Neurodiversität am Arbeitsplatz: Stärke statt Defizit

Diversity

Der renommierte Physiker Sheldon Cooper aus der Sitcom The Big Bang Theory versteht keinen Sarkasmus. Wie eine Fremdsprache lernt er, die Gesichtsausdrücke und Tonlagen seiner Mitmenschen zu deuten, um zu erkennen, wann sie eine Aussage nicht wortwörtlich meinen. Zudem sagt er oft ohne böse Absicht Dinge, die andere verletzen. Vermutlich hat Sheldon eine Autismus-Spektrum-Störung. Sein Gehirn funktioniert einfach anders als die Gehirne der meisten Menschen – und das gibt es nicht nur in Fernsehserien.

Kein Gehirn gleicht dem anderen

Der Begriff der Neurodiversität schließt laut Sven Bölte, Professor für kinder- und jugendpsychiatrische Wissenschaft am Karolinska-Institut in Stockholm, erst einmal alle Menschen ein. Die Idee dahinter ist, dass wir alle auf eine unterschiedliche Art und Weise denken und Informationen verarbeiten. Die Gruppe von Menschen, die besonders aus der Mehrheit heraussticht, wird als neurodivergent bezeichnet. Darunter fallen laut Bölte vor allem die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und Autismus, aber auch Sprachstörungen, Dyslexie (Lese-Rechtschreib-Schwäche), Dyskalkulie (Rechenschwäche), das Tourette-Syndrom, Tics oder Intelligenzminderung. Man gehe davon aus, dass zwischen zehn und 15 Prozent der Menschen eine Neurodivergenz aufweisen. „Diese Menschen haben in der Gesellschaft, wie sie derzeit organisiert ist, häufig Schwierigkeiten, ihren Platz zu finden und entsprechen nicht den allgemeinen Vorstellungen und Leistungsideen.“

Im Zusammenhang mit Neurodiversität wird zudem oft die Hochsensibilität genannt, die unter anderem Corina Greven am Radboud University Medical Centre untersucht. Hochsensible Menschen nehmen laut der Professorin Reize und Eindrücke sehr viel stärker wahr, sind oft besonders detailorientiert und empathisch, aber auch schnell überstimuliert. Allerdings ist diese Persönlichkeitseigenschaft bisher wenig erforscht und wird deshalb bei Neurodiversität nicht immer berücksichtigt.

Worüber sich Forschende aber einig sind: Neurodivergenz ist keine Krankheit, die geheilt werden kann oder muss. „Neurodivergente Menschen haben eine andere Perspektive im Kopf, die aber genauso gültig ist“, sagt André Zimpel, Professor am Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. Er mahnt zur Vorsicht mit den Begriffen „neurotypisch“ und „neurodivergent“. Das seien eher Hilfsbegriffe. Schließlich gebe es auch innerhalb der Personengruppe, die als neurotypisch gilt, riesige Unterschiede.

Neurodiversität als Chance

Die promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin Petra Köppel hilft Firmen mit ihrem Beratungsunternehmen Synergy Consult, mehr Vielfalt in ihre Belegschaft zu bringen. Die Vorteile von Neurodiversität liegen für sie auf der Hand: „Neurodiversität bringt mehr Kreativität und Innovation sowie bessere Problemlösungen. Und natürlich mehr Fachkräfte.“ Auch ihre Kollegin Birgit Stecher-Hame weiß, dass Normabweichungen keineswegs ein Defizit sind. Wer beispielsweise mit Dyslexie durch die Schulzeit gekommen sei, könne sich wahrscheinlich auf unkonventionelle Weise Informationen beschaffen. Hochsensible nehmen oft zwischenmenschliche Nuancen wahr, die sonst niemand bemerkt.

Bei den Potenzialen von Autismus denken viele an Dustin Hoffman in dem Film Rain Man, der beim Kartenzählen im Casino ein computergleiches Gedächtnis unter Beweis stellt. Laut Psychologieprofessor Bölte sind autistische Genies eher die Ausnahme, doch es gäbe tatsächlich gewisse Tendenzen. Autistinnen und Autisten seien oft sehr genau und gut darin, Regeln zu erkennen und anzuwenden. Zudem haben viele ein bestimmtes Interessengebiet, das sie leidenschaftlich verfolgen und in dem sie viel Wissen und eine hohe Expertise aufweisen. „In diesem Bereich sitzt auch ihre Motivation und sie haben viel Energie“, so Bölte.

Personen mit ADHS können laut Zimpel als Frühwarnsystem fungieren, beispielsweise für Probleme in der Arbeitsorganisation, die alle betreffen, wie zu lange und ineffiziente Meetings: „Was für diese Menschen gerade zu langweilig ist, wird in wenigen Minuten auch für die neurotypischen Personen langweilig.“ Zudem könnten ADHS-Betroffene oft Informationen schnell verarbeiten und viele Gedanken gleichzeitig denken. „Sie laufen vor allem dann zur Höchstform auf, wenn sie gebremst werden. Wir benötigen sie dann, wenn andere sich von einem Problem abwenden.“ Es sei ein Vorurteil, dass Menschen mit ADHS sich nicht konzentrieren können – ihre Aufmerksamkeit liege nur oft nicht da, wo es gerade erwartet wird. Das kann aber wiederum neue kreative Lösungen bringen. Die mit ADHS oft einhergehende Hyperaktivität sieht er nicht als Schwäche: „Vielleicht stört es andere, wenn jemand ständig Bewegung sucht, aber gesund ist still sitzen nicht.“

Herausforderungen und Folgen

Das zeigt, dass eigentlich nicht die kognitiven Besonderheiten, sondern gesellschaftliche Strukturen der Grund dafür sind, dass viele neurodivergente Menschen im Alltag vor Herausforderungen stehen. Die Journalistin Angelina Boerger kann das bestätigen: „Die Momente, in dem ich meine ADHS am meisten spüre, sind die, in denen andere Menschen mit einbezogen werden. Dann bekommt man die Resonanz, dass man anders ist.“ Beispielsweise führe ihre Impulsivität häufig dazu, dass sie sich zu viel vornimmt und verzettelt. Oder sie denke zu viel nach, was sie darin blockiert, überhaupt mit etwas anzufangen. „Das wird leider von außen oft als undiszipliniert und faul gewertet.“ Boerger teilt in ihrem kürzlich erschienenen Buch Kirmes im Kopf und auf ihrem gleichnamigen Instagram-Account mit über 70.000 Followerinnen und Followern, was es bedeutet, ADHS zu haben. Wie viele Frauen bekam sie die Diagnose erst als Erwachsene. Sie erklärt das durch die unterschiedliche Sozialisierung: Bei Jungen sei es bereits in der Kindheit sehr viel akzeptierter, dass sie laut und wild sind. Bei Mädchen gilt dieses Verhalten als unerwünscht. Sie vertuschen daraufhin die Symptome, ihre Hyperaktivität findet deshalb mehr im Inneren statt. Weil sie nicht so funktionieren, wie es von ihnen erwartet wird, entwickeln Menschen mit ADHS oft Folgeerkrankungen wie Angststörungen, Depressionen, Süchte und Essstörungen.

Folgeerscheinungen sind laut Sven Bölte auch bei Menschen mit Autismus ein Problem. Autistinnen und Autisten hätten oft Schwierigkeiten, zu verstehen, was andere denken und fühlen. Sie wissen nicht, welches Verhalten von ihnen erwartet wird. Dadurch entstehen Unsicherheiten, Ausgrenzung, Ängste und Depressionen. „Aber das muss nicht sein“, meint Bölte. „Ob Menschen mit Autismus psychisch gesund und damit arbeitsfähig sind, ist vor allem eine Frage der Umweltbeschaffenheit und Prävention.“ Wichtig sei es, dass sie wissen, was ihnen guttut, was wiederum Energie kostet. Um das zu gewährleisten, sollte bereits beim Bildungssystem angesetzt werden, sagt André Zimpel: „Junge Menschen sollten in der Schule lernen, was ihre Stärken sind und in welchen Bereichen sie vielleicht Unterstützung brauchen, um dann selbstbewusst in die Arbeitswelt eintreten zu können.“ Leider stünden gerade in Deutschland meist eher die psychiatrische Diagnose und die damit einhergehenden Defizite im Vordergrund.

Neurodivergenz im Recruiting

Was aber können Unternehmen tun, um neurodivergenten Menschen die Türen zu öffnen? „Die meisten Jobausschreibungen sind so verfasst, dass kaum ein Mensch ihnen entsprechen kann. Darauf bewirbt sich keine Person mit Autismus, das löst bei ihr eine Panikattacke aus“, erklärt Bölte. Er empfiehlt, die Formulierungen anzupassen. Auch das Jobinterview stelle für viele eine unüberwindbare Hürde dar. „Man könnte stattdessen eine Arbeitsprobe oder einen schriftlichen Test verlangen.“

Birgit Stecher-Hame weist darauf hin, dass auch der Kanal wichtig sei. „Wenn sich eine Person wegen Dyslexie mit Texten schwertut, ist es sehr viel leichter für sie, wenn eine Stellenanzeige auch als Youtube-Video zu sehen ist und sie ein Video als Bewerbung einreichen darf.“ Köppel empfiehlt, bereits beim Employer Branding anzusetzen: „Es geht darum, sich glaubhaft als offener Arbeitgeber zu demonstrieren.“ Das könne beispielsweise durch Bilder und Statistiken oder durch Porträts von neurodivergenten Personen, die aus ihrem Arbeitsalltag berichten, nach außen transportiert werden.

Eine inklusive Arbeitswelt

Dafür muss die entsprechende Arbeitskultur aber überhaupt erst vorhanden sein. Um diese zu gewährleisten, gibt es laut Stecher-Hame einige Möglichkeiten: Noise-Cancelling-Kopfhörer, Homeoffice-Angebote, Vorlese- und Diktier-Apps, nicht zu lange Meetings. „Das alles ist sehr individuell“, erklärt sie. „Was aber wirklich alle anspricht, ist das Thema psychologische Sicherheit.“ Köppel ergänzt, dass es in manchen Situationen wichtig sei, das Team entsprechend vorzubereiten, ohne die Neurodivergenz zu sehr in den Vordergrund zu rücken. „Da braucht es eine Führungskraft, die sehr sensibel vorgeht.“

Sven Bölte betont, dass bei Beschäftigten mit Autismus hilft, wenn sie gerade für die erste Phase im Job eine direkte Ansprechperson hätten. Er empfiehlt zudem, Aufgabenstellungen eindeutig zu formulieren. Das – neben vielen anderen Maßnahmen – helfe nicht nur neurodivergenten Menschen, sondern allen Mitarbeitenden. Zudem brauche es Vorbilder. „Wenn schon andere Menschen im Unternehmen mit ihrer Diagnose offen umgegangen sind, ist es kein großes Problem, sich selbst zu öffnen.“ Petra Köppel ergänzt, dass vor allem Führungskräfte mit Neurodivergenz sich ihrer Vorbildfunktion bewusst sein und offen darüber sprechen sollten.

Auch Angelina Boerger weiß, wie sehr es hilft, wenn man Menschen findet, denen es ähnlich geht. Deshalb hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, andere ADHS-Betroffene aufzuklären und ihnen Mut zu machen. Für sie war die Diagnose eine große Erleichterung, und sie sieht darin viele Stärken, wie etwa eine hohe Kreativität und Empathie: „Obwohl ich regelmäßig Phasen habe, in denen es mir deswegen schlecht geht, würde ich nie im Leben meine ADHS abgeben.“

Weitere Beiträge zum Thema:

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Emotionen. Das Heft können Sie hier bestellen.

Unsere Newsletter

Abonnieren Sie die HR-Presseschau, die Personalszene oder den HRM Arbeitsmarkt und erfahren Sie als Erstes alles über die neusten HR-Themen und den HR-Arbeitsmarkt.
Newsletter abonnnieren
Senta Gekeler, Redakteurin beim Magazin Human Resources Manager

Senta Gekeler

Senta Gekeler ist freie Journalistin. Sie war von 2018 bis 2023 Redakteurin beim Magazin Human Resources Manager.

Weitere Artikel