Mit Depressionen zum Job

Deutschland-Barometer Depression

Ist die Kollegin oft traurig, obwohl es keinen offensichtlichen Grund dafür gibt? Wirkt der Kollege unkonzentriert und gedanklich weit weg? Psychische Erkrankungen, insbesondere Depressionen, sind in der modernen und schnelllebigen Arbeitswelt weit verbreitet und stellen Teams und Führungskräfte vor große Herausforderungen. Sie können nur unterstützen, wenn sie Krankheitssymptome wahrnehmen und einordnen können. Depression ist eine oft unsichtbare Krankheit und hat nicht nur individuelle Auswirkungen, sondern kann auch die Arbeitssituation und Produktivität stark beeinflussen, wie die OECD-Untersuchung Kosten psychischer Erkrankungen in Europa im Jahr 2015 herausgefunden hat. Trotzdem wird noch immer zu wenig darüber gesprochen, da das Thema mit Vorurteilen, Stigmatisierung und Unwissen behaftet ist.

Häufigste Ursache für Suizide

Statistisch gesehen erkrankt jeder fünfte Bundesbürger einmal im Leben an einer Depression. Neben der alarmierenden Häufigkeit der Erkrankung sind auch ihre tragischen Konsequenzen besorgniserregend: Depressionen sind die Hauptursache für die aktuell mehr als 10.000 Suizide pro Jahr in Deutschland, wie Daten des Statistischen Bundesamts aus dem Jahr 2023 zeigen. Die gesamtgesellschaftlichen Belastungen sind, neben dem persönlichen Leiden der Betroffenen und ihrer Angehörigen, enorm: Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung bezifferte bereits im Jahr 2011 die jährlichen Kosten für die deutsche Volkswirtschaft auf 22 Milliarden Euro.

Dabei ist eine Depression in der Regel gut behandelbar. Dies setzt allerdings voraus, dass die Erkrankung frühestmöglich erkannt wird. Noch immer erhalten aber nicht alle Betroffenen die Behandlung, die sie benötigen. Niederschwellige Beratungsangebote am Arbeitsplatz können hier ein wichtiger Impuls sein, damit sich Menschen Hilfe suchen und den Weg in eine leitliniengerechte Behandlung finden.

Rolle der Unternehmen nicht unterschätzen

Manche Führungskräfte werden sich fragen: „Warum sollten wir uns im Unternehmen um die Gesundheitsversorgung kümmern? Dafür gibt es doch Ärzte.“ Das ist richtig, aber: Die psychische Gesundheit der Mitarbeiter ist einer der Bausteine, die nachhaltig zum Erfolg eines Unternehmens beitragen. Mitarbeiter verbringen viel Zeit am Arbeitsplatz, wo Kollegen und Vorgesetzte mit dem richtigen Wissen und mit Handlungskompetenzen zu einem frühzeitigen Erkennen einer Erkrankung beitragen können. Wie der DAK-Psychreport 2022 zeigt, können betriebliche Anlaufstellen bei der frühzeitigen Erkennung von psychischen Erkrankungen und dem weiteren Krankheitsverlauf eine essenzielle Rolle spielen. Dies kann von enormer Bedeutung sein für die einzelne Person, aber auch für das Unternehmen, immerhin stellen psychische Erkrankungen den zweithäufigsten Grund für Arbeitsunfähigkeit dar, wobei die Fehlzeiten mit circa 39 Tagen überdurchschnittlich lang sind. Die Deutsche Rentenversicherung gibt an, dass gemäß Bundespsychotherapeutenkammer keine andere Erkrankung so häufig zu einer gesundheitsbedingten Frühverrentung führt wie Depression.

Ein Betriebsarzt ist gesetzlich vorgeschrieben und ist gemäß Erhebungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, der Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit, in etwa 40 Prozent der deutschen Unternehmen vorhanden. Betriebliche Sozialdienste sind zwar vor allem in größeren Unternehmen vorhanden, decken aber dadurch eine große Zahl von Beschäftigten ab.

Es gibt sie also, die betrieblichen Anlaufstellen. Jedoch sieht die Realität bezüglich der Nutzung ernüchternd aus, wie das Deutschland-Barometer Depression 2021, eine repräsentative Studie mit mehr als 5.000 Befragten, zeigt: Die Mehrheit der Befragten nahm Angebote der Unternehmen nicht wahr – so stellt sich die Frage, wie diese Diskrepanz zwischen den eigentlich vorhandenen Anlaufstellen und der tatsächlichen Inanspruchnahme entsteht. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Unter den von Depressionen betroffenen Beschäftigten gaben nur 22 Prozent an, dass ihr Unternehmen eine Anlaufstelle bietet, an die sie sich wenden können. Die meisten Betroffenen verneinten dies, sei es, weil solche Einrichtungen fehlen oder als ungeeignet betrachtet werden. Selbst wenn vorhanden, wurden geeignete interne Hilfsangebote nur von knapp einem Drittel der Betroffenen genutzt.

Ängste und Vorurteile führen zu Zurückhaltung

Während das fehlende Wissen über betriebliche Anlaufstellen durch Bekanntmachung relativ einfach adressiert werden kann, sind die Ursachen für die geringe Inanspruchnahme trotz der Bekanntheit von Beratungsangeboten komplexer. Laut dem Barometer Depression zögerten viele Betroffene, sich zu öffnen, was für 59 Prozent das größte Hindernis darstellte. Weitere Gründe sind die Sorge um die Reaktion des Unternehmens auf die Depression (57 Prozent), Zweifel an der Wirksamkeit der Hilfe in betrieblichen Anlaufstellen (56 Prozent) und Diskretionsbedenken (40 Prozent). Zudem befürchteten mehr als ein Drittel berufliche Nachteile bei Bekanntwerden ihrer Depression. Organisatorische Hürden wie mangelnde Kenntnis über Ansprechpartner (35 Prozent) verschärfen die Situation.

Wo Menschen Hilfe ­finden können

  • Erster Ansprechpartner bei Verdacht auf eine Depression oder bei Suizidgedanken ist der Hausarzt, ein Psychiater oder ein psychologischer Psychotherapeut
  • Deutschlandweites Info-Telefon Depression 0800 33 44 5 33 (kostenfrei)
  • Wissen, Selbsttest und Adressen rund um das Thema Depression: www.deutsche-depressionshilfe.de
  • Hilfe und Beratung bei den sozialpsychiatrischen Diensten der Gesundheitsämter
  • Fachlich moderiertes Onlineforum zum Erfahrungsaustausch: www.diskussionsforum-depression.de
  • Hilfe für Angehörige: www.bapk.de und www.familiencoach-depression.de

Positive Erfahrungen mit ­Hilfsangeboten

Die Studienergebnisse zeigen, dass sich der erste Schritt trotz Bedenken lohnen kann. 78 Prozent der Befragten erlebten Erleichterung durch Unterstützung und 80 Prozent schätzten die Kompetenz der Ansprechpartner. Trotz anfänglicher Bedenken machten 75 Prozent positive Erfahrungen, während nur sieben Prozent von negativen Erfahrungen berichteten. Die Praxis zeigte auch in Sachen Nachhaltigkeit, dass sich der Weg über das betriebliche Hilfesystem lohnen kann: 71 Prozent der Befragten erhielten konkrete Unterstützung.

Allerdings bestätigten sich auch einige Bedenken: 34 Prozent fanden nicht die gesuchte Hilfe, 28 Prozent hatten Angst vor beruflichen Nachteilen, 23 Prozent erlebten mangelnde Vertraulichkeit und 46 Prozent hatten Schwierigkeiten bei der Anpassung ihrer beruflichen Aufgaben. Vor dem Hintergrund der Sensibilität des Themas sind diese Ergebnisse demnach nicht ausreichend zufriedenstellend.

Mehr Wissen und ­Handlungskompetenz

Die Ergebnisse des Barometers zeigen sowohl Aspekte auf, die mit Blick auf die betriebliche Gesundheitsversorgung bereits gut laufen, unterstreichen aber auch die großen Lücken in der betrieblichen Gesundheitsversorgung, wie mangelnde Vertraulichkeit.
Betriebliche Anlaufstellen zu nutzen, ist ein freiwilliges Angebot, weshalb die Nichtwahrnehmung eines Unterstützungsangebotes im Unternehmen respektiert werden sollte. Jedoch gibt es Ansatzpunkte, die in Unternehmen durchaus gezielt adressiert werden können, um Mitarbeiter mit psychischen Erkrankungen zu unterstützen. Besonders Vorurteile und Ängste führen zu einer Nichtinanspruchnahme von Angeboten, daher sind eine entstigmatisierte Unternehmenskultur und ein sensibler Umgang mit psychischen Erkrankungen wie der Depression unabdingbar. Hierzu benötigen Mitarbeiter, insbesondere jene mit Personalverantwortung, Wissen und Handlungskompetenz zum Umgang mit psychisch erkrankten Mitarbeitern.

Verbesserungsbedarf besteht auch bei den betrieblichen Anlaufstellen selbst, insbesondere hinsichtlich ihrer Vertrauenswürdigkeit. Einige Unternehmen haben bereits erfolgreich niedrigschwellige Beratungsangebote und Schulungen umgesetzt, um eine umfassende Unterstützung für psychisch erkrankte Mitarbeiter zu gewährleisten.

Durch die Bereitstellung solcher Anlaufstellen, Schulungen und die Förderung einer unterstützenden Unternehmenskultur können Unternehmen aktiv zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen beitragen und Betroffene ermutigen, den Weg zu professioneller Hilfe zu finden.

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Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Tech. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Leona Jacobsen

Leona Jacobsen ist Neurowissenschaftlerin und Projektkoordinatorin im Bereich Depression und Arbeit bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention.

Andreas Czaplicki

Andreas Czaplicki ist promovierter Sozialwissenschaftlicher und Projektkoordinator am Forschungszentrum der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention.

Ulrich Hegerl

Ulrich Hegerl ist Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention. Darüber hinaus leitet er das Deutsche Bündnis gegen Depression und die European Alliance Against Depression. Er war bis März 2019 Klinikdirektor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Leipzig. Seit Juni 2019 hat er die Johann Christian Senckenberg Distinguished Professorship an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Goethe-Universität Frankfurt inne.

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