Rebellion will verändern. Für die Arbeitswelt bedeutet das, alte Strukturen und Prozesse aufzugeben. Das ist, wenn es richtig läuft, alles andere als zerstörerisch.
Der 14. Juli ist ein Tag der Rebellion. Denn an dem Tag rebellierte das französische Volk gegen die Monarchie. Der Sturm auf die Bastille gilt als Sinnbild des Widerstands. Doch heute hat die Rebellion ihre Waffen abgelegt und erobert die Wirtschaft in anderer Weise: Mit Worten und neuen Arbeitsweisen kämpfen Angestellte gegen starre Strukturen, altes Denken und Innovationsfeindlichkeit. Doch das ist ganz im Interesse vieler Unternehmen. Und so versuchen sie, die Rebellion nicht zu unterdrücken, sondern in ihre Kultur einzubauen.
1,5 Milliarden Euro haben Unternehmen in Deutschland durch Ideen ihrer Beschäftigten gespart. Das ist die Summe der 290 Firmen, die das Deutsche Institut für Betriebswirtschaft für das Jahr 2018 befragt hat. Audi, BMW, Bosch und Thyssenkrupp nutzen seit Jahrzehnten ein internes Innovationsmanagement, um Neues zu fördern: das Vorschlagswesen. Wer glaubt, Produkte und Prozesse optimieren zu können, kann die Idee einreichen und erhält im Erfolgsfall eine Prämie. Über eine halbe Million Euro hat Thyssenkrupp laut Frankfurter Allgemeine Zeitung vor gut zehn Jahren einem Mitarbeiter gezahlt – ein Spitzenwert für Deutschland. Für beide Parteien ist das ein lukrativer Umbruch in klar definierten Strukturen.
„Eine Rebellion ist das Vorschlagswesen nicht“, sagt Heike Bruch, Professorin für Leadership an der Universität St. Gallen. „Es ist ein traditionelles Instrument, das sinnvoll ist, aber im System und nicht am System arbeitet. Bei der Rebellion geht es darum, alte Strukturen aufzubrechen und in einem offenen Dialog mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu sein.“ Die alte Art zu arbeiten, sei durch diese Fakten in Frage gestellt: zu langsam, zu unflexibel und zu hierarchisch gehe es zu, sagt Bruch. Das Resultat: Deutschland verliert an Innovationsstärke.
Alles stetig überprüfen
Laut Studie der Bertelsmann Stiftung zweifelt die Mehrheit der Führungskräfte an der Innovationsfähigkeit der Betriebe. Immer wieder schaut die deutsche Wirtschaft neidisch auf die USA. Konzerne wie Google, Amazon und Netflix positionieren sich mit einer neuen Kultur. So hat Google mit seinem Ansatz der Kanarienvögel der Rebellion einen Raum gegeben: Ex-Personalchef Laszlo Bock brachte Mitarbeitende unterschiedlicher Bereiche und Hierarchien zusammen, die sich austauschen und als ein Frühwarnsystem funktionieren sollen. Die Idee basiert auf der Grubenarbeit, als Kanarienvögel warnten, falls Gas austrat. Allerdings fielen die Vögel danach tot von den Stangen. Eine abenteuerliche Parallele für Googles Innovationsprogramm.
No rules rules nennt Netflix-Gründer Reed Hastings seine Idee und den Titel seines Buchs: Es gibt keine Regeln, die Beschäftigte einschränken, keine Barrieren, die sie einreißen müssen, um kreativ zu sein. Amazon-Chef Jeff Bezos spricht von „Tag 1“: Es gehe darum, die Mentalität eines Start-ups beizubehalten, die Aufbruchsstimmung des ersten Tags. „Tag 2 ist Stillstand. Gefolgt von Irrelevanz. Gefolgt von unerträglichem, schmerzhaftem Niedergang. Gefolgt vom Tod“, so lauten Bezos’ Worte in einem Brief an die Aktionärinnen und Aktionäre.
Struktur und Administration führen laut Day-1-Idee dazu, dass Mitarbeitende Prozesse pflegen, statt um Neues zu schaffen, das die Zielgruppe will, und um Umsatz zu generieren. „Alles bei Amazon ist auf die Innovation für Kundinnen und Kunden ausgerichtet“, sagt Michael Muelfarth, HR Lead für Amazon Devices und Service in EMEA. Neues, mutiges Denken fördere der Konzern mit Think Big Competitions und Hotly Debated Topics. 14 Leadership Principles übersetzen die Kultur in einen Leitfaden für alle. Dazu gehört: Widersprechen ist ausdrücklich erwünscht. „Nichts ist gesetzt, nur weil es gestern schon so war“, sagt Muelfarth. „Amazon fußt auf Innovation, und Innovation braucht Vielfalt. Das Innovationspotenzial unserer Teams können wir aber nur heben, wenn alle ihre Perspektive vertreten, auch bei Gegenwind und kalkulierbaren Risiken.“ Das gilt auch für die Prinzipien selbst: „These are our leadership principles, unless you know better ones”, steht in der Einleitung des Leitfadens.
Rebellion als neuen Purpose setzen
Die beste, nicht die einfachste Lösung zu finden, wie es bei Amazon heißt, verlangt ein hohes Maß an Geduld. Um nicht in permanenten Diskussionen gefangen zu sein, sollen einmal getroffene Entscheidungen konsequent umgesetzt werden, auch wenn nicht alle dafür sind. Rebellion ist nicht Konsens. Fehler sind möglich. Am Ende entscheidet der Erfolg. „In jedem Tag, jedem Projekt und jeder Diskussion die Chance zu sehen, besser zu werden“, nennt Muelfarth eine „Mission mit Purpose“.
Rebellion treibt nicht nur Innovationen, sondern stiftet auch Sinn. Genau das ist es, was laut Studien Arbeitnehmerinnen und Mitarbeiter suchen: Nur 17 Prozent haben laut Gallup Engagement Index eine emotionale Bindung zu ihrem Job. Purpose soll das ändern. Sinn, eine neue Art zu führen und ein „Rauslösen aus dem Befehlsgehorsam“: Das sei etwas, das nicht nur junge Menschen bewege, sagt Bruch: „Das ist keine neue 68er-Bewegung. Dieses Movement adressiert einen vorherrschenden Tatendrang und eine Unzufriedenheit mit dem Status quo. Die Menschen sehen die Chance für eine Modernisierung der Arbeitswelt, die längst fällig ist.“
Auch wenn Google, Netflix und Amazon als Paradebeispiele für New Work gelten, will Heike Bruch nicht nur auf das Silicon Valley schauen: „Das ist eine andere Kultur. Wenn wir sie nachahmen, werden wir zweite Klasse sein.“ Mutige und kreative Beispiele gebe es auch in Europa. Bruch empfiehlt, eigene Wege zu entwickeln und die eigenen Wurzeln zu nutzen und zu schätzen. Wurzeln wie Verlässlichkeit, Loyalität, Bildung und Demokratie. Dass das Personal über längere Zeit gehalten und im Unternehmen entwickelt werde, sei eine Stärke. In der Rebellion gehe es nicht darum, mit diesen Werten zu brechen, sondern auf ihnen aufzubauen und sie zu ergänzen.
BMW hat dafür einen internen Culture Club und einen Culture Revolutionary Officer, der die Transformation voranbringen soll. Und die Graubündner Kantonalbank arbeitet beispielsweise mit einem Talent Board, in dem Beschäftigte die Unternehmensentwicklung beeinflussen. Auch Sarah Noack hilft Unternehmen, das Rebellische an ihren Mitarbeitenden zu nutzen. Sie ist Psychologin, Beraterin und Coachin und hat eine Personalagentur, die Rebel Recruiting heißt. „Wirkliche Rebellion ist nicht zerstörerisch, sondern konstruktiv“, sagt sie. „Es geht darum, Systeme zu hinterfragen, die menschenunfreundlich sind, und zu rebellieren, indem man etwas Besseres schafft.“
Menschen in den Mittelpunkt rücken
Sich der Arbeit zu verweigern, weil man sich nicht damit identifiziert, mag für manche eine Rebellion sein, hat jedoch zerstörerische und keine schöpferische Kraft. Wer gerne protestiert, das aber nur des Protests willen macht, ist keine Rebellin und kein Rebell. Und Transformation, die Unternehmen verändert, bricht nicht zwangsläufig mit alten Strukturen, auch wenn man sich noch so sehr mit dem Begriff New Work schmückt: „Der Umbruch besteht darin, dass Rebellinnen und Rebellen den Menschen in den Mittelpunkt rücken, nicht Zahlen. Der Markt ist von ihrer Expertise abhängig. Human Resources sind die wichtigste Ressource für Erfolg“, sagt Noack.
Nur wenige Unternehmen können das konsequent umsetzen, viele versuchen es, indem sie Prozesse demokratisieren und Dialoge ermöglichen. Die Adecco Group zum Beispiel ernennt Beschäftigte zum CEO for a month, die den globalen Chef einen Monat lang begleiten. Die Deutsche Telekom macht Vorstandssitzungen zugänglich. Und das IT-Unternehmen Iteratec sagt über sich selbst, auf Menschen ausgerichtet zu sein, nicht auf Zahlen. Über eine Genossenschaft hat es die Angestellten beteiligt und selbst zu unternehmerischem Denken gebracht.
Egal welches Format ein Unternehmen wählt: Es muss zu ihm passen und alle mitnehmen. Wer hierarchisch geprägt ist, schaltet nicht einfach auf intrinsische Motivation. Sind die Umbrüche zu radikal, erzeugen sie Angst. Für Noack gilt: „Ein guter Rebell denkt immer kontextbezogen.“ Rebellion ist nur dann sinnvoll, wenn die Ergebnisse auch umgesetzt werden. Um rebellische Menschen zu rekrutieren und zu entwickeln, zielt Noack in ihrer Arbeit auf deren Abstraktionsvermögen: „Das Wichtigste ist, herauszufinden, mit welchem Bewusstsein und Reifegrad sie ihre Erfahrungen reflektieren, analysieren, in Kontext setzen und kommunizieren.“ Dafür nimmt sie sich Zeit, hört zu und sucht das Persönliche, das ein Unternehmen braucht. Es gilt: Mindset vor Skills. Dass das ausgerechnet über ein Gespräch funktioniert, am besten persönlich, sei überhaupt nicht innovativ, sagt sie selbst. Manchmal besteht die Rebellion eben darin, sich auf etwas zu besinnen, was verloren gegangen ist.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Rebellion. Das Heft können Sie hier bestellen.