Was Recruiting vom E-Commerce lernen kann

Eine Frage der Einstellung

Die meisten von uns sind inzwischen gut darin, Entscheidungen im digitalen Raum zu treffen – egal, ob wir einen Turnschuh kaufen, auf der Suche nach einem Auto sind oder einen neuen Job finden wollen. Wir starten mit der Suche, orientieren uns in Sekunden und legen die passenden Produkte in den Warenkorb.

Was dabei jedoch verwundert: Ein digitaler Kaufprozess könnte dem digitalen Bewerbungsprozess tatsächlich nicht unähnlicher sein. Auf der einen Seite intuitive Navigation, auf der anderen komplizierte Klickpfade, Hürden im Check-out und ungezielte Werbemaßnahmen statt datengetriebenem Targeting. Altmodische Technologien auf der Karriereseite und fehlendes Know-how führen dazu, dass viele Recruiting-Abteilungen sich in eine Abhängigkeit von Stellenbörsen begeben und somit die Kontrolle über den eigenen Prozess verlieren – zum Nachteil der Bewerbenden.

Dabei ist eine konsequente Orientierung am E-Commerce doch naheliegend: Dort verzichten mittlerweile tausende erfolgreiche Onlinehändlerinnen und -verkäufer darauf, ihre Produkte über Zwischenplattformen wie Amazon und Co. zu vermarkten. Stattdessen investieren sie in ihren eigenen Onlineshop und vermarkten ihre Angebote direkt – bekannt als „Direct to Consumer“- oder kurz D2C-Strategie. Das Ziel ist identisch: Die passenden Kunden und Kundinnen messbar mit den eigenen Produkten zusammenbringen, durch gezielte Informationen hochwertige Entscheidungen fördern und damit Retouren, also Fehlbewerbungen und Frustration auf beiden Seiten, reduzieren.

D2C im E-Commerce: volle Kontrolle über den gesamten Prozess

Die Vorteile von D2C liegen auf der Hand: Ohne Mittelsmänner und Zwischenhändlerinnen behält ein D2C-Unternehmen die volle Kontrolle über den gesamten digitalen Kaufprozess. Das Unternehmen kann den Preis selbst festlegen, es gibt keine nachträglichen Preisaufschläge (zum Beispiel durch Nutzungsgebühren) und die Produkte werden nicht – wie bei Amazon und anderen Marktplätzen üblich – direkt neben Konkurrenzprodukten gelistet. Zudem gehen keine Nutzungsdaten an Dritte und das Unternehmen behält die volle Einsicht in alle Kennzahlen. So kann die Geschäftsführung über die Budgetierung des eigenen Marketings entscheiden und jeden Schritt der Kaufentscheidung datengestützt optimieren.

Weil wir innerhalb der vergangenen Jahre gesehen haben, wie sich D2C über die Zeit entwickelt hat und wie erfolgreich die Strategie vor allem auch für kleinere Unternehmen ist, bin ich überzeugt: Wir können die Learnings aus dem E-Commerce auf das Recruiting übertragen. Für Unternehmen muss es darum gehen, den direkten Draht zu den Talenten zu suchen und analog zu D2C einen D2T-Ansatz – „Direct to Talent“ – als fundamentale Denklogik im eigenen Recruiting zu implementieren.

Digitales Kaufverhalten prägt das digitale Bewerbungsverhalten

Dabei ist zunächst wichtig, dass unser gelerntes Verhalten im E-Commerce unser gesamtes digitales Verhalten beeinflusst. Die Erwartungen von latent suchenden Bewerberinnen und Kandidaten sind durch ihre Erfahrungen mit modernen Onlineshops geprägt, wie Nutzerstudien zeigen: 51 Prozent der Jobsuchenden geben laut einer US-Studie an, sich mehr für Job-Angebote zu interessieren, die wie Produkte in einem Webshop mit Bildern und Videos dargestellt werden. Zudem wissen wir aus eigenen Erhebungen, dass im Schnitt über 50 Prozent der Jobsuchenden in Deutschland ihr Smartphone für die Recherche nutzen. Bei jüngeren Zielgruppen und digitalen Jobs ist der Anteil noch größer. Gleichzeitig geben laut CareerBuilder 60 Prozent der Talente an, einen komplizierten Bewerbungsprozess abzubrechen. Nach unseren Daten hat ein Jobangebot etwa drei Minuten Zeit zu überzeugen und zur Kontaktaufnahme zu führen. Wird mehr Zeit benötigt, sinkt die Wahrscheinlichkeit auf eine Bewerbung drastisch. Die Erfolgsformel liegt also auf der Hand: Unternehmen müssen Stellenangebote wie Produkte vermarkten und ihre Bewerberinnen und Kandidaten genauso gut verstehen wie die Betreiber eines erfolgreichen Onlineshops ihre Kundschaft. Denn wie im E-Commerce geht es nicht darum, einfach pauschal jede Person zu begeistern, sondern nur die Richtigen.

Mit diesen vier Erfolgsfaktoren kann der D2T-Ansatz gelingen:
Ganzheitliche Betrachtung der digitalen Candidate Journey

Im E-Commerce verbinden Unternehmen digitales Marketing auf Reichweitenportalen wie Facebook oder Instagram nahtlos und stringent mit den Angeboten des eigenen Shops. Das Ziel: Den Shop darauf optimieren, dass interessierte Personen so schnell wie möglich das richtige Angebot finden, den Kauf im besten Fall direkt abschließen oder sich das Produkt mindestens vormerken. Im Recruiting müssen also zunächst klare und differenzierungskräftige Produkte, also Job-Brands oder Job-Familien-Brands, gestaltet werden, die dann in Kampagnen auf Reichweitenportalen wie LinkedIn, HeyJobs oder Indeed messbar die richtigen Menschen adressieren und in die Kontaktaufnahme führen. Das finale Ziel: dass möglichst passende Bewerberinnen und Kandidaten eine Online-Bewerbung erfolgreich abschließen – oder sich freie Stellen vormerken.Das erfordert von Personalabteilungen einen grundlegenden Perspektivwechsel: Potenzielle Bewerbende dürfen nicht länger als „Bittsteller“ betrachtet werden, sondern als Zielkundinnen und -kunden, die nicht frontal überzeugt, sondern durch die Attraktivität eines Jobs angezogen werden wollen. Der weitere Bewerbungsverlauf bis hin zur Unterschrift darf keine unnötigen Hürden aufbauen und muss trotzdem die beidseitige Passung abfragen. Es geht, wie im E-Commerce, nicht darum, bedingungslos Hürden abzubauen, sondern um die Frage: „Wie machen wir es den richtigen Talenten so einfach wie möglich, sich online bei uns zu bewerben?“

Die Karriereseite wird zur digitalen Personalmarketing-Plattform

Alle Bewerberinnen und Kandidaten erwarten heutzutage auf einer Karriereseite die Usability, die sie beim Onlineshopping unbewusst gelernt haben. Die meisten klassischen Karriereseiten sind dafür jedoch schlichtweg nicht ausgelegt. Diese werden oft primär aus dem Wunsch heraus gestaltet, die Arbeitgebermarke und die Unternehmenskultur attraktiv und authentisch darzustellen. Dabei ist das Unternehmen der Absender und alle Leserinnen und Leser die Konsumierenden. Jedoch funktioniert eine derart einseitige Kommunikation in einem von Angeboten überlaufenen Bewerbermarkt nicht mehr. Oft führt es nämlich dazu, dass viele Karriereseiten Interessierte oft mit liebevoll gestalteten Startseiten begrüßen, sie im Anschluss aber durch ein kompliziertes Labyrinth an langen Klickpfaden, Textwüsten und zeitraubenden Bewerbungsformularen zwingen. Das alles führt schließlich dazu, dass im Schnitt mehr als 90 Prozent aller Besuchenden einer Karriereseite abspringen, weil sie nicht schnell genug finden, wonach sie suchen, Bewerbungsformulare zu lang sind oder – noch fataler – sich nicht alle Inhalte auf dem Smartphone öffnen lassen. Was erfolgreiche Onlineshops geschafft haben, ist auch für Karriereseiten adaptierbar – aus Webseiten mit Informationen werden interaktive People-Marketing-Plattformen, die Menschen auf Basis von Daten miteinander oder mit den passenden Produkten, also Jobs, verbinden. Das ist nicht nur für alle Beteiligten zeitsparend, sondern auch effektiver. Bedeutet im Umkehrschluss: Unternehmen, die ihre Talentakquise selbst kontrollieren wollen, müssen ihre Karriereseiten spezialisieren und Jobangebote, Arbeitgebermarke und Nutzerdaten – wie in einem Onlineshop – auf einer eigenen People-Marketing-Plattform bündeln.

Aufbau von digitalen Marketing-Kompetenzen

So eine eigene Plattform kann nur dann ihr volles Potenzial entfalten, wenn sie von Jobinteressierten auch besucht wird. Sowohl im Recruiting als auch im E-Commerce müssen Verantwortliche ihre Angebote digital bewerben. D2C-Brands teilen ihr Marketingbudget übergreifend in zwei Aktivitätsfelder auf: Langfristige Brand Awareness und unmittelbare Reichweite, also einerseits Aktivitäten, die dabei helfen, die Marke einer breiteren Zielgruppe bekannt zu machen. Auf der anderen Seite sind das produktspezifische Aktivitäten, die einzelne Angebote attraktiv auf der Produktebene bewerben und direkt zum Verkauf führen sollen. Übertragen wir dies aufs Recruiting, erscheint es nur logisch auch hier auf einen Mix aus reichweitenstarkem Employer Branding und zielgerichtetem Performance-Marketing für die Stellenanzeigen zu setzen. Beide Marketingstrategien führen Jobinteressierte im Optimalfall zügig auf die eigene Onlineplattform des Unternehmens.
Eine besondere Bedeutung kommt bei dieser Strategie auch Kanälen wie Google und den darauf ausgelegten Marketing-Kompetenzen zu: Denn wie auch bei der Recherche nach neuen Schuhen, Möbeln oder Smartphones beginnen Interessierte ihre Suche nach verschiedenen Angeboten fast immer bei Google. Unternehmen, die ihre Stellenanzeigen kostenlos für „Google for Jobs” optimieren, verzeichnen meist eine sofortige Steigerung der Aufrufe. Laut unserer Daten greifen rund 30 Prozent mehr Interessierte auf die Stellenanzeigen zu – einfach nur deshalb, weil sie leichter zu finden sind.

Datengestützte Entscheidungen und Prozessoptimierungen

Der letzte Erfolgsfaktor einer gelungenen „Direct to Talent”-Strategie liegt in der sukzessiven Ausrichtung auf ein datengestütztes Personalmarketing. Im Sales wird schon lange datengetrieben der Erfolg einzelner Maßnahmen gemessen. Mithilfe von Key Performance Indicators werden Conversion Rates, Absprungraten und Verweildauer gemessen. Und auch im Recruiting ermöglicht erst dieser Einblick in personalmarketing-relevante Daten Unternehmen, fundierte Entscheidungen über Kanäle, Kampagnen und Budgeteinsatz zu treffen. Doch viel zu oft haben gerade Recruiting-Abteilungen keinen Zugriff auf die notwendigen Daten, um ihre Erfolge messen zu können – und damit keine Chance, die eigenen Aktivitäten anhand fundierter Zahlen zu optimieren.

 

Wir alle erwarten heutzutage einen reibungslosen und einfachen Bewerbungsverlauf, so wie wir es beim Onlineshopping gewohnt sind. Der Boom im E-Commerce hat dazu geführt, dass kein anderer Geschäftsbereich so gut weiß, wie sich Menschen online für Angebote entscheiden, wie der Onlinehandel. Im Recruiting können wir deshalb viel vom E-Commerce lernen – wenn wir die Talente konsequent in den Mittelpunkt unserer Überlegungen stellen.

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Robin Sudermann

Robin Sudermann

Robin Sudermann ist CEO und Co-Founder des HR-Tech-Unternehmens talentsconnect. Seit Ende August 2022 schreibt er in seiner Kolumne "Eine Frage der Einstellung" über die kleinen und großen Anfänge am Arbeitsplatz und die Zukunft von Einstellungsverfahren.

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