Überflieger, Spitzenreiterin, Held – welche Menschen fallen einem ein, wenn man diese Begriffe liest? Vermutlich nicht Recruiting-Verantwortliche. Dabei sind sie es, die Unternehmen erfolgreich machen und unsere Wirtschaft aufrechterhalten – und damit sind sie die unterschätzten Champions der heutigen Zeit.
Der Fachkräftemangel und die zuletzt hohe Wechselbereitschaft von Talenten setzen vielen Unternehmen stark zu. Im dritten Quartal 2022 erlebten wir laut Zahlen des Statistischen Bundesamts zwei Rekorde gleichzeitig: Nie waren in Deutschland so viele Menschen erwerbstätig – laut Destatis 45,7 Millionen Menschen. Die offizielle Arbeitslosenquote war dabei mit 5,3 Prozent erwartungsgemäß niedrig. Die Anzahl der offenen Stellen (1,82 Millionen Stellen) war jedoch ebenfalls so hoch wie noch nie – und angesichts der drohenden Rezession bereiten sich gleichzeitig tausende Unternehmen auf die nächste Phase der Kurzarbeit vor. Der Druck, dieses Spannungsfeld auszutarieren und in der operativen Arbeit mit Kandidatinnen und Kandidaten die Lücke mit neuen Mitarbeitenden zu füllen, liegt auf den Schultern der wenigen Recruiterinnen und Recruitern im Unternehmen. Im Schnitt betreut eine für das Recruiting verantwortliche Person 62 Stellen pro Jahr, wie die aktuelle Recruiting-Strukturen-Benchmark-Studie 2022 von Wollmilchsau, der Deutschen Gesellschaft für Personalführung (DGFP) und der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK) zeigt – im Schnitt gar 27 Stellen gleichzeitig, die sie jonglieren und für die sie dabei alles geben. Allein dafür haben sie eigentlich einen Award verdient!
Zuletzt machte auch eine Studie der Unternehmensberatung Boston Consulting Group die Runde, wonach eine unbesetzte Stelle im Schnitt rund 85.000 Euro an Wirtschaftsleistung kostet. Multipliziert man diesen Betrag mit den zuvor genannten 27 Stellen, würde eine Recruiterin beziehungsweise ein Recruiter im Durchschnitt jederzeit 2,3 Millionen Euro Wirtschaftsleistung verantworten. Das ist ein Grund mehr, warum das Thema Recruiting strategisch und budgetär fest in die Unternehmensziele eingeplant werden muss.
Recruiting muss immer mehr leisten
Nicht nur das Arbeitspensum, auch die Anforderungen an Recruiting-Verantwortliche heutzutage sind enorm. Denn: Recruiting muss immer strategischer und holistischer gedacht werden, um als Unternehmen wettbewerbsfähig zu bleiben. Beispielsweise spielen Daten eine immer wichtigere Rolle und die Recruiting-Tätigkeit umfasst nicht mehr nur die Phase vom Erstkontakt bis zur Einstellung, sondern in vielen Unternehmen eine ganzheitliche Talent Journey, die bei der Auswahl der richtigen Kanäle startet und nach der Unterschrift des Vertrages endet.
Die Folge ist, dass der Recruiting-Prozess immer umfangreicher und komplexer wird und dieser damit einhergehend sehr unterschiedliche Anforderungen mit sich bringt – so unterschiedlich, dass es eigentlich jeweils eigene Spezialistinnen und Experten dafür braucht: für die Kommunikation, die Analyse von Daten et cetera, den Talentkontakt und vieles mehr. Ein neues Talent einzustellen, ist demnach eigentlich eine Teamleistung. Doch oft arbeiten das Marketing und der Fachbereich nicht eng verzahnt mit den Kolleginnen und Kollegen aus dem Recruiting zusammen, sondern stellen Forderungen und üben durchaus auch Druck aus – zumindest ist das die übergreifende Perspektive unserer mehr als 4.000 Academy-Besucher und Teilnehmerinnen der letzten Jahre.
Nicht nur die Verantwortung wächst, auch das geforderte Skillset
Ein Champion wird als eine Person beschrieben, die in einer bestimmten Disziplin eine Meisterleistung vollbringt. Schaut man sich das an, was Recruiting-Verantwortliche tagtäglich leisten müssen, bleibt einem gar nichts Anderes übrig, als sie ebenfalls als Champions zu begreifen:
- Datengetriebene Analyse: Erst der Einblick in relevante Daten – beispielsweise auf der eigenen Karriereseite – ermöglicht es Personalverantwortlichen, die eigenen Aktivitäten anhand fundierter Zahlen zu optimieren. Dafür braucht es aber auch das Wissen, diese zu interpretieren und in die richtigen Maßnahmen zu übersetzen.
- Emotionale Markenbotschaften transportieren: Als Erstkontakt mit dem Unternehmen müssen Recruiting-Verantwortliche dafür sorgen, dass Jobsuchende sie positiv in Erinnerung behalten. Dazu gehört nicht nur Zwischenmenschliches und Emotionen, damit sich die Kandidatinnen und Bewerber wohl und wertgeschätzt fühlen, sondern auch ein Verständnis der (Arbeitgeber-)Marke, um Werte und Unternehmenskultur treffend widerzuspiegeln.
- Fachliches Netzwerken: Starten Talente in einen neuen Job und die Arbeitsrealität sieht ganz anders aus, als sie ihnen im Bewerbungsprozess vermittelt wurde, läuft im Recruiting etwas gewaltig falsch. Die Absprache und Eingliederung von Fachabteilungen in den Recruiting-Prozess ist deshalb essenziell. Recruiting-Verantwortlichen kommt hier nicht nur die Aufgabe zu, sich gut mit den entsprechenden Abteilungen und Teams zu vernetzen und in einem kontinuierlichen Austausch mit ihnen zu stehen. Zusätzlich ist es wichtig, dass sie auch etwas vom Fach verstehen und ihr Wissen schon in den ersten Gesprächen mit Kandidatinnen und Bewerbern einbringen können.
- Strategische Beratung: Recruiting bekommt eine immer höhere strategische Relevanz. Das bedeutet, dass das Recruiting auch immer näher an die Geschäftsführung heranrückt – oder heranrücken sollte. In beiden Fällen wird es für Recruiting-Verantwortliche immer wichtiger, ein organisationales Verständnis zu bekommen, um in der Lage zu sein, die Geschäftsleitung von notwendigen Entwicklungen in ihrem Bereich zu überzeugen.
Ein Job ohne Ausbildung
Die Krux an der Sache: Obwohl Recruiting-Verantwortliche eine so große Verantwortung haben und so viele verschiedene Fähigkeiten von ihnen erwartet werden, gibt es für sie keine dezidierte Ausbildung oder ein Studium, durch das sie optimal auf die Arbeitsrealität vorbereitet werden. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass sich Recruiterinnen und Recruiter autodidaktisch das meiste selbst beibringen (müssen). Gleiches gilt für die weitere Entwicklung „on the job“, um den sich stetig verändernden Anforderungen gerecht zu werden – denen des Unternehmens ebenso wie denen der Talente.
Damit das gelingt, muss Recruiting zu etwas werden, was jede und jeder lernen kann beziehungsweise worin sie sich ohne große Hürden weiterbilden können. Ob smarte Tools, der Austausch in Communitys, nützliche Tipps via Podcasts und so weiter oder spezielle Masterclasses; Recruiting-Verantwortliche müssen befähigt werden, den besten Job der Welt machen zu können. Nur so können sie langfristig die Champions unserer Wirtschaft sein – sie müssen gesehen, geschätzt und gefördert werden.