Recruiting ohne Ende: Das unendliche Spiel

Eine Frage der Einstellung

Recruiting ist für die meisten Unternehmen ein in sich begrenztes Spiel – ein Finite Game, wie es der Bestsellerautor und Unternehmensberater Simon Sinek bezeichnen würde. Bei solchen Finite Games – wie auch Fußball oder Schach – sind die Spielerinnen und Spieler sowie die Regeln bekannt. Der Start- und Endpunkt ist klar, die Gewinnerinnen und Verlierer sind leicht zu identifizieren.

Auf das Recruiting übertragen bedeutet das konkret: Es gibt eine offene Stelle, die Ausschreibung geht live und Arbeitgeber versuchen, sich unter Einhaltung der Spielregeln gegen mögliche Konkurrenten durchzusetzen. Bestenfalls gewinnt man (vorerst), wenn es zur Vertragsunterzeichnung kommt, die Person am ersten Arbeitstag auch wirklich erscheint (dies ist seltener geworden, gerade im gewerblich-technischen Bereich) und diese nach der Probezeit immer noch da ist (dies ist noch seltener geworden). Es zeichnet sich somit ab, dass dieses Finite Game namens Recruiting oder Talent Acquisition zunehmend schwieriger wird.

Im Recruiting wird aus dem Finite Game ein Infinite Game

Es gibt eine interessante Parallele zwischen dem Recruiting und der Wirtschaft. Unsere Wirtschaft ist gepolt auf Finite Games. Es gibt Quartalsberichte, es gibt Jahresberichte, es gibt Businesspläne, es gibt Vertragslaufzeiten für Vorstände, die aus allem ein Finite Game machen, damit man es messen kann. Dabei wird jedoch komplett verkannt, dass das Business oder das Leben eines Unternehmens immer ein Infinite Game ist: Ein Spiel ohne klare Spielregeln, mit Spielern, die kommen und gehen, sowie ohne definierten Endpunkt, denn die Entwicklung der Organisation und ihrer Menschen endet ja nicht einfach schlagartig mit dem Berichtsjahr. Unternehmen bauen dann auf dem auf, was sie vorher erreicht und geschaffen haben, positiv wie negativ. Familiengeführte Unternehmen sind hier klar im Vorteil, weil sie grundlegend infinite denken und handeln.

Hier kommt der springende Punkt: Mit dem Recruiting ist es ganz genauso, spätestens seitdem das Wort „Fluktuation“ nicht nur in aller Munde, sondern auch harte Realität ist. Was als Finite Game beginnt, ist eigentlich der Startpunkt eines Infinite Game. Arbeitgeber müssen sich immer wieder die Frage stellen, ob – oder eher wann – Mitarbeitende ihren aktuellen Job in Frage stellen könnten, was sie gegen ungewollte Abwanderung oder innere Kündigungen tun können oder wie sie Alumni als Boomerang-Mitarbeitende zurückgewinnen können, denn auch nach einer Niederlage ist das Spiel nicht vorbei.

Retention ist keine Kampagne, sondern Unternehmens-DNA

Recruiting und Retention müssen nahtlos verschmelzen. Das Recruiting endet zwar oft mit der Unterschrift, soweit scheint es ein Finite Game zu sein, aber danach werden Pre-Boarding, Onboarding und Entwicklung zu entscheidenden Faktoren, um die Organisation auch langfristig zu bereichern. Damit heißt es: „Willkommen im Infinite Game“. Oft lautet der erste Impuls nach dieser Erkenntnis: „Wir brauchen eine Retention-Kampagne!“ Meine Antwort lautet dann: „Retention ist keine Kampagne, Retention ist langfristig und die Unternehmens-DNA“, denn mit einer Kampagne wären wir wieder bei einem Finite Game, mit einem Start und einem Ende. Die Verbindung aus Recruiting und Retention gewinnt aber Menschen, die sich mit anderen Menschen beziehungsweise Mitarbeitenden identifizieren können und genau deshalb zu der Organisation, in die Abteilung oder in den konkreten Job möchten. Das bedingt, dass Unternehmen zufriedene Mitarbeitende haben, die die Unternehmenswerte nach außen tragen und Neuzugängen eine schnelle Identifikation sowie Verbindung ermöglichen. Dafür muss das Unternehmen jeden Tag etwas tun und Infinite-Beziehungen zu seinen Mitarbeitenden aufbauen. Wir können hier viel vom E-Commerce lernen. Was dort der Customer Lifetime Cycle ist, kann sinnbildlich auf den Employee Life Cycle übersetzt werden:

Preboarding

Zwischen Unterzeichnung und erstem Arbeitstag liegen in der Regel zwei bis sechs Monate. Unsere Erfahrung aus zahlreichen Kundengesprächen zeigt: Je nach Zielgruppe treten bis zu 30 Prozent der Personen, die einen Arbeitsvertrag unterschrieben haben, den Job nicht an. Besonders hoch ist diese Zahl beispielsweise bei Berufseinsteigern und im so genannten Blue-Collar-Segment, somit genau da, wo der Arbeitskräftemangel gerade tobt. Dies passiert, weil die meisten Arbeitskräfte umkämpft sind und oft gleich mehrere Angebote haben. Das eigentliche Versäumnis liegt aber bei den Unternehmen, die Recruiting eben als Finite Game verstehen und sich nach der Unterschrift in Sicherheit wiegen. Stattdessen geht es schon vor dem Onboarding um die Frage: Was passiert zwischen Unterschrift und erstem Arbeitstag und wie kann ich bereits in dieser Zeit eine erste kulturelle und inhaltliche Integration ermöglichen?

Engage and Motivate

Zentrales Bestreben eines Unternehmens ist es, die Leistungsfähigkeit der Mitarbeitenden zu erhalten und zu fördern. Viele Unternehmen haben tolle Benefits, die den Mitarbeitenden aber gar nicht präsent sind. Diese herauszustellen und anfassbar zu machen, ist entscheidend. Häufig sind Unternehmen sehr weit in der Entwicklung solcher Pakete. Aber Achtung: Hier ist die stetige, zielgruppengerechte externe und interne Kommunikation der differenzierende Faktor.

Development and Orientation

Menschen haben den verständlichen Wunsch nach kontinuierlicher Weiterentwicklung. Unternehmen müssen Transparenz über die internen Möglichkeiten schaffen, denn sonst droht das, was wir alle von Mobilfunkverträgen kennen: Bestandskunden haben immer schlechtere Pakete als Neukunden. Das provoziert – übertragen auf Unternehmen – Kündigungen, formell oder innerlich. Das Wichtigste ist, Mitarbeitenden Perspektiven aufzuzeigen, bevor oder spätestens, wenn diese sich fragen könnten, ob sie die gewünschte Weiterentwicklung womöglich besser außerhalb des eigenen Unternehmens erfahren möchten.

Happy Leaver

Manchmal lässt es sich nicht vermeiden, dass Mitarbeitende das Unternehmen verlassen. Diese Mitarbeitenden entwickeln aber immer häufiger den Wunsch, nach einiger Zeit zurückzukehren – manche sprechen gar von „The Great Regret“. Viele Unternehmen folgen hier aber noch Denkweisen aus einer Zeit, in der sich Arbeitgeber die passenden Bewerberinnen und Bewerber aussuchen konnten. Wer geht, ist verbrannt. Hier sehe ich einen grundlegenden Paradigmenwechsel: Wer geht, bietet viele Vorteile, wenn sie oder er wiederkommt. Diese Menschen kennen die Werte, wissen, worauf sie sich einlassen, und können viel schneller wieder in wertstiftende und -schöpfende Tätigkeiten integriert werden. Ein besonderer Effekt: „Happy Boomerangs“ sind herausragende Testimonials, die genau aufzeigen können, warum sich eine Kündigung nicht lohnt. Entsprechend sinnvoll ist es für Unternehmen, auch nach dem formellen Offboarding in Kontakt zu bleiben – ob Gratulation zum Geburtstag, Alumni-Gruppe oder ein Coffee Date. Eine mögliche Rückkehr wird so viel einfacher möglich.

Fazit: Gute Beziehungen kennen nur einen Anfang, kein Ende

Die Transformation von Recruiting und Retention von einem Finite Game zu einem Infinite Game signalisiert nicht nur einen Paradigmenwechsel, sondern auch eine spannende Evolution in der Art und Weise, wie Unternehmen ihre wichtigste Ressource – ihre Mitarbeitenden – betrachten. Es geht darum, dass Unternehmen nicht nur die besten Talente anwerben, sondern diese auch an sich binden und für eine dauerhafte Beziehung gewinnen. So wird die Kombination aus Recruiting und Retention zur ständigen Reise und nicht zum endgültigen Ziel. Sie wird zu einem dynamischen, sich ständig weiterentwickelnden Ökosystem von Möglichkeiten für die Mitarbeitenden und für das Unternehmen selbst.

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Robin Sudermann

Robin Sudermann

Robin Sudermann ist CEO und Co-Founder des HR-Tech-Unternehmens talentsconnect. Seit Ende August 2022 schreibt er in seiner Kolumne "Eine Frage der Einstellung" über die kleinen und großen Anfänge am Arbeitsplatz und die Zukunft von Einstellungsverfahren.

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