Talent Centricity – ein echter USP im Recruiting

Eine Frage der Einstellung

Derzeit wird in Wirtschaft und Politik heftig diskutiert, wie man dem Fachkräftemangel beikommen kann – vom Fachkräfte-Einwanderungsgesetz bis zum Einbürgerungsturbo. Gleichzeitig stellen wir fest, dass die Einbindung der bereits bestehenden Potenziale in Deutschland bei Weitem nicht ausgeschöpft ist. Smarte Ansätze dafür zu schaffen, ist aber nicht allein Aufgabe der Politik, sondern auch der HR-Verantwortlichen. Zwei Zielgruppen, die bei weitem nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die sie verdienen, sind Menschen mit Behinderung und Nicht-Muttersprachler. Wie schwer es diesen Menschen gemacht wird, zeigt allein ein Blick auf die Karriereangebote deutscher Unternehmen. Diese setzen auf „one fits all“ statt zielgruppengerechter Kommunikation. HR-Abteilungen sind daher gefordert, diese Potenziale besser zu nutzen – durch eine Kultur der Talent Centricity, einer Fokussierung auf die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten der Mitarbeitenden.

Niederschwellige und gezielte Ansprache

Sich auf die Mitarbeitenden zu fokussieren, kann verschiedene Zwecke erfüllen. Zum einen sorgt es für zufriedene Mitarbeitende, die das Unternehmen im besten Fall nicht nur erfolgreich, sondern auch langfristig begleiten. Zum anderen können durch Talent Centricity bislang ungenutzte Zielgruppenpotenziale freigesetzt werden. Ausgerechnet Letzteres haben die wenigsten Unternehmen bislang erkannt oder gar smart umgesetzt, gerade wenn es ums Recruiting geht!

Der Karriereseite kommt beim Thema Talent Centricity eine besondere Rolle zu, denn sie stellt gewissermaßen ein Nadelöhr dar. Wenn hier jemand abgeblockt wird – inhaltlich oder auch technisch wie etwa bei der Barrierefreiheit – wird die entsprechende Zielgruppe schlichtweg nicht erreicht und Potenzial verpufft. Tatsächlich haben Mittelständler und Start-ups ebenso Nachholbedarf wie die DAX-40-Unternehmen.

„One fits all“ ist passé

Alle potenziellen Bewerberinnen und Bewerber auf der Karriereseite gleich anzusprechen, funktioniert nicht. Damit meine ich weit mehr als Bildsprache und Wortwahl. Es gibt einige Beispiele, wie Unternehmen die Bedürfnisse ihrer potenziellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wirklich in den Mittelpunkt stellen können – und damit Zielgruppen erreichen, die sie bisher vielleicht ausgeschlossen haben.

Denken wir etwa an die Zielgruppe der Menschen mit Schwerbehinderung: Am 31. Dezember 2021 – jüngere Daten liegen nicht vor – gab es laut Statistischem Bundesamt 7,8 Millionen Menschen mit Schwerbehinderung. Diese liegt vor, wenn durch das Landessozialamt durch ein individuelles Gutachten ein Grad der Behinderung ab 50 Prozent festgestellt wird. Dieser Grad ist abhängig von der Schwere der Krankheit oder Behinderung. Dazu können chronische Krankheiten ebenso dazu zählen wie körperliche oder geistige Behinderungen. Der Bevölkerungsanteil der schwerbehinderten Menschen im erwerbsfähigen Alter liegt bei 5,9 Prozent. Tatsächlich ist die Zahl der Beschäftigten schwerbehinderten Menschen seit Jahren kontinuierlich gestiegen – auch durch Gesetzesänderungen – wenngleich der Wachstumstrend im Corona-Jahr 2020 stoppte und bis 2021 kaum merklich stieg. 2021 wurden zwar 1.209.000 Pflichtarbeitsplätze registriert, doch nur 900.000 Stellen besetzt. Über 300.000 unbesetzte Stellen bedeuten ungenutztes Potenzial einer wichtigen Zielgruppe: Arbeitslose Menschen mit Schwerbehinderung sind gut qualifiziert und haben häufiger eine abgeschlossene Berufsausbildung als nicht-schwerbehinderte Jobsuchende. Das Inklusionsbarometer Arbeit (IBA) 2023 zeigt, verglichen mit der letzten Erhebung, eine verbesserte Inklusionslage von Menschen mit Behinderung am ersten Arbeitsmarkt. Der Gesamtwert stieg auf 109,8, im Jahr 2022 lag er bei 107,7.

Wenden wir uns nun der Stellensuche dieser Zielgruppe zu. In Deutschland sind bislang nur öffentliche Stellen gesetzlich verpflichtet, barrierefreie Websites zu betreiben. Unternehmen sollten sich jedoch nicht zurücklehnen, sondern freiwillig Verantwortung übernehmen und ihren Auftritt barrierefrei gestalten – und damit für „Diversity & Inclusion“ einstehen. Eine Karriereseite gilt als barrierefrei, wenn sie von allen Menschen, unabhängig von ihren physischen oder kognitiven Einschränkungen, uneingeschränkt genutzt werden kann. Das kann die Wahrnehmbarkeit (zum Beispiel die Schriftgröße), genauso betreffen wie die Verständlichkeit (zum Beispiel ADHS-freundliche Einstellungen) oder die Verwendung von leichter Sprache und Bedienbarkeit (zum Beispiel klare und strukturierte Navigation). Im Sinne der Talent Centricity gilt es dann natürlich, sich als Arbeitgeber umfassend den Bedürfnissen dieser Zielgruppe zu widmen und dies entsprechend auch im Karrierebereich transparent zu machen. Dazu zählen beispielsweise die Kommunikation einer lebendigen, inklusiven Unternehmenskultur, das Angebot kostenloser Sprachkurse als Benefit sowie flexible Arbeitsbedingungen.

Eine weitere wichtige Zielgruppe sind Fachkräfte aus dem Ausland. Laut Statistischem Bundesamt arbeiteten 2022 rund 7,1 Millionen EU-Bürger und Bürgerinnen in einem anderen EU-Land. Vor allem Deutschland zieht viele Arbeitskräfte an: 2,8 Millionen EU-Ausländer waren 2022 in Deutschland erwerbstätig. Was viele dieser Menschen gemeinsam haben: Sie beherrschen die deutsche Sprache noch nicht. Wer zum Arbeiten nach Deutschland kommt und die Sprache erst lernen muss, stolpert mit hoher Wahrscheinlichkeit in Stellenanzeigen über unklare Formulierungen, verschachtelte Satzkonstruktionen und Anglizismen. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die Bewerbung an dieser Stelle abgebrochen wird. Abhilfe kann hier die Verwendung der sogenannten „Einfachen Sprache“ schaffen: Fremdwörter vermeiden oder erklären, kurze Sätze von 15 bis 20 Wörtern sowie klare, direkte Aussagen ohne Ironie oder Metaphern. Auch die Option, die Sprache anzupassen – beispielsweise auf Englisch – ist hilfreich. Manche Unternehmen arbeiten zudem mit Piktogrammen, um Kernaussagen zu stützen.

Das Konzept der Talent Centricity ist nicht nur eine Reaktion auf den Fachkräftemangel, sondern ein strategisches Stilmittel mit echtem Wettbewerbsvorteil. Die differenzierte Ansprache potenzieller Bewerberinnen und Bewerber, unter Berücksichtigung ihrer individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten, ermöglicht es Unternehmen, bisher ungenutzte Talentpools zu erschließen.

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Robin Sudermann

Robin Sudermann

Robin Sudermann ist CEO und Co-Founder des HR-Tech-Unternehmens talentsconnect. Seit Ende August 2022 schreibt er in seiner Kolumne "Eine Frage der Einstellung" über die kleinen und großen Anfänge am Arbeitsplatz und die Zukunft von Einstellungsverfahren.

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