Zwei Jahre lang hat Per Ledermann versucht, Fränzi Kühne in sein Unternehmen zu locken. Das erste Mal im Jahr 2020, als Corona die Welt fest im Griff hatte, machte der CEO der Digitalexpertin schon den Vorstandsjob beim börsennotiertem Schreibwarenhersteller Edding schmackhaft. Denn er wollte die 40-Jährige für den Posten aus guten Gründen: Kühne nimmt die Arbeit mit viel Lässigkeit und ist bekannt dafür, Großes mühelos entstehen zu lassen oder ungewöhnliche Dinge das erste Mal zu tun. Das ist genau der Spirit, den das Traditionsunternehmen braucht, denn es muss digitaler werden und neue Geschäftsfelder erschließen. Keine einfache Aufgabe. Aber das schreckt Kühne nicht ab. Sie ist Mitgründerin der ersten Digitalagentur Deutschlands und wurde mit 34 Jahren Deutschlands jüngste Aufsichtsrätin. Kühne ist in zahlreichen Podcasts zu Gast, sitzt auf Podien, posiert auf Instagram mit Verena Pausder und Lea-Sophie Cramer oder schüttelt Angela Merkel die Hand.
Nun sollte sie also die Transformation der Edding-Gruppe gestalten, als Chief Digital Officer – als einzige Frau im bislang dreiköpfigen Vorstand des Permanentmarker-Pioniers. Am Ende wurde es eine halbe Frau sozusagen – denn Fränzi Kühne hat wieder etwas Ungewöhnliches getan: Sie teilt sich ihren Vorstandsposten. Denn Vollzeit an einen Konzern binden? Nein, das entspricht nicht Kühnes Vorstellung. Sie wollte frei sein, flexibel. New Work eben. Denn das ist neben Female Empowerment eines ihrer Kernthemen. Also beendet sie im Jahr 2021 das zweite Gespräch mit Per Ledermann mit dem Satz: „Mach mir ein Angebot, so dass ich die Stelle gut finden kann.“
Auf die Tandem-Idee ist Ledermann selbst gekommen, als er die Gespräche mit seinen Top-Kandidatinnen führte. „Meine beiden Favoritinnen sagten, dass für sie Vollzeit nicht infrage kämen“, erinnert er sich. Also machte er aus der Not eine Tugend und bot die Stelle als Tandem an. Die Kandidatinnen fanden die Idee gut, doch es gab ein Problem. Bei Fränzi Kühne machte es beim Kennenlerngespräch mit den anderen Bewerberinnen für ein Tandem nicht „klick“.
Das Matching
„Gemeinsam führen ist wie gemeinsam gründen und gemeinsam gründen ist wie heiraten“, sagt Fränzi Kühne. Sie sitzt neben Boontham Temaismithi, trägt eine Wollmütze und grinst ihren Compagnon an: „Ich war damals echt verzweifelt, ich wollte den Edding-Job unbedingt machen – und dann fiel mir Boontham ein.“ Die möglichen Tandem-Kandidatinnen aus dem Edding-Recruiting hatten zwar eindrucksvolle Lebensläufe, doch als sie ihnen gegenübersaß, sprang der Funke nicht über. Sie könne das schwer erklären, sagt Kühne, das sei einfach Bauchgefühl. Sie schrieb also ihrem langjährigen Freund und Geschäftspartner Boontham Temaismithi eine Nachricht: „Haste Bock auf ein Tandem mit mir im Vorstand bei Edding?“ Die Antwort kam prompt: „Ja, klar“. Sie durchliefen das Assessment und bekamen den Zuschlag.
Ein Pionier für flexibles Arbeiten
Edding ist natürlich längst mehr als ein Hersteller von Permanentmarkern. Damit ist das 1960 gegründete Unternehmen mit Sitz im Norden Deutschlands zwar groß geworden, doch heute verkauft es mobile Kompaktdrucker an die Industrie, vermarktet interaktive e-Screens, hat eine digitale Führerscheinkontrolle für Arbeitgeber entwickelt, einen Webshop ins Leben gerufen und in Deutschland mehr als 61.000 Follower auf Instagram. Rund 17.000 sind es auf Linkedin. Den größten Umsatz macht das Unternehmen nach wie vor im Bereich Office & Industry Supplies – und durch die Akquisition von Fränzi Kühne als Digitalexpertin und New-Work-Vorreiterin bekommt es jede Menge Publicity und kann sich als Pionier flexiblen Arbeitens positionieren. Überzeugt haben die Berlinerin aber vor allem die Dinge, über die Edding bisher wenig öffentlichkeitswirksam spricht, sagt sie. Es sei ein sehr werteorientiertes Unternehmen, das sich mit der Strategie 2026 vorgenommen hat, ökologische und soziale Nachhaltigkeit hochzuhalten – sich also von einem profitorientierten zu einem sinnökonomischen Unternehmen zu transformieren. Also ein
Unternehmen mit Haltung.
Als etwa der Krieg in der Ukraine ausbrach, produzierte Edding 30.000 Peace-Stifte, eine „Special Edition“, um beispielsweise Hilfsgüter zu beschriften. 150.000 Euro wurden innerhalb dieser Aktion insgesamt an helfende Organisationen gespendet. Den Stift bringt Fränzi Kühne zum „OMR“-Podcast mit, in dem sie allerlei Fragen zu ihrem Job-Tandem-Antritt beantwortet. Nahezu alle wollen wissen: Wie organisiert ihr euch? Wie trefft ihr Entscheidungen? „Der Spiegel“ bringt sogar ein Stück über Kühnes Terminkalender. Um alle Fragen einmal gebündelt zu beantworten, postet Kühne im Dezember 2023 auf Instagram und Linkedin eine Tippliste zum Tandem. Sie zieht nach eineinhalb Jahren an Bord Bilanz und betont: Sei wählerisch, was den partner in crime betrifft! Wie findet man also das eigene Perfect Match?
Freundschaft und Arbeit
Als Fränzi Kühne ihren Tandem-Partner vor mehr als 15 Jahren kennengelernt hat, hätten sie auch erst einmal gefremdelt. Damals waren Fränzi Kühne und ihr Kumpel Christoph Bornschein noch an der Universität, lebten in einer WG und gaben sich die Fake-Namen Lucie und Torben – die Namen gaben sie sich aus Spaß einst bei einem WG-Ausflug zu Karls Erdbeerhof. Die Alias brannten sich ein, und so nannten sie auch ihre Werbeagentur kurzerhand Lucie, Torben und die gelbe Gefahr. Die gelbe Gefahr, das war Boontham Temaismithi, ein Freund von Bornschein. „Wir sind durch Hochs und Tiefs gegangen und merkten, dass wir Probleme auf die gleiche Weise lösten“, sagt Temaismithi heute. Hat man diesen Modus einmal gefunden, könne man jedes Problem lösen. „Es ist diese gemeinsame Reise, die uns so sehr miteinander verbindet“, sagt Kühne – und sie wissen beide, was sie können und was nicht.
Damals schoben sie das Geschäft an, in dem sie sich mit anderen Agenturen vernetzten und ihren Kunden – darunter Eon, Lufthansa, Thyssen-Krupp und Spotify – den Umgang mit Facebook, Twitter und Co. beibrachten. Und das mit Erfolg. 2015 haben sie 110 Mitarbeiter und verkauften an die Agenturgruppe Omnicom.
Im Frühjahr 2020 stiegen beide aus und die beruflichen Wege trennten sich. Fränzi Kühne wollte auf Weltreise gehen, mal was anderes machen, mal nicht rund um die Uhr arbeiten. Doch Corona machte ihr einen Strich durch die Rechnung. In Podcasts, Porträts und Interviews erzählt sie viel über diese Zeit, denn sie nutzte sie, um ein Buch zu schreiben. Das wollte sie auch gern noch fertigstellen, bevor sie zu Edding komme, sagte sie Ledermann damals. Als sie nämlich 2017 in den Freenet Aufsichtsrat gewählt wurde, riss sich die Presse um die Digitalexpertin und quälte sie mit banalen Fragen zu ihrer Frisur, ihrem Frau- und Muttersein: Es ging gar nicht um Inhalte. Für ihr Buch dreht sie den Spieß um und fragt männliche Promis und Bosse: Wie bringen Sie Familie und Karriere unter einen Hut? Haben Sie das Gefühl, dass Sie für Ihre Karriere persönlich viel opfern mussten? Was Männer nie gefragt werden wurde ein Spiegel-Bestseller.
März 2022 auf Instagram: Fränzi Kühne und Boontham Temaismithi sitzen auf einem Tandem, sie vorn, mit pinkem Schal und Regenbogen-Sneakern. Hinter ihr ein strahlender Boontham, Jeans und weiße Sneaker – für einen Vorstand eher ungewöhnlich locker. Kühne schreibt: „Nun sitzen Boontham und ich auf einem Tandem und wir fahren gemeinsam nach Ahrensburg zu edding. Und von dort aus immer weiter. Wir freuen uns sehr!“
© Screenshot Instagram
Der Störfaktor
Fränzi Kühne nennt sich selbst in ihrer Rolle als digitale Vorreiterin „der Störfaktor“. Bei dem Satz „Das haben wir schon immer so gemacht“ schlägt ihre Stunde. Sie hinterfragt Gegebenheiten, sie ist hemmungslos offen, sie ist echt. In Podcasts sagt sie, Zahlen seien nicht ihr Ding und dass sie GZSZ-süchtig ist, in Posts schreibt sie, dass sie ihr Studium abgebrochen und ihr Abitur mit 3,2 abgeschlossen hat. 2023 gewinnt sie den Role Model Award in der Kategorie Managerin 2023. Und ein Vorbild möchte sie gern sein, vor allem für das Konzept Jobsharing im Tandem.
Das Konzept wurde in den vergangenen Jahren auf CEO-Ebene umgesetzt, etwa beim Modeversandhändler Zalando, dem Softwareunternehmen Celonis, der Bosch-Tochter Bosch.IO oder dem Facility Manager Apleona. In den Köpfen geblieben ist aber sicherlich bei vielen die Schlagzeilen um SAP und Jennifer Morgan. Im Herbst 2019 wurden Jennifer Morgan und Christian Klein zur Doppelspitze des Softwareriesen ernannt, sechs Monate später musste Morgan den Chefinnensessel schon wieder räumen. Klein wurde alleiniger CEO. Offiziell hieß es, im Zuge der Pandemie brauche es nun schnellere Entscheidungen.
Laut Kühne ein falsches Signal. Sie höre oft, dass Tandems wieder eingestampft werden, wenn es einmal nicht gut läuft. Dabei können sie doch die Lösung des Problems sein. „Mit einem Tandem haben Unternehmen meiner Erfahrung nach weniger Compliance-Fälle, gesündere Mitarbeiter und viel bessere Entscheidungen“, sagt Kühne. Sie und ihr Tandem-Partner müssen 735 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch den Change bringen, das wäre allein viel anstrengender. „Wir haben auch den Gegenwind etwas unterschätzt“, sagt Kühne. Gerade bei so großen Change-Projekten hilft es, zu zweit geschlossen für ein Thema einzustehen. Die Aufgaben haben sie nach Kompetenzen und Vorlieben eingeteilt: Kühne kümmert sich eher um Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit, Temaismithi meidet Interviews eher, der 52-Jährige agiert lieber im Hintergrund und kommt vor allem ins Spiel, wenn es ums Branding geht. Die Führung ihrer Teammitglieder teilen sie sich auf, je nachdem, wer mit wem am besten kann. Sechs bis acht Tage im Monat sind sie beide vor Ort, dann treffen sie vorrangig die anderen Vorstände oder haben projektbezogene Meetings. Einmal im Monat ist Jour Fixe mit ihren acht Direct Reports aus dem Digitalteam, die wöchentlichen einzelnen Jour-Fixe-Termine teilen sie sich im Wochenwechsel auf, manchmal stehen auch Standortbesuche an.
Im Sparring liegt die Kraft
In Kühnes Bilanz-Posting stand noch ein zweiter wichtiger Punkt: Die Kommunikation untereinander. „Wir planen immer ein bis zwei Monate im Voraus die festen Termine ein und besprechen unsere jeweilige Teilnahme“, erzählt Kühne. Der Rest wird situativ entschieden. Auch die Arbeitszeit werde nicht getrackt, sie planen eigenverantwortlich und je nachdem, was die Organisation gerade braucht.
Wichtig sei ein passendes Tool für den Austausch – bei ihr sind es ein softwaregestütztes Notebook und das Telefon. Sie telefonieren alle zwei Stunden miteinander, wird eine Entscheidung gefällt, steht sie, ganz gleich, wer sie kommuniziert. „Das Sparring ist das Wichtigste“, sagt Kühne. „Für unsere Teams ist der Abstimmungsaufwand also ähnlich hoch wie mit einer Person.“ Dafür hätten viele am Anfang nämlich Angst gehabt, zwei Personen, also auch immer zwei Gespräche, wenn es Anliegen gibt. Damit sie an diesen Punkt kommen, mussten sie sich ziemlich aufwendig in die Edding-Welt einarbeiten und die neu geschaffene Stelle mit Strukturen füllen. Diesen Aufwand hätten sie unterschätzt.
„Am Anfang haben wir fast sechs Monate parallel gearbeitet“, erinnert sich Kühne. Das Onboarding war komplex und sie wollten natürlich nicht, dass die ganzen Termine zweimal stattfinden müssen. Diesen Vollzeitaufwand sollte man sich bezahlen lassen, findet sie heute. Sie und ihr Tandem-Partner haben jeweils 55 Prozent-Stellen und kosten Edding damit zehn Prozent mehr als eine Vollzeitstelle. Dafür gibt es doppelte Kreativpower, durchdachte Entscheidungen und keine Ausfälle – denn einer ist ja immer da. „Meine Empfehlung ist jedoch, eher auf mindestens 60 bis 65 Prozent zu gehen“, sagt Kühne. Es gibt nun einmal Termine, die man gemeinsam wahrnehmen sollte, etwa bei strategischen Themen oder Entwicklungsgesprächen. Und das Modell soll natürlich auch seinen Ruf als Mutti-Modell loswerden, wie Kühne es nennt. „Jobsharing ist für mich kein Auffangbecken für Mütter, die sich die Woche untereinander aufteilen.“ Sondern als eine neue Art zu arbeiten, die es Menschen ermöglicht, auch die Hände für andere Dinge frei zu haben.
Ein Tandem bedeutet Gemeinschaft, ein vertrauensvolles Miteinander. „Ich glaube, ich bin ziemlich tandemfähig“, so Kühne, weil sie kein Statusdenken habe, ihr Macht nicht wichtig sei. Man feiert als Tandem keine Einzelerfolge, es gibt nicht die eine Führungsperson, die glänzt, sondern alles entspringt einer Gemeinschaft – und damit ist eigener Erfolg immer Teamerfolg, sagt Kühne und schließt mit einem Rat an alle HR-Profis: „Managt in Tandemfindung und Stellenprofil nicht zu viel. Sucht besser Menschen mit einem großen Gestaltungswillen. Und dann lasst sie einfach machen.
Weitere inspirierende Menschen im Porträt:
- Martin Porwoll: Der Whistleblower
- Die Starthelferin: Irene Aniteye
- Raúl Krauthausen: Der Inklusionsaktivist
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Miteinander. Das Heft können Sie hier bestellen.