben daran, dass Exzellenz entsteht, wenn wir jeder einzelnen bei uns beschäftigten Person einen großen Handlungsspielraum und damit viel Freiheit lassen. Wir als Personalabteilung müssen ihnen ein Umfeld bieten, in dem sie ihren Job bestmöglich machen, die für das Unternehmen klügsten Entscheidungen treffen und stets mitdenken, statt nur zu tun, was Vorgesetzte sagen. Dafür gewähren wir ihnen flexibles Arbeiten und Homeoffice sowie flache Hierarchien. Bei uns nimmt nicht die Person das Ruder in die Hand, die über die meiste Seniorität verfügt, sondern die mit der größten Expertise. Alle sollen sich als Leader wahrnehmen. Eine meiner wichtigsten Herausforderungen ist es daher, die Brücke zu schlagen zwischen den Führungskräften und den anderen Beschäftigten.
Ebenfalls entscheidend: Zu meinem Selbstverständnis als Personaler gehört die Rolle als Feedbackgeber. Wertschätzende und konkrete Rückmeldung ist die Grundlage dafür, dass sich die Beschäftigten zutrauen, ihre Freiheiten zu nutzen und so HomeToGo nach vorne zu bringen. Wir haben zum Beispiel eine sogenannte Praise Wall, an der wir das Lob der Kolleginnen und Kollegen an einzelne Personen aushängen. Außerdem nutzen wir eine Software, mit der wir Feedbackzyklen generieren – so gehen weder positive noch kritische Rückmeldungen unter. Auch hier gilt: „Enable each other to succeed.“
Der wohl größte Unterschied zum Personalmanagement vieler Konzerne ist, dass wir auf starke Kontrollinstanzen verzichten. Wir können nur effektiv in unserer Aufgabe sein, wenn wir Vertrauen in unsere Beschäftigten haben und ein gutes Verständnis dafür, welche Bedürfnisse sie haben. Das entspricht nicht nur unseren Unternehmenswerten, sondern es ist auch essenziell, wenn wir die besten Talente für uns gewinnen wollen. Schließlich stehen wir auf dem Arbeitsmarkt in Konkurrenz zu allen anderen Unternehmen – und zwar nicht nur zu den Start-ups, sondern auch zu den Konzernen, die oft mehr Sicherheit suggerieren und teilweise besser zahlen, als wir imstande sind. Glücklicherweise kommt es allerdings gerade jüngeren Bewerberinnen und Kandidaten nicht nur darauf an.
Was sind die Schatten- und Sonnenseiten im Start-up?
HR-Beraterin Gesine Schulz kommentiert.
- Recruiting läuft im Start-up oft sehr schnell und unkompliziert ab. Häufig ergibt sich etwas durch das Netzwerk der Gründerin oder des Gründers – zum Beispiel bei Linkedin, aber gern auch mal bei einem Bier.
- Das Onboarding von neuen Mitarbeitenden fällt in jungen Unternehmen gern mal chaotisch aus. Oft gab es die Stelle, für die jemand angestellt wurde, vorher noch gar nicht. Man übernimmt schnell Verantwortung – das kann Menschen, die Sicherheit und Struktur schätzen, durchaus überfordern.
- Weiterbildungen fallen in Start-ups oft hintenüber, manchmal fehlt es auch an Budget. Wer sich fortbilden möchte, muss oft in die Eigeninitiative gehen, weil es keine Prozesse dafür gibt.
- Kündigungen zögern Personalverantwortliche in Start-ups manchmal zu lange hinaus. Das Hire-and-fire-Prinzip gilt in der Szene schon lange nicht mehr, stattdessen verschiebt man Feedback ganz oder bevorzugt den freundschaftlichen Harmoniekurs. Das kann das Team langfristig ausbremsen.
- Wer gründet, übernimmt in der Regel direkt eine Führungsposition – und zwar ohne jegliche Führungserfahrung. Wer dem nicht gewachsen ist, sollte unbedingt eine entsprechende Weiterbildung machen oder sich frühzeitig Rat suchen.
Konzern: Die Navigatorin
Laura Marsi leitet bei dem Dax-40-Konzern Allianz die HR-Einheit Strategy and Transformation. Bei dem Versicherungsunternehmen arbeiten weltweit mehr als 150.000 Menschen.
„Wir wollen bestehenden Kollegen und Kolleginnen das Rüstzeug an die Hand geben, das sie brauchen, um sich für eventuell neu entstehende Aufgaben in ihrem Job vorzubereiten.“
Laura Marsi, Head of HR Strategy and Transformation Allianz
Unser Purpose-Statement lautet „We secure your future“. Das gilt sowohl als Ansprache an unsere Kundschaft als auch für unsere Mitarbeitenden. Als Leiterin der HR-Einheit Strategy and Transformation ist es meine Aufgabe, allen Beschäftigten der Allianz ein Umfeld zu bieten, in dem sie einerseits produktiv sind, andererseits aber auch langfristig zufrieden und motiviert bei uns arbeiten können. Neben flexiblem Arbeiten, der Nutzung moderner Technologien und Unterstützung auf psychologischer Ebene, zum Beispiel durch Mental Health Services, ist das Thema Lernen sehr wichtig für diese zukunftsgerichtete HR-Strategie. Wir streben eine Lifelong-Learning-Kultur an, die unsere Beschäftigten auf die Zukunft vorbereitet.
Mit dem Blick nach vorn geht auch ein kontinuierlicher Dialog mit den Angestellten einher. Denn nur, wenn wir regelmäßig mit ihnen sprechen, wissen wir, wie es ihnen geht, welche Erfahrungen sie machen und was sie sich für ihre Arbeit wünschen. Natürlich ist das bei mehr als 150.000 Beschäftigten etwas anderes als in einem Start-up, wo man sich einfach bei einer Besprechung mit allen Teammitgliedern treffen und Dinge ausdiskutieren kann. Aber durch den regelmäßigen, institutionalisierten Austausch versuchen wir durchaus, das Tempo eines Schnellboots zu erzielen. Es gibt dafür einen jährlich stattfindenden Feedback-Survey, der sehr ausführlich ist. Mit dessen Ergebnissen gehen die einzelnen Personen aus dem Management in ihre Teams und versuchen, konkrete Verbesserungen anzustoßen.
Solche Maßnahmen sind wichtig für uns. Der Arbeitsmarkt wird momentan durch die Talente bestimmt. Als HR haben wir das Selbstverständnis, mittels Weitblick und guter Analyse zu navigieren. Deshalb stellen wir durch Daten, zum Beispiel vom Weltwirtschaftsforum, Profile der Menschen auf, die wir in Zukunft brauchen werden. Dabei geht es natürlich vor allem um die Fähigkeiten, auf die die Allianz angewiesen sein wird, um erfolgreich zu bleiben. Wir verlassen uns nicht darauf, genau diese Fachkräfte mittels Recruiting zu gewinnen. Vielmehr wollen wir unseren bestehenden Kollegen und Kolleginnen das Rüstzeug an die Hand geben, das sie brauchen, um sich für eventuell neu entstehende Aufgaben in ihrem Job vorzubereiten. Im Jahr 2021 haben wir die digitale Plattform Degreed weltweit an den Start gebracht, auf der die Beschäftigten entlang ihres Entwicklungsplans geeignete Lernprogramme finden können. Um diese Suche zu vereinfachen, bilden wir sogenannte Learning Journeys rund um spezifische Fähigkeiten, die sukzessive Karriereschritte vorbereiten und unterstützen. Aber natürlich wollen wir auch für neue Talente attraktiv sein. Hier haben wir intern einige große Trends ausgearbeitet, die wir fördern. Ein Trend davon lautet: Diversität und Inklusion. Wir wollen neue Perspektiven gewinnen, um fit für die Zukunft zu sein.
Was sind die Schatten- und Sonnenseiten im Konzern?
HR-Beraterin Gesine Schulz kommentiert.
- Bei Konzernen läuft das Recruiting und das Onboarding viel strukturierter ab als in den meisten Start-ups. Das kann Vor- und Nachteile haben: Wer eher ein sicherheitsliebender Mensch ist, freut sich über klare Prozesse während und kurz nach der Einstellung. Für Risikofreudige können zu starre Strukturen zu Beginn schnell langweilig und demotivierend werden.
- Große Unternehmen bieten gern von sich aus Weiterbildungen an, zum Beispiel im Intranet oder über Programme. Es gibt oft ein festgelegtes Budget. Das kann es für die Mitarbeitenden leichter machen, sich fortzubilden und dazuzulernen.
- In Konzernen geht es anonymer zu als in Start-ups, denn die hohe Beschäftigtenzahl macht es unmöglich, jeden Kollegen und jede Kollegin zu kennen. Doch innerhalb der Teams ist der Zusammenhalt oft trotzdem groß, wenn er durch Teambuilding-Events gestärkt wird und die Kommunikation stimmt.
- Führungskräfte haben es in großen Unternehmen in gewisser Hinsicht etwas leichter als in Start-ups. Denn: Hier wird die Karriere professionell begleitet, zum Beispiel durch Coachings. Gleichzeitig muss man in Konzernen mehr Erfahrung vorweisen, um überhaupt in solche Positionen zu kommen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Selbstverständnis. Das Heft können Sie hier bestellen.