Wir brauchen vernetzte Kompetenzen

Wissenssicherung

Experten für Angewandte Stochastik. Expertinnen für Aufkleber. Spezialisten für Belange von Menschen. Spezialistinnen für den Weg zurück. Fachleute für Einkaufszettel. Profis für die Gefühlswelt. Expertinnen für Themengebiete. Experten für sich selbst. Spezialistinnen für Haarausfall. Spezialisten für krause Ideen. Fachfrauen für weltweite Risikolösungen. Fachmänner für Wunder.

Sie schütteln den Kopf? Ich darf Sie beruhigen. Das sind noch nicht einmal die kuriosesten Ergebnisse, für die Internet-Suchanfrage „Experte für …“. 65 Millionen Einträge verzeichnet Google dazu aktuell. Man hat den Eindruck, die Welt quillt über von Spezialistinnen und Spezialisten. Bei genauer Betrachtung muss die Botschaft allerdings lauten: „Und es werden unaufhaltsam mehr!“

From picks to bricks to clicks

Warum ist das so? Mehrere Tausend Jahre sind wir Menschen bevorzugt Rohstoffgewinnende in einer Agrargesellschaft. Der rasante Wandel hat erst vor zweihundert Jahren eingesetzt. Zunächst mit der Industrialisierung und der maschinellen Rohstoffverarbeitung. Seit rund 60 Jahren werden wir von der Digitalisierung beflügelt und haben uns zu einer Dienstleistungsgesellschaft gewandelt. Ob der Begriff „Informationsgesellschaft“ in Anbetracht der Unmenge an „Desinformation“ angemessen ist, soll hier nicht weiter beschäftigen.

Fest steht: Der dritte Sektor wächst. Und das schneller, als es der Ökonom Jean Fourastié in seiner Drei-Sektoren-Hypothese prognostiziert hat. Im Jahr 2022 verdienten 75,2 Prozent der Beschäftigten in Deutschland ihr Geld mit Dienstleistungen. Drei Viertel erzeugen also keine tangiblen Güter, sondern erbringen intangible Arbeitsleistungen. Die wichtigsten Produktionsfaktoren sind nicht mehr Grund und Boden oder Kapital, sondern es ist das Know-how. Das notwendige Werkzeug ist nicht mehr die Pickhacke, die Struktur ist nicht mehr der industrielle Ziegelbau. Mit durchschnittlich 30 Clicks im Netz ist beinah jede Auskunft erteilt.

Die Produktion des Wissens

Im Jahr 1963 erscheint das Buch Little Science, Big Science des angloamerikanischen Wissenschaftshistorikers Derek de Solla Price. Darin beschreibt er zum ersten Mal das Phänomen der „Wissensproduktion“. Als Indikator verwendet de Solla Price die Anzahl der Originalveröffentlichungen in Fachzeitschriften. Sein Ergebnis: Wissenschaftliche Information wächst exponentiell und verdoppelt sich alle 15 Jahre. Aktuelle Messungen – wenngleich der Begriff „Messung“ hier durchaus kritisch zu sehen ist – gehen wir von einer Verdoppelung alle fünf bis zwölf Jahre aus. Parameter, die dabei zur Anwendung kommen, sind das Wachstum an gespeicherter Information und die im World Wide Web verfügbare Informationsmenge. Ein weiterer Indikator, der die Beschäftigten als Basis heranzieht, geht davon aus, dass sich die Anzahl der Menschen mit einer wissenschaftlich-technischen Ausbildung von 1950 bis zum Jahr 2000 weltweit von 10 Millionen auf 100 Millionen verzehnfacht hat. Tendenz stark steigend. Auch die enorme Zunahme an Literatur zum Thema „Wissensmanagement“ belegt diesen Trend.

Klavier oder Cello

Was heißt das für Unternehmen und für uns als Menschen? Unerheblich ist die Diskussion um die genaue Wachstumsgeschwindigkeit. Und zwar, weil niemand von uns sein Wissen in drei, fünf oder sieben Jahren verdoppeln kann. Deshalb hat sich mehr und mehr eine Bewältigungsstrategie herausgebildet: Spezialisierung. Stellen Sie sich folgende Situation vor:

Sie sitzen in einem Konzertsaal. Das Licht geht aus. Kein Laut ist zu hören. Gäste und Besucherinnen warten darauf, dass der Star des Abends die Bühne betritt. In diese Ruhe hinein tippt Sie Ihr Sitznachbar an die Schulter und fragt: „Sagen Sie mal, wissen Sie ob Lang Lang heute mit dem Klavier, mit dem Cello oder mit dem Englisch Horn auftritt?“

Mit dem Klavier natürlich, so wie Anne-Sophie Mutter immer mit der Violine auftritt. So ist es. Auch im Dienstleistungsbereich. Niemand kann gleichzeitig auf dem Klavier und auf der Violine Spitzenleistungen erbringen. Die wahren Expertinnen und Experten spezialisieren sich nicht nur auf ihr Werkzeug, sondern auch auf das Werk. Spezialisierung ist kein Trend. Spezialisierung ist eine Notwendigkeit. Allrounder kennen zwar die Nischen, doch Spezialisierte fokussieren sich auf diese Nischen. Dringen in diese vor. Entwickeln neue Lösungen und neue Produkte. Personen in der Wissensarbeit sind davon nicht ausgenommen. Das enorme Wissenswachstum macht es unumgänglich, sich die Nische zu suchen und aus dieser heraus zu glänzen. Dazu braucht es aber Verbündete.

Mehr als ein Team

Bastian Obermayer und sein Kollege Frederik Obermaier von der Süddeutschen Zeitung – trotz unterschiedlicher Schreibweisen der Nachnamen manchmal scherzhaft „die Gebrüder Obermeier“ genannt – bauen 2015 ein co-kreatives Netzwerk zur Auswertung der Panama Papers auf. Dabei kommt ihnen zugute, dass sie bereits Mitglieder im International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) sind. Über diese Organisation können sie innerhalb kurzer Zeit fast 400 Journalistinnen und Journalisten aus 70 Ländern zur Mitarbeit gewinnen.

Rund ein Jahr lang wertete dieses über das Internet verbundene virtuelle Team das vorliegende Material aus. Die größte Herausforderung ist die Geheimhaltung über einen so langen Zeitraum. Viele der Journalisten und Journalistinnen haben subspezialisierte Expertise für Teilgebiete, also zum Beispiel für Finanztransaktionen oder für Korruption in einer bestimmten Region der Erde. Am 3. April  2016 präsentieren schließlich 109 Zeitungen, Fernsehsender und Online-Medien in 76 Ländern zeitgleich die ersten Ergebnisse. Einen Monat später stellt das ICIJ eine Datenbank mit Namen und Adressen Tausender Inhaber von Briefkastenfirmen online.

Solchen Netzwerken gehört die Zukunft, wenn es darum geht, vertrackte Aufgaben zu lösen. In der Medizin beispielsweise sorgen Medical Boards dafür, für hochkomplexe Erkrankungen vernetzt erdachte Lösungen zu finden.

Arbeitszeitverkürzung als Brandbeschleuniger

Als wir Menschen uns vor rund 12.000 Jahren von wandernden Beutejägern zu sesshaften Landwirten entwickeln, stellt dies den Ursprung der Arbeitszeitorganisation dar. Die Entdeckung der Bronze vor rund 5.000 Jahren bringt die erste spezialisierte Schmiede und damit die Arbeitsteilung hervor. Bezahlt wird Ware.

Vom Zeitlohn sind wir noch weit entfernt. Er ist eine Erfindung der Industrialisierung und noch heute die am meisten verbreitete Form der Entlohnung. Bezahlt wird Zeit, womit die spannende Frage in den Raum gestellt werden muss, ob die historische Zuordnung der Begriffe „Arbeitnehmer“ und „Arbeitgeber“ überhaupt sinnvoll ist. Schließlich „gibt“ die Person, die arbeitet, ihre Zeit und Arbeitskraft.

Rund um die Arbeitszeit rankt sich eine Auseinandersetzung, die lange Zeit keiner gesetzlichen und somit auch keiner staatlichen Beschränkung unterliegt. Die harten Regulative sind Angebot und Nachfrage und das Kräfteverhältnis am Arbeitsmarkt bestimmt die Bedingungen. Die Notwendigkeit, Arbeitskraft zu verkaufen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, versetzt die Menschen bei hoher Arbeitslosigkeit in keine vorteilhafte Verhandlungsposition. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts liegt die tägliche Arbeitszeit in Industrie und Gewerbe zwischen zwölf und 16 Stunden, was bei einer Sechstagewoche zu einer Arbeitszeit von bis zu 90 Stunden führt.

Dann kommt es nach und nach zu bescheidenen staatlichen Regulativen. Das Hauptmotiv ist nicht die staatliche Fürsorge, sondern der schlechte Gesundheitszustand der Jugendlichen bei der militärischen Musterung. Der Bergbau machte den Anfang. Elf Stunden tägliche Höchstarbeitszeit und das Verbot der Arbeit von Kindern unter 14 Jahren.

Im Jahr 1890 wird vor dem Hintergrund der Entstehung der Sozialdemokratischen Partei die 8-8-8-Forderung aufgestellt. Diese steht für acht Stunden Arbeit, acht Stunden Erholung und acht Stunden Schlaf. Eine erste gesetzliche Grundlage findet der Achtstundentag allerdings erst 1918 in Anbetracht einer revolutionären Situation.

Ein Anfang ist gemacht. Noch besteht die Woche aus sechs Arbeitstagen, und in ersten Rechtsvorschriften wird der einwöchige Jahresurlaub festgelegt. Das entspricht einer Nettoarbeitszeit von 2.360 Stunden. Vor diesen Veränderungen arbeiten die Menschen noch mindestens 3.000 Stunden pro Jahr. Freizeit ist nur dem Adel und den reichen Müßiggängern vorbehalten.

Verhandlungen zwischen Unternehmen und Beschäftigten führen im Laufe der Jahre zu einer kontinuierlichen Reduktion der jährlichen Nettoarbeitszeit. Im Jahr 2000 sind es im Industriestaat Japan nicht mehr als 2.000 Stunden pro Jahr, in den USA immerhin noch 1.800 Stunden und in Deutschland und in Österreich sind es im Durchschnitt knapp 1.600 Stunden. Ausgehend von 8.766 durchschnittlichen Jahresstunden, verbringen Mitarbeitende in Österreich und Deutschland demnach im Mittel etwas mehr als 18 Prozent ihrer Zeit unmittelbar am Arbeitsplatz. Auch vor diesem Hintergrund sollte die Work-Life-Balance-Diskussion einmal geführt werden.

Zweifelsohne sind dies Verdienste hartnäckiger Arbeitnehmervertretungen, die keinesfalls als Vorwurf zu werten sind, aber auch eine gewisse Ernüchterung darstellen. Unbeachtet sollte indes auch nicht bleiben, dass die Netto-Personal-Ressource in den letzten Jahren auch durch gesellschaftliche Veränderungen eine Reduktion erfahren hat und weiter erfahren wird. Teilzeit als Lebenskonzept und die 30-Stunden-Woche als immer lauter vernommene Forderung. So lassen sich keine Allrounder mehr ausbilden. Weniger Zeit bedeutet ein kleineres Fachgebiet.

Co-Kompetenz

Exponentielles Wissenswachstum und Verkürzung der Arbeitszeit verlangen den Individuen besondere Eignungen ab. Allem voran die Spezialisierung als Fähigkeit, die dabei unterstützt, auf dem ruhelosen Wissensteppich nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Co-kompetente Systeme, wie wir sie in Zukunft brauchen, sind nur bedingt dauerhafte Strukturen, wie sie Unternehmen bislang waren. Größtenteils werden es ergebnisorientierte Flechtwerke sein, die mit der Zielsetzung entstehen und gemeinsam mit der Zielerreichung wieder zerfallen. Zweifelsohne stellt dies einen gewöhnungsbedürftigen Gedanken dar. Um solche Know-how-basierten Organisationen erfolgreich zu machen, braucht es aber ganz neue Fähigkeiten und Werkzeuge. Für Menschen und für Unternehmen. Was immer ein Unternehmen in Zukunft ist. Was uns im Besonderen herausfordern wird, ist die Tatsache, dass co-kompetente Systeme nicht an den Unternehmensgrenzen haltmachen. Wissen wächst exponentiell. Unternehmen nicht. Netzwerke schon.

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Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Flexibilität. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Christoph Zulehner

Christoph Zulehner ist Strategieberater und Gastprofessor an der Donau Universität Krems. Der promovierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler hat 2022 das Buch MESH – Die Evolution der Zusammenarbeit. Warum vernetzte Kompetenz mehr ist als bloße Kooperation veröffentlicht.

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