Die Entschlossene: Annahita Esmailzadeh

Porträt

Wenn man genau hinschaut, kann man aus Annahita Esmailzadehs Postings herauslesen, wie es ihr gerade geht. Sie plant die Themen, über die sie spricht, nach ihrer mentalen Verfassung: Wenn alles gerade gut läuft und sie munter und zufrieden ist, dann wendet sie sich den schwierigeren Themen zu, etwa Diskriminierung, Gleichberechtigung oder Rassismus. Denn die 31-Jährige muss nach einem Posting nicht lange darauf warten, dass die ersten Hater ihr Gift versprühen. Geht es ihr weniger gut, schreibt sie also lieber über leichte Themen, die keine Gegenwehr provozieren, wie Unternehmenskultur oder Zeitmanagement.

Die Unbequemlichkeit des Social Webs, die Kränkungen und Beschimpfungen – all das ist der Preis ihrer Berühmtheit: Denn Annahita Esmailzadeh gilt als eine der bekanntesten Business-Influencerinnen Deutschlands. Sie hat zwei Bestseller geschrieben, einen über die Generation Z, einen über Stereotype im Arbeitsleben. Mit ihren mehr als 183.000 Followern gehört sie zu den 20 reichweitenstärksten deutschen Linkedin-„Top Voices“. Ihre Stimme hat Gewicht, nahezu alle Leit- und Fachmedien haben schon einmal über sie berichtet. Die Liste der Podcast-Einladungen ist so lang wie die Kommentarspalte unter ihren Postings und Interviews.

Ein Foto verändert alles

Als sie einmal auf Zeit Online in einem Protokoll über die Arbeitsmoral der Generation Z zu Wort kam, diskutierten die Leserinnen und Leser unter dem Beitrag angeregt über das Thema. Sechs Monate später interviewte die Wochenzeitung die Managerin zum Thema Stereotype im Recruiting und veröffentlichte diesmal ein Foto von ihr als Aufmacher. Was einige zum Anlass nahmen, darüber zu spekulieren, ob sie vom Pretty Privilege profitiert habe oder wie sie mit gerade mal Anfang Dreißig schon über verschiedene Chefs urteilen könne. Über den Inhalt des Interviews verloren die wenigsten ein Wort.

„Die Leute denken immer erst einmal: Ach, die Püppi, die kann doch nichts“, erzählt Esmailzadeh. „Ich habe mich an diese Inkompetenz-Vermutung gewöhnt und sie hat mich lange geärgert.“ Esmailzadeh hat einen Einser-Master in Wirtschaftsinformatik, war fünf Jahre lang bei SAP, zuletzt als Leiterin Innovation am Standort München. Bei Microsoft führt sie seit rund zweieinhalb Jahren ein zwanzigköpfiges Aftersales-Team. „Mittlerweile ist die Inkompetenz-Vermutung einer meiner größten Motivatoren in meiner Rolle als Business-Influencerin“, sagt die Münchnerin, die längst zu einer eigenen Marke geworden ist. Was treibt sie an?

Wie alles begann

Vor drei Jahren saß Esmailzadeh in einem Meeting und wagte es kaum, zwischen ihren Sätzen Luft zu holen – denn das sah ein Kollege als Gelegenheit, ihr zuerst ins Wort zu fallen und dann einen langen Monolog zu halten. Unzählige Male machte sie ihn darauf aufmerksam, unzählige Male machte er einfach weiter. Kurzerhand knipste sie ein Foto von sich mit einem Ausdruck in der Hand: „Ich war noch NICHT fertig!“ und postete es auf Linkedin. Dazu schrieb sie einen längeren Beitrag, zitierte Studien, gab Tipps. Das Posting ging viral, auch weil bekannte Persönlichkeiten wie die DB-Güterverkehr-Vorständin Sigrid Nikutta ihn teilten. Manterrupting, das kennen viele Frauen.

„Durch diese Resonanz habe ich verstanden: Ich kann etwas bewegen“, erinnert sich Esmailzadeh. Das gefiel ihr, genauso wie das Schreiben. Wäre es nicht die IT geworden, säße sie heute vielleicht als Reporterin in einer Redaktion oder wäre im sozialen Bereich tätig, erzählt sie. Durch ihr zweites Linkedin-Leben hat sie also einer verborgenen Leidenschaft die Tür geöffnet. Denn die Entscheidung für ihr Studium fällte sie nicht aus Neigung, sondern nach einem klaren Prinzip: In dem Fach musste es leicht sein, einen Job zu finden. Und dieser musste ihr finanzielle Unabhängigkeit garantieren. Ihre Eltern hatten dazu bereits Ideen in petto: Juristin oder Ärztin. „Alle, die aus dem Iran kommen, werden jetzt wissen, was das bedeutet. Da gibt es quasi nur diese beiden Berufe als reelle Optionen“, sagt Esmailzadeh und lacht. Ihre Eltern legen enormen Wert auf Bildung – und sie wollten, dass ihr Kind es einmal besser hat als sie. „Kapital, Netzwerk oder Karrieretipps konnten mir meine Eltern nicht geben“, sagt Esmailzadeh. Dafür aber etwas anderes.

Aufwachsen im ­Glasscherbenviertel

Esmailzadeh wuchs im Münchener Westend auf. Heute ist die Gegend trendig und beliebt, damals war sie noch ein von der Stadt vernachlässigtes Arbeiterviertel. Die Münchener nannten es „Glasscherbenviertel“. Die junge Frau bahnte sich den Weg nach oben: durch harte Arbeit, Disziplin und angetrieben von der Angst, zu scheitern. Sie sei im Herzen aber immer ein Arbeiterkind geblieben, sagt sie, mit allen Vor- und Nachteilen. „Mir wurde nichts geschenkt, ich habe trotz meines Erfolgs immer das Gefühl, noch eine Schippe drauflegen zu müssen.“ Sie sei aber auch sehr bodenständig und voller Dankbarkeit. „Ich vergesse nie, wo ich herkomme.“ Esmailzadeh war die einzige Schülerin mit nicht deutschen Wurzeln, die von der Grundschule aufs Gymnasium wechseln konnte. Das klappte vor allem, weil ihre iranischen Eltern rasch Deutsch gelernt hatten und sie immer bestärkten. Sie gaben ihr das Gefühl: Du kannst alles schaffen! Schon in Kindestagen erhob Esmailzadeh ihre Stimme, sobald sie Ungerechtigkeit erlebte oder mit ansah. Wenn ihre Mutter in die Schule gerufen wurde, weil ihre Tochter laut und aufmüpfig gewesen war, dann ermutigt sie ihr Kind: Weiter so, steh für dich und andere ein! Die Heranwachsende lernte: Menschen, die eine Stimme haben, werden automatisch in ihrem Umfeld anecken. Das ist nichts, was man verhindern müsste.

Eine starke Stimme auf ­Linkedin

Heute tut sie das auch auf Linkedin. In ihrem Profil steht das Mantra „Be a Voice, not an Echo“, und wenn sie alle paar Tage etwas postet, sprudelt es Likes und Kommentare. Als sie im Jahr 2021 auf der Plattform aktiv wurde, war das Format „Foto und Zitatkachel“ noch ein Novum. Heute machen das viele. Linkedin ist längst von einem Business-Netzwerk zu einer Content-Plattform avanciert, mit 24 Millionen Nutzerinnen und Nutzern im DACH-Raum und rund 850 Millionen weltweit. CEOs äußern sich dort emotionaler als in der Pressemitteilung, Leitmedien zitieren regelmäßig aus Postings. Linkedin gehört mittlerweile fest zur Kommunikation von Unternehmen, und HR schwört auf die Plattform zur Talentakquise. Sie bietet schließlich Einlass zu einer goldenen Datenbank an Kandidaten.

Mittlerweile hat auch Annahita Esmailzadeh eine Art Content-Plan und postet nicht mehr so willkürlich wie am Anfang. Es gibt drei Themenbereiche, zu denen sie im Alltag Ideen sammelt und dann – meist in der stillen Dunkelheit der Nacht nach getaner Arbeit – ihre Beiträge textet. Entweder zu Diversität, moderner Führung oder New Work. Sie ist dabei immer nah dran an ihrem eigenen Erleben, ihrem Alltag. Zum Beispiel die Geschichte ihrer Freundin. Sie hatte berichtet, dass ihr im Vorstellungsgespräch die Frage gestellt wurde: Wie wollen Sie durch Ihren Arbeitseinsatz das Betriebsrisiko wettmachen, das wir durch eine Einstellung einer Frau in ihrem Alter eingehen? Die Freundin beendete das Gespräch. Was der HRler nicht wusste: Ihre Freundin kann gar keine Kinder bekommen. Es ist also eine doppelte Verletzung, die er ihr zufügte, der übergriffige Verdacht, bald schwanger zu werden, und das schmerzhafte Erinnern an den unerfüllten Kinderwunsch. Esmailzadeh verdichtete diese Begebenheit zu einem Post: „Hört auf, Frauen unter einen pauschalen Gebärverdacht zu stellen!“

© Philipp Steuer

Die Business-Influencerin steht gern auf der Bühne und ist eine gefragte Speakerin. Hier spricht sie vor dem Publikum des 40. Vorarlberger Wirtschaftsforum zum Thema „Gegenwind als Antrieb“.

Das Erfolgsgeheimnis

Heute postet sie nicht nur ein Foto oder ein Foto mit Zitat, sondern auch Visualisierungen ihrer Tipps mithilfe der Coachin Annika Frankenberger. Diese lauten beispielsweise: „Sieben goldene Feedbackregeln“, „Top 7 Karrieretipps“ oder „10 Gebote guter Führung“. Die Fotos zu ihren Beiträgen schießt zweimal im Jahr eine professionelle Fotografin für sie, aus diesem Fundus wählt Esmailzadeh dann aus. Das wars, der Rest entspringt ihrer Kreativität, es sind keine Agenturen beteiligt, keine Social-Media-Berater. Und das scheint das Erfolgsgeheimnis zu sein. „Ich bin so, wie man mich in den Postings, auf Social Media oder in den Medien erlebt. Ich bin immer Annahita, ganz gleich, ob man mich nach einem öffentlichen Auftritt oder beim Bäcker trifft“, sagt sie. Und wenn sie sich selbst nicht an ihre eigenen Linkedin-Ratschläge hält (keine exzessiven Überstunden machen, auf die Gesundheit achten), dann gibt sie das in Podcasts zu. „Ich würde gern mehr Sport und mehr Pausen machen, ich bin ein recht getriebener Mensch“, sagt sie. Sie mag keine leere Zeit, also füllt sie sie: mit Auftritten, Interviews, Podcasts, Jurysitzungen, aber auch Büchern, News und Magazinen. Alles on top zum Vollzeit-Tech-Managerin-Job.

„Man denkt in der Linkedin-Welt schnell, alles wäre so geschmeidig, denn es sieht oft einfach aus“, sagt sie. Aber die Nutzer wissen eben nicht, dass ihre Koffer nach einer Reise lange ungeöffnet in der Wohnung herumstehen, dass sie nachts oft am Rechner sitzt oder dass auch ihr seit dem Berufseinstieg viele Türen vor der Nase zugeschlagen wurden. Man sieht die Rückschläge und Stolpersteine nicht auf den professionell anmutenden Fotos. Deshalb spricht sie darüber offenherzig im öffentlichen Raum, auch darüber, dass sie viel arbeitet. „Aber zu meiner Verteidigung muss ich sagen: Dafür esse ich immerhin sehr gesund.“ Stichwort: Clean Eating. Ihre Freundinnen lachen sich schlapp, wenn Esmailzadeh aus einer riesigen Salatschüssel ihre Mittagsbowl isst. „Ich kann einfach keine kleinen Portionen essen.“ Sie lächelt und gibt damit ein Eckchen Privates preis, etwas, das die Business-Influencerin sonst eher selten tut. Sie berichtet normalerweise von Erfahrungen auf ihrem Karriereweg: etwa als eine Kollegin ihr riet, sich die Haare zusammenzubinden und unscheinbare Kleidung zu tragen. Sonst nimmt dich doch niemand ernst!

Heute trägt sie auf Linkedin und Instagram die Haare immer offen, die Nägel sind lackiert, die Kleidung farbenfroh. Nach dem Motto: So bin ich, so sehe ich aus. Damit will die Wirtschaftsinformatikerin auch Vorbild sein und Nachwuchstalenten zeigen: Kompetenz hat nichts mit Aussehen zutun! Und: Die Tech-Welt muss nicht den Männern gehören, auch wenn Frauen immer noch Ausnahmen in der IT-Branche sind. Als Esmailzadeh ihr erstes Praktikum in der Softwareentwicklung begann, wurde sie, als sie nach dem Weg fragte, schnurstracks in die Marketingabteilung geschickt. „Es hilft, wenn das IT-Recruiting die Biases kennt, denen wir oft unterliegen“, sagt Esmailzadeh. Etwa der Affinitäts-Bias. Dieser Mini-Me-Effekt führt dazu, dass die Sympathie denjenigen zufliegt, die uns ähneln. Übertragen auf Führungskräfte bedeutet das: Sie sind, wenn sie nicht achtsam recruiten, umgeben von Mini-Me-Versionen ihrer selbst. „Das führt perspektivisch zu Phänomenen wie der Gläsernen Decke in der Wirtschaft“, sagt Esmailzadeh. „Je höher die Hierarchiestufe, desto homogener – männlicher, weißer, akademischer, sozial privilegierter – ist das Bild, das man vorfindet.“ Die IT der Zukunft jedoch sollte weiblicher werden.

Eine Studie des Marktforschungsunternehmens McKinsey aus dem Jahr 2023 zeigt: EU-weit sind bislang 22 Prozent der Arbeitsplätze im Tech-Bereich von Frauen besetzt. Innerhalb der kommenden drei Jahre werden laut Studienautoren zwischen 1,4 Millionen und 3,9 Millionen Arbeitskräfte im Technologieumfeld fehlen. In Deutschland sind es 780.000. Damit Frauen den Weg in die IT-Branche schaffen, hat Esmailzadeh eine Botschaft: „Hört nicht auf den alten Glaubenssatz, wir müssten stets und ständig für Harmonie sorgen.“ Ihr Credo lautet: Eckt an! „Denn Everybody’s Darling ist auch Everybody’s Depp.“

© Sapna Richter

Annahita Esmailzadeh leitet den Bereich ­Customer Success Account Management für die Energie- und Chemiebranche beim Softwareunternehmen Microsoft Deutschland. Die 31-jährige Wirtschaftsinformatikerin ist jedoch vor allem bekannt für ihre reichweitenstarken Postings auf Linkedin zu den Themen Diversität, moderne Führung und New Work – schon vor ihrer Zeit bei Microsoft. Die Managerin hat ihr Wissen über Stereotype im Arbeitsleben und die Generation Z bereits in zwei Bestsellern verarbeitet.

Weitere Porträts zum Weiterlesen:

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Branding. Das Heft können Sie hier bestellen.

Unsere Newsletter

Abonnieren Sie die HR-Presseschau, die Personalszene oder den HRM Arbeitsmarkt und erfahren Sie als Erstes alles über die neusten HR-Themen und den HR-Arbeitsmarkt.
Newsletter abonnnieren
Jeanne Wellnitz (c) Mirella Frangella Photography

Jeanne Wellnitz

Redakteurin
Quadriga
Jeanne Wellnitz ist Senior-Redakteurin in der Wirtschaftsredaktion Wortwert. Zuvor war sie von Februar 2015 an für den Human Resources Manager tätig, zuletzt als interimistische leitende Redakteurin. Die gebürtige Berlinerin arbeitet zusätzlich als freie Rezensentin für das Büchermagazin und die Psychologie Heute und ist Autorin des Kompendiums „Gendersensible Sprache. Strategien zum fairen Formulieren“ (2020) und der Journalistenwerkstatt „Gendersensible Sprache. Faires Formulieren im Journalismus“ (2022). Sie hat Literatur- und Sprachwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert und beim Magazin KOM volontiert.

Weitere Artikel