Über neue Herausforderungen in einer KI-geprägten Arbeitswelt

Eine Frage der Einstellung

Ist es die wirtschaftliche Entwicklung? Finanzielle Disziplin nach Jahren des billigen Geldes? Rückbesinnung aufs Kerngeschäft? Oder doch: ein Umbruch, der durch die Verheißungen von künstlicher Intelligenz getrieben wird? Ob Google oder Amazon, SAP oder Telekom, Bayer oder Accenture: Bei Ankündigungen zum Stellenabbau scheinen dieser Tage der Sparkurs in Unternehmen und die Nutzbarmachung von KI Hand in Hand zu gehen. Nachdem der größte Hype um KI in den Nachrichten abgeflacht ist, betreten die ersten großen Player nun offenbar das “Plateau der Produktivität” aus Gartners Hype-Cycle. Dass die beschriebenen Entwicklungen nicht nur Sieger, sondern auch Opfer kennen wird, legten bereits die Untersuchungen der Wissenschaftler von OpenAI nahe. Sie versehen unter anderem Mathematiker, Steuerfachangestellte und Analysten mit einem Exposure-Wert von 100, also mit einem maximalen Gefährdungspotenzial. Zudem schätzen sie für fast 20 Prozent aller Berufe in den USA ab, dass die Hälfte aller Aufgaben von KI übernommen werden können. Das derzeit unsichere wirtschaftliche Fahrwasser erscheint vor diesem Hintergrund lediglich als Katalysator, der die Reaktion von Unternehmen beschleunigt.

Der Anpassungsdruck an die neue Wirklichkeit wächst

Doch der technologische Fortschritt sorgt nicht nur für einen sinkenden Personalbedarf in vielen Branchen und Bereichen. Er transformiert auch etliche Jobprofile grundlegend, fördert neue Aufgabengebiete zutage und erhöht dadurch den Anpassungsdruck für Rollen und Kompetenzen innerhalb der Belegschaft. HR-Abteilungen sind damit mehr denn je gefordert, über ihre althergebrachten Funktionen hinauszuwachsen und diesen Wandel nicht lediglich zu begleiten, sondern zu gestalten.

Recruiting & Retention wird um Employability ergänzt

Lag der wesentliche Schwerpunkt von HR in den letzten Jahren vor allem auf Recruiting und Retention von Talenten, muss sich HR künftig zusätzlich auf die Employability und Veränderungsfähigkeit von Mitarbeitern aller Hierarchiestufen fokussieren – und alle Angebote rund um Learning, Development und Coaching auf das rasante Tempo der technologischen Entwicklung anpassen. Denn KI-Systeme sind nicht nur im bisher ungeahnten Maße in der Lage, fundamentale Tätigkeiten zu übernehmen. Sie dringen auch zunehmend in Bereiche vor, die man noch vor Kurzem für Hoheitsgebiete von Experten hielt – Stichwort Software-Programmierung. Für viele Berufsträger bedeutet das nichts weniger als eine Entthronung, auf die es mit Blick auf Psyche und Selbstverständnis ebenso wie mit Blick auf “Skills for Employability” zu reagieren gilt.

Wir brauchen ein neues Verständnis vom menschlichen Talent

Über kurz oder lang schreit die Durchdringung von Unternehmen durch KI sogar nach einem grundlegend neuen Ansatz in der Mitarbeiterrekrutierung. So wird es bei einer Einstellung in den so genannten “White Collar Berufen” immer weniger um bereits angehäuftes Wissen und erlernte Fähigkeiten von Mitarbeitern gehen, sondern um das Potenzial zur Aneignung von Wissen und Fähigkeiten. Vor allem aber um Assoziationskraft, Ideenreichtum und Kreativität abseits von statistischen Modellen beziehungsweise “out of the box”, wie man es neudeutsch formulieren könnte. Getreu dem Diktums des Silicon Valley-Gurus Jaron Lanier: “Ohne Menschen sind Computer Raumwärmer, die Muster erzeugen.“

Von der Jobbeschreibung zum fluiden Jobprofil

HR muss also zunehmend “playing & learning mindsets” in die Organisation holen – und dazu beitragen, dass Unternehmen geeignete Rahmenbedingungen und Freiräume bieten. Entsprechend werden auch Job Descriptions in vielen Bereichen mit einer Art Verfallsdatum versehen sein, da diese lediglich einen Status quo mit einer zusehends kürzeren Halbwertszeit skizzieren. Stellenbeschreibungen werden zunehmend als eine Art „fluide Jobprofile“ ausgeschrieben, um die kontinuierliche Entwicklungs- und Anpassungsfähigkeit von Mitarbeitern an die dynamischen Entwicklung als das “New Normal” zu etablieren und von vornherein für jeden Bewerber kenntlich zu machen.

HR als Mediator und Change-Kommunikator

Zugleich ist HR als Navigator und Kommunikator in diesem sich beschleunigenden Veränderungsprozess gefragt. Es geht um ein tiefes Verständnis für die emotionalen und psychologischen Auswirkungen dieser Veränderungen auf Mitarbeiter, auf die Früherkennung (und mit Blick auf Change Management vielleicht sogar um ein Frühwarnsystem) von KI-getriebener Disruption in unterschiedlichsten Kompetenzbereichen des Unternehmens. HR muss Mitarbeiter dabei unterstützen, Vorbehalte vor dem Unbekannten zu überwinden. Und die mit der KI einhergehenden Veränderungen als Chance zur persönlichen und beruflichen Weiterentwicklung sehen, damit sie nicht selbsterfüllend zur Bedrohung wird.

Das entstehende Vakuum mit einem strategischen Beitrag füllen

Als wäre dies der Herausforderung nicht schon genug, muss HR gleichzeitig KI für die eigene Arbeit nutzbar machen, um nicht am Ende selbst als ihr Opfer dazustehen. Denn selbstverständlich wird auch hier künstliche Intelligenz weitaus mehr leisten als Routineaufgaben zu automatisieren. Es liegt an HR, das entstehende Vakuum an operativer Beschäftigung mit einem strategisch wertvollen Beitrag zu füllen. Am besten, indem HR die Brückenfunktion zwischen den strategischen Zielen des Unternehmens und den praktischen Möglichkeiten der Belegschaft übernimmt. Dies erfordert, dass HR die Unternehmensziele gemeinsam mit den Unternehmensbereichen aktiv in den Kontext der durch KI eröffneten Möglichkeiten setzt und gleichzeitig realistisch bewertet, was mit dem vorhandenen Skillset und Ressourcen, vor allem aber auf Basis der Entwicklungspotenziale der Mitarbeitenden leistbar ist.

Human(istische) Resources : Ein zutiefst menschlicher Beitrag zur AI-Arbeitswelt?

Durch einen solchen Ansatz könnte es HR gelingen, sich zum Vermittler zwischen der Zukunftsvision des Unternehmens und der tatsächlichen Durchführbarkeit aufzuschwingen, indem sowohl die  technologischen Möglichkeiten als auch die menschlichen Aspekte berücksichtigt werden, um eine harmonische Integration von KI in die Arbeitsprozesse zu gewährleisten. Vielleicht bietet sich durch KI sogar die Chance, das “Human” in Human Resources größer denn je zu schreiben – indem der wahre Wert von HR in einer KI-geprägten Arbeitswelt in der ureigensten menschlichen Fähigkeit liegt, zu inspirieren, zu motivieren und empathisch zu vermitteln – um so eine erstrebenswerte Vision für die Zukunft der Mensch-Maschine-Koexistenz zu skizzieren.

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Robin Sudermann

Robin Sudermann

Robin Sudermann ist CEO und Co-Founder des HR-Tech-Unternehmens talentsconnect. Seit Ende August 2022 schreibt er in seiner Kolumne "Eine Frage der Einstellung" über die kleinen und großen Anfänge am Arbeitsplatz und die Zukunft von Einstellungsverfahren.

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