Leonardo da Vinci trug stets ein Notizbuch an seinem Gürtel, in dem er seine Gedanken und Ideen festhielt. In den Manuskripten finden sich Skizzen, Entwürfe und Texte unter anderem zu den Themen Kunst, Technik, Geometrie, Astronomie, Biologie und Architektur – häufig auf ein- und demselben Blatt. Der Renaissance-Künstler gilt aufgrund der Vielfalt seiner Interessengebiete als Universalgenie – ein Begriff der heute, in Zeiten zunehmender Spezialisierung, immer mehr in Vergessenheit gerät.
Nun arbeiten wir in der Gegenwart mit bedeutend größeren Mengen an Wissen, was es schwierig macht, gleich auf mehreren Gebieten ein Genie zu sein. Doch immer noch gibt es Menschen, die sich wie Leonardo da Vinci für viele verschiedene Themen interessieren und sich partout nicht für eines davon entscheiden wollen. Die US-amerikanische Autorin Barbara Sher hat dafür Ende der 1970er den Begriff der „Scanner-Persönlichkeit“ eingeführt und in ihrem Buch Du musst dich nicht entscheiden, wenn du tausend Träume hast ausführlich beschrieben. Laut ihrer Definition sind Scanner-Persönlichkeiten Menschen, die sich nicht mit einem Interessengebiet zufriedengeben, sondern sich für viele verschiedene Dinge interessieren und auch versuchen, dies auszuleben. Zeit für eine genauere Betrachtung des Begriffs.
Vielfältige Definitionen
Wer nach wissenschaftlichen Definitionen und Forschung zum Thema Scanner-Persönlichkeit sucht, wird enttäuscht; auf der medizinischen Meta-Datenbank PubMed gibt es dazu keine Einträge. In der Coaching-Szene und Ratgeberliteratur wird man dagegen schnell fündig. Es finden sich immer mehr Coaches – meist Personen, die sich selbst als Scanner-Persönlichkeiten bezeichnen –, die das Thema zu einem ihrer thematischen Schwerpunkte erklärt haben.
Eine davon ist Annette Bauer, Autorin des Ratgebers Vielbegabt, Tausendsassa, Multitalent? Achtsame Selbstfürsorge für Scannerpersönlichkeiten. Sie hat angefangen, sich mit dem Begriff zu beschäftigen, weil es ihr während ihrer Coaching-Ausbildung schwerfiel, sich auf eine Positionierung festzulegen. „Irgendwann war ich dann die Scanner-Expertin, weil ich dieses Buch geschrieben hatte. Das habe ich allerdings nur gemacht, weil ich dachte, an der Stelle braucht die Welt noch mal was anderes.“ Das Buch von Barbara Sher ging für Bauers Geschmack bereits zu sehr ins Detail. „Als Scannerin mag ich kompakte Informationen.“ Eine besondere Herausforderung für Scanner-Persönlichkeiten ist es laut Bauer vor allem, Themen guten Gewissens loszulassen, wenn die Luft raus ist und sich etwas anderes in den Vordergrund drängt. Manche Interessen – wie bei ihr etwa die Musik – kämen aber auch zyklisch in Schüben wieder. Zudem hätten viele Scanner auch so etwas wie einen roten Faden, in ihrem Fall das Schreiben.
Auch Torsten-Roman Jacke bezeichnet sich selbst als Scanner. Er berät Personen und Unternehmen zu den Schwerpunkten Hochsensitivität und Scanner-Persönlichkeit. Auch er definiert Scanner-Persönlichkeiten als Menschen, die sich nicht auf ein Spezialgebiet festlegen möchten. Deshalb erkenne man sie häufig am krummen Lebenslauf. „Sie sind stetig auf der Suche nach etwas Neuem, konzentrieren sich dann für eine gewissen Zeit auf ein Thema – im beruflichen oder privaten Kontext – und wechseln, wenn sie es für sich verstanden haben, gerne die Thematik oder die Branche, um etwas Neues kennenzulernen.“ Das habe aber nichts damit zu tun, dass sie in einer Sache nicht gut sind. „Es interessiert sie einfach nicht mehr, sie langweilen sich schnell.“ Über den fehlenden Forschungsstand ist er sich, wie auch Annette Bauer, bewusst: „Alles, was im Moment an Fragebögen zum Thema Scanner-Persönlichkeit online verfügbar ist, sind meines Erachtens Fragen und Analysen, die halb gar sind“, sagt Jacke, „da gibt es noch viel zu wenig, um zu sagen, das ist jetzt ein ganz klarer Hinweis auf eine Scanner-Persönlichkeit.“ Er betont außerdem, dass Scanner-Persönlichkeiten vieles hinterfragen, auch Autoritäten. Sie würden oft multiperspektiv und schnell denken und Zusammenhänge erfassen, die für andere Menschen nicht ersichtlich sind.
Das Gefühl des Andersseins
Während Bauer unter anderem die Notwendigkeit des Loslassens von Themen betont, spricht Jacke besonders vom Hinterfragen von Autoritäten, und Sher beschreibt in ihrem Buch mehr als zehn Untertypen von Scanner-Persönlichkeiten; die genaue Definition des Begriffs gestaltet sich demnach äußerst schwierig. Was alle Ansätze eint, ist die Unwilligkeit, sich auf ein Thema festzulegen. Zudem fällt der Scanner-Begriff häufig in Zusammenhang mit den Begriffen „Hochbegabung“ und „Hochsensibilität“.
Als hochbegabt gilt ein Mensch laut Definition des Hochbegabtennetzwerks Mensa ab einem Intelligenzquotienten von 130, was sich durch wissenschaftliche Testverfahren feststellen lässt. Hochsensibilität, auch Hochsensitivität genannt, bezeichnet laut der Psychologin und Autorin Elaine Aron eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Reizen aller Art aufgrund einer angeborenen Besonderheit in der Funktionsweise des Nervensystems. Das Konzept der Hochbegabung ist gut erforscht, während Hochsensibilität erst in jüngster Zeit zunehmend in den Fokus wissenschaftlicher Forschung gerät, wie an der niederländischen Radboud University am Lehrstuhl der Psychologie-Professorin Corina Greven. Ob und wie diese Konstrukte mit der Scanner-Persönlichkeit zusammenhängen, kann bisher nur vermutet werden, weil es dazu nicht genug zuverlässige Informationsquellen gibt. Torsten-Roman Jacke meint, er habe durch seine Tätigkeit als Coach festgestellt, dass viele Scanner-Persönlichkeiten auch zur Hochbegabung tendieren, ebenso zur Hochsensibilität, auch wenn das in beiden Fällen nicht unbedingt zutreffen muss. „Möglicherweise liegt in der Art, neugierig zu sein, Wissen zu verknüpfen und zu vernetzen, die Schnittstelle zwischen Hochsensibilität und Vielbegabung“, versucht Annette Bauer den Zusammenhang zu erklären. „Wer viel wahrnimmt und selbst kleinste Details intensiv verarbeitet, kann auf einen facettenreichen Erfahrungs- und Wissensschatz zugreifen.“
Sowohl Hochbegabung als auch Hochsensibilität gelten als Persönlichkeitseigenschaften, die Vor- und Nachteile mit sich bringen, nicht aber als medizinische Diagnosen. Betroffene haben laut verschiedener Erfahrungsberichte häufig das Gefühl, anders zu sein, manchmal auch, dass etwas nicht mit ihnen stimmt. Der Forschungsstand lässt es aktuell nicht zu, hier eine belastbare Aussage zu treffen, doch liegt die Vermutung nahe, dass dies auch auf Personen zutrifft, die sich als Scanner-Persönlichkeiten bezeichnen – was eine mögliche Erklärung dafür ist, dass die drei Begriffe häufig miteinander in Zusammenhang gebracht werden. Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), die im ICD-11 als psychische Störung gelistet ist, wird in der Ratgeberliteratur über Scanner-Persönlichkeiten zwar häufig erwähnt, aber auch deutlich davon abgegrenzt. Barbara Sher bezeichnet sich in ihrem Buch Du musst dich nicht entscheiden selbst als Scannerin und behauptet, von ADS (eine umgangssprachliche Bezeichnung für ADHS) betroffen zu sein. Die Störung habe mit dem Scanner-Dasein das ständige Springen zwischen Themen gemeinsam. Sher könne aber angeblich die ADS-Symptome von ihren Eigenschaften als Scanner-Persönlichkeit trennen.
Scanner-Persönlichkeiten in der Arbeitswelt
Laut Sher sind Scanner-Persönlichkeiten häufig von ihren zahlreichen Interessen überfordert und fühlen sich dadurch wie gelähmt darin, etwas anzufangen, geschweige denn zu Ende zu bringen. Sie leiden laut Annette Bauer zudem oft unter dem Gefühl, nichts richtig zu können, und einem damit verbundenen Impostor-Syndrom, also dem Gefühl, ein Hochstapler beziehungsweise eine Hochstaplerin zu sein. Auch Langeweile und eine Abneigung gegen Routineaufgaben werden für diese Menschen in der Arbeitswelt oftmals zum Problem. Torsten-Roman Jacke betont außerdem, dass die Denkgeschwindigkeit und die oftmals unkonventionellen Lösungen von Scanner-Persönlichkeiten das Umfeld oder die Führungskraft irritieren können, weshalb diese Menschen häufig anecken: „Scanner-Persönlichkeiten sagen oft ganz klar, wo es hängt. Theoretisch ist das ja in den meisten Unternehmen sogar gefordert, sie wollen sich ja weiterentwickeln. Aber wehe, wenn du dann wirklich den Finger in die Wunde legst.“
Das Potenzial von Menschen mit vielfältigen Interessen liegt auf der Hand: „Vielbegabte haben häufig eine schnelle und hohe Wahrnehmung“, erklärt Jacke. „Gerade heute in der komplexen Wirtschaft könnten Unternehmen durch Scanner-Persönlichkeiten zu schnelleren Lösungen kommen.“ Damit diese Menschen ihre zahlreichen Talente auch einbringen können, sollten Arbeitgeber entsprechend auf sie zukommen. Ein erster Schritt ist laut Annette Bauer, dass Führungskräfte und Personalverantwortliche darüber aufgeklärt werden, dass es diese Form der Begabung gibt. Dann sei neben einer möglichst hohen Flexibilität in Arbeitszeit und -ort vor allem Abwechslung wichtig. „Ideal ist es, wenn eine Scanner-Persönlichkeit sich ihre Aufgabenfelder frei einteilen kann, vielleicht auch ein kleines Potpourri an Aufgaben hat, aus denen sie auswählen kann“, so Bauer. Jacke geht noch einen Schritt weiter: „Mein Traum wäre, dass Scanner-Persönlichkeiten ohne eine direkte Jobbeschreibung im Unternehmen angestellt sind. Sie gucken überall rein und suchen sich dann ihre Rolle, ihre Themen und die Arbeit, die sie gerne machen. Zudem helfen und unterstützen sie da, wo sie gebraucht werden.“ In diesem Setting würden vielbegabte Menschen ihr volles Potenzial entfalten.
Das Individuum fördern
Doch warum ist der Scanner-Begriff bisher so wenig erforscht? Die promovierte Psychologin Brigitte Seiler hat eine mögliche Erklärung: „Scanner-Persönlichkeit ist ein Begriff, aber kein greifbares Konstrukt.“ Barbara Sher habe versucht, bei sich und später auch bei anderen Menschen beobachtete Merkmale und Eigenschaften zu einem Persönlichkeitstyp zusammenzuführen. „Ein Konstrukt hat Einschluss- und Ausschlusskriterien und es ist konsistent. Es ist klar definiert und damit abgrenzbar von anderen Konstrukten oder Persönlichkeitsmodellen. Dies ist beim Scanner-Begriff nicht der Fall.“
Seiler berät Menschen in ihrer Privatpraxis und leitet das Ressort Persönlichkeit und Assessment am Sigma-Zentrum in Bad Säckingen, einem Privatklinikum für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. Den Begriff „Scanner-Persönlichkeit“ bringt sie von sich aus nicht in der Arbeit mit ihren Klientinnen und Patienten ein. „Wenn sich eine Person mir gegenüber als Scanner-Persönlichkeit beschreibt, dann frage ich zunächst, woran genau sie das festmacht und was das für sie bedeutet.“ Würde man den Begriff wissenschaftlich untersuchen wollen, ginge es möglicherweise zunächst um die Frage, welche Menschen sich von ihm angesprochen fühlen. Denn nicht jeder Mensch, der zwischen verschiedenen Themen und Interessen springe, fände sich im Scanner-Begriff wieder. Zu ermitteln, was diese beiden Gruppen unterscheidet, könne dann möglicherweise zu einer Begriffsdefinition beitragen.
In der Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit könnten Begriffe wie Scanner, Hochsensibilität oder Hochbegabung eine erste Annäherung sein. Wer sich gezielt weiterentwickeln möchte, dem empfiehlt Seiler eine umfassendere Betrachtung der eigenen Persönlichkeit: in welchen Aspekten sich diese besonders zeigt, welche Ressourcen sich aus ihr ergeben und an welchen Stellen es möglicherweise auch manchmal reibt. Im Arbeitsumfeld sei hierzu die Einzelsupervision ein probates Mittel. Denn schließlich gehe es stets um den einzelnen Menschen und die Frage, wie genau sich das, was eine betroffene Person als scannertypisch erlebe, im individuellen Alltag zeige – und was dies für alle Beteiligten bedeute. Erst dann könne der Frage nachgegangen werden, was diese Person innerhalb ihres Arbeitskontextes brauche, damit sich die Zusammenarbeit für beide Seiten fruchtbar entwickeln kann.
Auch wenn der Scanner-Begriff ohne weitere Forschung schwer greifbar ist, zeigt er einmal mehr, wie wichtig es ist, dass Unternehmen ihre Mitarbeitenden mit vielfältigen Talenten und Interessen sehen und fördern. Denn auch wenn es die heutigen Wissensmengen nötig machen, dass sich Menschen spezialisieren, braucht es immer noch die Universalgenies, um die verschiedenen Wissensbereiche miteinander zu vernetzen.
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Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Flexibilität. Das Heft können Sie hier bestellen.