Die Starthelferin: Irene Aniteye

Porträt

Das Kreativhaus Jupiter bietet an einem Montagmittag Ende Juni Zuflucht vor einem Gewitterschauer. Mit den Vogelgeräuschen wirkt es wie eine kleine Ruheoase zwischen dem geschäftigen Treiben um den Hamburger Hauptbahnhof. Der International Shopping Space (ISS) im Erdgeschoss bietet Möbel aus recycelten Flipflops, Puppen mit verschiedenen Hautfarben sowie Kleidung und Kosmetik an. Irene Aniteye grüßt die Personen aus dem anliegenden Café und dem Concept Store La Tribune Noire. „Der gehört André Cramer, einem unserer ersten Partner.“ Alle Produkte, die La Tribune Noire anbietet, kommen aus Unternehmen, die von Schwarzen Personen geführt werden.

Die 30-jährige Hamburgerin hat gerade ein vollgepacktes Wochenende mit ihrem Team von AiDiA hinter sich. Die größtenteils ehrenamtlichen Mitarbeitenden sind aus verschiedenen Ecken Deutschlands für ein Zusammentreffen in Hamburg angereist. Derzeit sind die Vorbereitungen für das nächste Pitch-Event am 2. September in vollem Gange. Bereits zum zweiten Mal dürfen dort Afrodeutsche Personen ihre Start-ups und Geschäftsideen für ein Preisgeld von insgesamt 53.000 Euro vorstellen.

Schwarz ist eine Eigenbezeichnung, die viele Menschen mit afrikanischem Hintergrund verwenden. Sie kommt aus dem englischsprachigen Rassismusdiskurs („Black“). Es geht hierbei nicht um Hautfarbe, sondern um den Gegensatz zu Personen, die als weiß und westlich gelesen werden. Als politische Selbstbezeichnung wird „Schwarz“ mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben.

Afrodeutsch ist eine Selbstbezeichnung von Schwarzen Menschen in Deutschland, die sich Ende der 80er-Jahre entwickelt hat. Afrodeutsche haben nicht zwingend eine afrikanische Einwanderungsgeschichte. Unabhängig vom Geburtstort der Eltern oder Großeltern sind sie Teil der Schwarzen Diaspora.

Quelle: Glossar der Neuen Deutschen Medienmacher*innen

Mit Medien und Menschen

Dass Irene Aniteye einmal ein Unternehmen gründen würde, war nicht immer ihr Plan. Als Kind wollte sie Stewardess werden, weil sie es schon immer geliebt hatte, zu reisen. Auch Sprachen zu lernen, hat ihr immer Spaß gemacht, was sie darauf zurückführt, dass sie in einem mehrsprachigen Haushalt aufgewachsen ist. Ihre Eltern kommen aus Ghana und sprechen neben Deutsch mehrere ghanaische Sprachen sowie Englisch.

Direkt nach dem Abitur reiste Aniteye nach Australien, ihr Berufswunsch hatte sich aber inzwischen geändert: „Ich war eine von denen, die sagen, sie wollen irgendwas mit Medien machen.“ In Australien absolvierte sie ein Praktikum in einem Verlag, unterstützte dort bei der Recherche und im Sales-Bereich, schrieb eigene Artikel. „Mich interessieren vor allem Menschen und ihre Geschichten.“ Das kombinierte sie nach ihrer Rückkehr in die Hansestadt Hamburg mit ihrem Interesse für Werbung und Marketing; sie studierte Wirtschaftspsychologie und stieg nach ihrem Praktikum in einer Werbeagentur als strategische Planerin ein.

Von Waren zu Lösungen

Obwohl ihr die Arbeit mit Werbung und Marketing gefiel, ist Irene Aniteye inzwischen nicht mehr aktiv in der Branche tätig. „Die Arbeitsbedingungen passten nicht mehr in mein Leben, man arbeitet viel und hat wenig Privatleben.“ Zudem hatte sie das Gefühl, mit ihrer unkonventionellen Denkweise nicht reinzupassen. „Meine Meinung kann eben manchmal einfach anders aussehen als die der Norm.“

Auch die Coronapandemie hat sie zum Nachdenken bewegt. „Mir ist bewusst geworden, dass ich der Welt etwas hinterlassen möchte, worauf ich stolz sein kann, womit ich etwas verändert habe.“ Schon in der Werbeagentur hat Aniteye angefangen, sich für eine Antidiskriminierungsinitiative zu engagieren. 2020 stand das Thema plötzlich im Fokus der Gesellschaft, nachdem der Schwarze US-Amerikaner George Floyd durch Polizeigewalt getötet wurde. Aniteye leistete Aufklärungsarbeit und beriet Kunden zum Thema kulturelle Sensibilität. „Auch in der Werbung merkt man: Selbst dann, wenn man meint, offen, tolerant und sensibel zu sein, ist das nicht immer der Fall.“

2021 kündigte Aniteye ihren Job. „Ich wollte nicht mehr Waren, sondern Lösungen anbieten“, erklärt sie den Schritt. Ihre Vision sei ihr dabei wichtiger gewesen als finanzielle Sicherheit. Dass die Kündigung für sie angstfrei möglich war, bezeichnet sie als Privileg. „Ich wusste, wenn es schiefgeht, werde ich durch mein persönliches Netzwerk und meine Familie aufgefangen.“ Aniteye hatte zunächst die Idee, gemeinsam mit ihrer Schwester ein Unternehmen zu gründen. Sie hatte festgestellt, dass in es in Deutschland große Lücken in den Angeboten für Menschen mit afrikanischen Wurzeln gebe – unter anderem im Bereich Haar- und Körperpflege – und wollte Zugang zu diesen Produkten schaffen.

Eine Bühne geben

Aber Aniteye ging noch einen Schritt weiter und setzte am gesamten System an. Durch ihre Freundin Shanice Sintim-Aboagye wurde sie auf den Verein FoG-Germany e.V. aufmerksam, der sich um die Interessen von Schwarzen Menschen in Deutschland kümmert. Sintim-Aboagye engagierte sich dort unter anderem zusammen mit Daniel Tiemor und Louisa Schätz. Im Vereinsbereich Business, der junge Menschen durch After-Work-Veranstaltungen miteinander vernetzt und ihnen hilft, sich beruflich weiterzuentwickeln, fiel auf, dass viele Teilnehmende spannende Geschäftsideen haben, ihnen aber das Netzwerk, das Wissen und die finanziellen Ressourcen fehlen, um sie umzusetzen. Die Vereinsgründerin Lucy Larbi initiierte deshalb AiDiA. Der Name steht für „Ideen der AfroDiaspora“ und wird ausgesprochen wie das englische Wort idea. Mit einem Pitch-Wettbewerb wollten Larbi, Tiemor, Sintim-Aboagye und Schätz für Afrodeutsche Personen, die ein Unternehmen gründen möchten, eine Bühne schaffen.

Sintim-Aboagye holte Aniteye aufgrund ihrer Marketing-Expertise dazu. Die beiden übernahmen die Projektleitung des AiDiA-Pitch-Events und bauten das Team auf. Das Projekt wurde größer als geplant. „Wir haben da so viel Potenzial gesehen, deshalb haben wir das Ganze noch größer gedacht“, erzählt Aniteye. Sie wollten den Start-ups nicht nur Sichtbarkeit und ein Netzwerk verschaffen, sondern auch Preisgelder auszahlen und sie auf den Pitch und den Markteintritt vorbereiten. Um all dem Struktur zu geben, mussten sie ein Unternehmen gründen. Aniteye übernahm kurzerhand die Geschäftsführung.

Im September 2022 fand das erste Event statt. Für die Kategorie „Gründerpitch“ können sich Start-ups bewerben, die zwischen einem und fünf Jahren alt sind. Der „Ideenpitch“ fördert Menschen, die bisher nur eine Geschäftsidee haben, sie aber noch nicht umgesetzt haben. Wer ins Finale kommt, entscheidet ein Advisory Board aus erfahrenen Gründerinnen und Unternehmerinnen. Nach der Vorauswahl erhalten die acht Finalistinnen und Finalisten ein Mentoring und Workshops, beispielsweise zu den Themen Geschäftsmodellierung, Bühnenpräsenz und Kommunikation.
Als Preisgeld zahlt AiDiA insgesamt 53.000 Euro aus. In diesem Jahr kommen Sachpreise im Gesamtwert von über 150.000 Euro dazu, unter anderem Coachings, Co-Working-Möglichkeiten, Social-Media-Tools sowie technische Unterstützung und Beratung von den PartnernFraunhofer Venture und Devhaus Leipzig. Für die Finanzierung arbeitet AiDiA mit Sponsoren wie der Techniker Krankenkasse, Snipes und der Stadt Hamburg zusammen. Letztes Jahr hat sich das Projekt komplett aus Sponsorengeldern finanziert, inzwischen erhält es auch Fördergelder. Zusätzlich dazu sind Mitgliedschaften und Corporate Partnerschaften als Geschäftsmodelle geplant.

Das Team hinter AiDiA ermöglicht Schwarzen Entrepreneurinnen und Entrepreneuren einen Zugang zu Fördermitteln und Wissen. © Irene Opoku
© Irene Opoku

Versagen ist keine Option

Im Rückblick ist Aniteye sehr stolz auf das vergangene Pitch-Event. „Mir haben meine Eltern früher immer gesagt, dass ich doppelt so hart arbeiten muss wie andere, um dafür anerkannt zu werden, weil ich nicht aussehe wie sie. Das hat mich sehr anspruchsvoll und ambitioniert gemacht.“ So gehe es vielen Schwarzen Personen. „Wenn wir etwas falsch machen, fällt das schneller negativ auf. Das spürt man immer wieder mal unterschwellig in Alltagssituationen.“ Deshalb war es ihr und dem Team sehr wichtig, dass das Event ein Erfolg wird.

Ein Großteil des Teams von AiDiA verfolgt das Projekt ehrenamtlich. Sie arbeiten hauptberuflich in der Unternehmensberatung oder in Tech-Companies. Zu den elf Gesellschafterinnen und Gesellschaftern kommen einige Freiwillige und inzwischen eine festangestellte Mitarbeiterin. Da das Gründungsteam groß ist, gibt es lange Abstimmungswege, die aber gut funktionieren, weil die Mitarbeitenden Vereinsstrukturen gewohnt sind. Ausschlaggebend für den Erfolg sei allerdings das gemeinsame Ziel. Viele aus dem Team könnten ihre Leidenschaften und Visionen in ihrem Hauptjob nicht ausreichend nachgehen. Das motiviere sie dazu, das Ehrenamt auch nach einem langen Arbeitstag noch zu verfolgen.

Einen Unterschied machen

Nicht nur das Team von AiDiA ist von Idealismus geprägt. Aniteye ist aufgefallen, dass die Start-ups, die sich für den Pitch bewerben, oft soziale Ansätze verfolgen – vermutlich, weil sie selbst mit Herausforderungen konfrontiert sind. „Wer ein Unternehmen gründet, sucht Lösungen, normalerweise für Probleme, die einen selbst beschäftigen.“ Sozial müsse nicht unbedingt heißen, dass sich das Unternehmen nur über Spenden finanziere, in vielen Fällen seien sie auch wirtschaftlich profitabel. So hat beispielsweise das Start-up Ohemaa Green Housing, das energieeffiziente Häuser aus recyceltem Plastik baut, im letzten Jahr den Hauptpreis gewonnen und startet erste Finanzierungsrunden.

„Leider gibt es oft eine Diskrepanz zwischen Investoren und Start-ups aus unserer Community“, erklärt Aniteye. Das betreffe generell alle, die nicht der männlich-weißen Norm entsprechen. Ihre Lebensrealität werde von Investoren oft nicht verstanden, weshalb sie sehr viel weniger Risikokapital erhielten. „Man vertraut ja grundsätzlich eher denjenigen, die einem selbst ähnlich sind.“ Der Migrant Founders Monitor zeige, dass es Gründerinnen und Gründern mit Migrationsgeschichte an Netzwerk und Finanzierung fehle, aber auch, dass ihre Start-ups oft besonders erfolgreich sind. „Sie sind sehr leistungsorientiert, weil sie gelernt haben, Verantwortung zu übernehmen – zum Beispiel für ihre Familie in der Heimat –, und weil sie international denken.“

Eine inklusive Zukunft

Aktuell bereiten Irene Aniteye und ihr Team das zweite Pitch-Event im September vor. Das Motto lautet „Forward ever, backward never“, ein Zitat von Kwame Nkrumah, dem ersten ghanaischen Präsidenten, der das Land aus der Kolonialzeit in die Unabhängigkeit führte. „Statt die Vergangenheit zu betrauern, wollen wir die Zukunft so gestalten, wie wir sie uns wünschen. Die vielfältig und gerecht ist und Menschen befähigt, einen Unterschied zu machen.“ Das Team wachse, weil sich immer mehr Menschen von AiDiA inspiriert fühlen. Sie alle würden gerne Strukturen aufbauen, die es der nächsten Generation leichter machen.

AiDiA sei dabei lediglich das erste Produkt des Business Empowerment Hubs, dem dafür gegründeten Unternehmen. Das Team plant unter anderem eine Plattform für Wissenstransfer und Networking und ein Programm, das Start-ups für Investoren bereit macht. Und das Pitch-Event soll zukünftig Teil einer Business & Culture Convention werden und mit Masterclasses und Recruiting-Angeboten ergänzt werden. „Die große Vision ist, dass wir dann irgendwann der Ort sind, an dem alle Menschen zusammenkommen, wenn es um Vielfalt, Zukunftsvisionen und Wirtschaft geht.“

Für die Zukunft hofft Irene Aniteye vor allem, sich nicht mehr so viel erklären zu müssen. „Oft werden wir gefragt, warum es denn eine Plattform nur für Schwarze Menschen braucht. Ich verstehe, woher die Frage kommt, aber ich würde mir ein bisschen Sensibilität dafür wünschen, dass es Herausforderungen und Ausgrenzung von bestimmten Gruppen gibt.“ Ihr großer Wunsch ist es, in einer inklusiven Gesellschaft zu leben, in der alle gesehen und gehört werden, ohne die strukturellen und institutionellen Herausforderungen, die das aktuell noch verhindern. „Wir wissen, dass wir dieses Ziel erreicht haben, wenn es Projekte wie unseres nicht mehr braucht.“

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Investition. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Senta Gekeler, Redakteurin beim Magazin Human Resources Manager

Senta Gekeler

Senta Gekeler ist freie Journalistin. Sie war von 2018 bis 2023 Redakteurin beim Magazin Human Resources Manager.

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